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Den die Zeit sandte
(Überarbeitete Veröffentlichung I)
Foyer putzen. Nicht etwa mit Besen und Lappen, nein. Mit einer Zahnbürste. Was hatte sie getan, fragte sie sich, während sie sich abmühte mit schmerzendem Rücken und wunden Knien. Was hatte sie nur getan? Ihr Verstand aber wusste die Antwort. Der hatte sich schon längst mit der Situation, mit ihrem Herrn und dessen peitschenscharfen Ohrfeigen abgefunden. Er hatte sich gefügt, im Gegensatz zu ihrer aufständischen, verzweifelten Seele.
Sie ließ, als sie ihrem Herrn das Frühstück brachte, die Zuckerdose fallen. Und das zu einer Zeit, in der Rohrzucker so schwer zu bekommen war. Der Herr glühte vor Wut, so dass sie das Schlimmste befürchtete. Dann hatte sie sich doch gewundert. Merkwürdigerweise drohte er nur, sie auf den Markt zu schleppen. "Dort wirst du gewiss nicht noch mal an einen Gütigeren geraten, als du verdienst!", hatte er gehässig und hochmütig gebellt und ihr ins Gesicht gespuckt, worauf sie zu weinen anfing. "Kein Grund zu flennen! Schwarze Tränen bekommt man so schwer aus dem Teppich." Es war eine Perserbrücke.
N'Bujn dachte an ihren Bruder. Sie vermisste ihn fürchterlich. Sie mochten einander wie Pech und Schwefel, bis die Holländer kamen und sie auseinander rissen. Wo er jetzt wohl war? Auf den Feldern?
Ihre Schmerzen im Rücken wurden stärker, nagten an ihr wie hungrige Ratten, die einen überfallen, wenn man unachtsam allein durch die Felder streift. Sie legte die Zahnbürste aus der Hand und richtete sich stöhnend auf, um ihr Kreuz etwas zu entspannen.
Als ihr Blick die alte Uhr traf, durchfuhr sie der Schrecken: Nur noch zwei Stunden, bis der Herr prüfen kommen wollte, und sie hatte noch nicht einmal den Eingangsbereich geschafft. Panik kroch in ihr hoch. Schnell bückte sie sich und wandte sich mit gepeitschter Emsigkeit der Arbeit zu.
Sie musste sich beeilen, wenngleich sie innerlich wusste, dass es nichts nutzen würde. So sah sie nur noch die Zahnbürste, fühlte ihren schmerzenden Arm, der des schnellen hektischen Hin und Hers allmählich müd und steif wurde. Sie schrubbte denn einen Zentimeter nach dem anderen, wand sich im Trance des ewigen Einerleis, und tauchte die Bürste hin und wieder ins trübe Wasser. In ihrem Arbeitseifer hätte wohl ein Blick zu der Tür zuviel Zeit gekostet; dass sich die barocke Pforte nur ein Stück weit öffnete und einen sanften Lufthauch herein ließ, sah sie nicht.
"Hallo!", rief eine barsche, entschlossene Stimme. Das Hallo kam so unerwartet, dass N'Bujn aufkreischte und einen Satz nach vorn machte, wobei sie beinahe den Eimer umgestoßen hätte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie darauf den Mann an, der, wie sie erst glauben wollte, ihr Bruder sei. Nein! Zwar hatte auch dieser Mann eine Haut so dunkel wie Ebenholz, doch trug er einen schneeweißen kurzen Vollbart, den die dunkle Haut durchschimmerte und ihm so die volle Geltung stahl. Gekleidet war er in einem grünen Gewand, ähnlich den Gottessöhnen, die man auf Gemälden sah. Hinter seinem rechten Ohr stak etwas Längliches, eine Feder, wie sie vermutete. Ehe sie sich traute einzuatmen, hatte der Mann schon ein Papier ausgerollt und die Feder zur Hand genommen - einen Uhrenzeiger.
"Name?", fragte der Mann kurz und militärisch. N'Bujn verstand nicht. Sie bekam beim besten Willen ihren Blick nicht von dem Mann losgerissen und brachte keinen Gedanken zu Stande.
"Den Namen bitte!"
"N'Bujn.", brachte sie unsicher hervor.
"Nachname?" - Der Mann sah sie nicht an, sondern schrieb mit weltmännischer Miene fortwährend auf dem Papierbogen.
"Stiev...- Stievgaard!"
"Warum hast du mich gerufen?", fragte der Mann schroff.
"Ich, ich... Aber ich...-"
"Oh, sage es nur: Du brauchst Zeit, ja du brauchst Zeit!"
"Ja, ich glaube -"
"Na, sage ich doch. Zu was braucht man Horí sonst? Zeit sollst du haben, ja, viel Zeit..."
