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Der Übergang

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24.09.2001
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Der Übergang

Sie war jung, bildschön und lebenslustig.
Das ist über 70 Jahre her.
Jetzt ist sie von der Schwäche des Alters gezeichnet. Ihr Körper ist ausgemergelt, die Haut trocken. Am Hinterkopf hat sich vom langen Liegen eine kahle Stelle gebildet. Die Augen liegen tief in den Höhlen. Die Zähne passen schon lange nicht mehr. Der Unterkiefer steht dafür weit hervor und die Unterlippe hängt halb im Mund. Knochen, Sehnen und Blutgefäße sind überdeutlich zu erkennen. Kalter Schweiß liegt auf der Stirn. Das Heben und Senken des Brustkorbes ist kaum erkennbar. Aller halben Stunden bekommt sie mit einem Lemon-Glycerin-Stäbchen Tee auf die Zunge geträufelt. Das Bewußtsein liegt im Dämmerzustand. Schmerzen kommen intervallweise.
"Oma?" Ihre Enkelin sitzt neben ihrem Bett und hält ihre kraftlose Hand. "Ich bin es, deine Enkelin Nadja!"
Die alte Frau vernimmt die Worte leicht verzerrt und wie tausendfach entfernt. Die Augen sind mit einem dichten, graugelben Schleier bedeckt, daß der Gast nur schemenhaft zu erkennen ist. Was sie fühlt ist die Zuwendung und die Berührung. Gleich einem warmen Strom dringen sie in den Körper der Sterbenden ein und vermitteln eine positive Gesinnung. Doch nur kurzzeitig hält das Phänomen an, dann ist Kälte, Einsamkeit und innere Leere wieder da.
"Ich habe dir Blumen mitgebracht! Es sind rote Rosen. Die magst du doch so gerne. Von deiner Tochter und ihrem Mann soll ich die besten Grüße übermitteln. Sie können leider nicht komen. ..."
Die bettlägerige Frau verliert die Besinnung.
Als sie wieder zu sich kommt, greifen derbe Hände nach ihr und wälzen sie von einer Seite zur anderen.
Klägliche Laute dringen aus ihrem Mund.
"Ist gut, Frau Bodin! Sie haben's gleich geschafft! Nur noch das Nachthemd anziehen. Nachher kommt der Doktor und wird ihnen eine Spritze gegen die Schmerzen geben."
Halb erstickende Schreie füllen den Raum. Dann fällt sie abermals in die Bewußtlosigkeit.

Stunden später.
Die Abenddämmerung scheint zum Fenster herein. Die Stille im Zimmer ist erdrückend. Von außen wirken keine Einflüsse auf die Bewohnerin ein. Ihr Körper fühlt sich schwer an.
Ungewollt tauchen Erinnerungen vor ihrem geistigen Auge auf. Sie erscheinen so klar und real, als befände sie sich zurückversetzt in diese Zeiten. Mit dem letzten Bild, welches ihren Mann in der Uniform der Wehrmacht zeigt, kehrt die alte Frau in die gewohnte Umgebung zurück.
Die Erscheinung bleibt bestehen.
"Ilse, meine liebe Ilse!" ruft sie ihr zu.
Ein Stöhnen ist die Antwort.
"Ich warte auf dich!" Die Vision verblasst.
Für einen kurzen Moment ist der Sterbenden ihre Situation bewußt. Krächzend, fast nicht verständlich, sagt sie den Namen ihres Mannes. "Franz!"
Die Angst überwältigt sie. Ihr Körper fühlt sich zunehmends kälter an. Sekunden später registriert sie ihn nicht mehr. Nur der Geist ist aktiv, wie zu einem neuen Leben erweckt.
Die vitalen Funktionen fallen aus - Puls und Atmung versagen.
Ilse Bodin zerreißt es innerlich in einem Bruchteil einer Sekunde.
...
Erlösung!

 

Eine traurige Geschichte. Iich habe eine ähnliche Situation selbst erlebt, als meine Oma im Sterben lag. Du hast es gut dargestellt, sehr realistisch. Mh, macht mich nun nachdenklich, obwohl es schon zwölf Jahre her ist.

 

Fast schon zu realistisch. Obwohl der Tod am Ende als Erlösung beschrieben wird, hat mich die Atmosphäre vorher ganz schön erdrückt. Gut erzählt!

San

 

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