Auf ganz anderen Schauplätzen der großen weiten Welt war alles ganz still geworden. Sie glichen den Bildern, die man zu malen pflegte, aber mit Tiefe und ohne Rahmen. Alles stand still: Der Geier in der Luft genauso wie die Wellen auf den Weltmeeren, die Soldaten an den Kriegsfronten oder den Sklaven auf den Feldern von Südafrika; als wären sie allesamt eingefroren in dem Eiswürfel, der in Gottes Whiskey schwamm. Der dunkle junge Kerl, auf einem rötlichen Holzpodest stehend, mit der Schlaufe um den Hals - Das ist N'Bujns Bruder, der sein Baumwollpensum nicht erfüllen konnte. Die Tochter des Herrn, die sich auf dem Internat im Allgemeinen unerzogen verhielt, hatte ihr Gesicht zu einem angstvoll verzerrten Knäuel verzogen, während die Meisterin zu einer gewaltigen Backpfeife ausholte. Sein Onkel, der unlängst nach Nordamerika ausgewandert war, befand sich jedoch in einer viel kniffligeren Lage: Aufrührerische Indianer hatten ihn an den Brustwarzen und mit Widerhaken in den Sohlen über einen Haufen Holzscheite gehängt und waren dabei, diesen mit Fackeln in Brand zu setzen. Später hätten sie alle in ihrer Haltung genauso gut im Wachsfigurenkabinett zu London stehen können. Alles stand still, für die schrubbende N'Bujn. Und sie schrubbte weiter mit ihrer Zahnbürste, während Horí auf der Altkleiderkiste an der Südwand schlief. Nun war sie erholt, auf ihrem Gesicht lag erleichterte, ja triumphierende Seligkeit. Bedächtig und sanft, als wär jeder Zoll ein junger Welp' zu streicheln, bearbeitete sie das Parkett des Schlossfoyers. Schließlich ließ sie ihre Zahnbürste gänzlich aus der Hand fallen. Sie betrachtete den Mann auf der Kiste, dessen Bauch sich mit jedem Atemzug hob und wieder senkte. Wenn er schlief, wieso sollte sie sich dann abmühen, da die Zeit ja stehen blieb? Sie versenkte die Zahnbürste in das Schmutzwasser, stand auf und schlich sich davon. Sie verzog sich in ihre Zuflucht unter der großen Hallentreppe, welche sie dann und wann aufsuchte, um sich auszuheulen.
N'Bujn erwachte mit dem Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ein Blitz des Schreckens durchzuckte ihren Körper, als sie auf die Uhr blickte. Nur zwei Minuten noch! Zwei Minuten für nahezu zwei ausstehende Drittel der Eingangshalle. Unmöglich; die Zeit war doch weiter gelaufen, während sie schlief - Horí hatte gelogen. Obwohl sie ihm am liebsten mit der Bratpfanne zu Leibe gerückt wäre, fuhr sie fort mit ihrer Schrubberei. Ihre Hände flogen durchs Foyer, als müsse sie jeden Atemzug mit tausend Zoll reinem Parkett begleichen. Unmäßige Schwere drückte auf ihren Verstand und so brannte die Sehnsucht nach dem Licht am Ende des Tunnels. Sie wusste nicht mehr, was sie tat und hoffte blind, sie hätte sich geirrt. Doch nichts lag ihr ferner als sich mit einem zweiten Blick auf die Zeit zu vergewissern. Denn die Strafe wäre vielleicht zu hoch.
Betrachtete man die Welt von oben, so konnte man ein befremdliches Phänomen beobachten. Alles lief rückwärts. Es schien, als hätte sich der Lauf der Schicksale im Weg geirrt und wollte den Richtigen wiederfinden: Die Indianer hingen den weißen Mann ab, löschten ihre Flammen. Pferde galoppierten rückwärts und die rothäutigen Kerle erstanden wieder auf. Ein Pfeil, hinten schwarz befedert, traf den weißen Mann nun mitten ins Herz. Währenddessen war das unerzogene Mädchen längst über alle Berge - die Flucht war ihr gelungen. Auch N'Bujns Bruder bekam genügend Handvoll Baumwolle von seinen stummen Kollegen zugesteckt, damit er nicht wegen seiner Behinderung das Leben verlöre.
Fertig. Endlich fertig, zu Ende diese teuflische, demütigende Arbeit. Sollte sie das alles in zwei Minuten geschafft haben? Nein, freilich nicht. Sie sah es an der Uhr, dass ihr nun noch zwanzig Minuten zur Verfügung standen.
Die Zeit war für die schrubbende N'Bujn noch einmal zurück gegangen, da diese so hart arbeitete, um ihr Versäumnis wieder gut zu machen. Nun bereute sie, dass sie Horís Angebot so ausgenutzt hatte. Wäre sie ihrer Arbeit trotz aller Versuchung treu geblieben, so hätte sie so langsam weiter putzen können wie sie wollte.
Doch nicht die ganze verlorene Zeit kam ihr zu Gute, ein Teil hatte Horí mitgenommen. Als dieser ging, spielte ein eigenartiges Grinsen um seine Lippen...