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Der 13. Juli
Die Nacht war kurz. Die Nachbarskatze hatte die ganzen Abendstunden über geschrieen. Was für ein Land, das es verbietet, Tiere zu erschießen.
Völlig schlaftrunken steht Casper auf. Der Kopf schmerzt und die Kehle ist trocken. „Wasser!“, hechelt die kreidebleiche Gestalt.
Langsam torkelt er vom Bett in die Küche.
„Wie nach einem Bombeneinschlag sieht´s hier aus.“
Zügig wird der Wasserhahn aufgedreht. Das kühle Nass rauscht ins Glas. Mit zwei großen Schlucken ist es leer. Erst mal auf´s Sofa und Glotze an.
... Wenn ich jetzt meinen rechten Arm ein wenig bewege, könnte ich vielleicht die Fernbedienung greifen und „Geh’ auf´s Ganze“ ausschalten. Aber was mache ich dann? Aufstehen? Nein, lieber noch ein bisschen liegen bleiben. Welche Farbe haben meine Vorhänge eigentlich? Pink oder rosa? Egal, beides schwul. Die müssen weg, aber nicht heute! Heute mache ich gar nichts. Ich bleibe hier liegen bis morgen früh, bis ich zur Arbeit muss...
Plötzlich klingelt es an der Tür. „Wer ist das denn?! Auf´m Sonntag und um die Zeit!“
Schweren Fußes schleppt sich Casper zur Tür. Mit vollem Elan reißt er sie auf. „Waas!?“
„Hi Casper! Na, wie geht´s dir heute morgen? Hast die letzte Nacht gut überstanden? Warst ja gut dabei im Complex.“
...Wer zum Teufel ist diese Trulla mit der grellen Stimme und dem pinken Kostüm? Und was will die von mir? Warte mal, hab ich eigentlich ´ne Hose an? Ich glaube nicht. Ich hoffe, sie merkt nichts. Vielleicht, wenn ich mich ganz nah an die Tür drücke und sie reinbitte...
„Komm doch erst mal rein. Willst einen Kaffee?“
„Oh danke, gerne.“
Fröhlich spaziert die Fremde durch die Eingangstür, zielsicher in die Küche. „Hat sich ja nichts verändert seit letzter Nacht.“
... Wie „seit letzter Nacht“. Die war doch nicht schon einmal hier, oder? Mir schwarmt Übles. Ich muss sie irgendwie ausfragen, was passiert ist, ohne, dass sie merkt, dass ich mich an nichts erinnern kann...
Casper geht langsam in die Küche. Die grelle Stimme fragt, „Wie ist eigentlich Sven gestern nach Hause gekommen? Als ich hier weg bin, wart ihr ja noch gut am trinken. Der ist doch nicht etwa noch gefahren, oder?“
„Boah, der war einfach weg. Hat sich wahrscheinlich ein Taxi genommen.“
Im Gästezimmer ist ein dumpfer Schlag zu hören. Beide drehen sich zur Tür, erwartend, wer oder was jeden Moment aus der Tür treten könnte.
„Wer schreit denn hier so rum?“
„Sven, doch noch hier. Willste auch ´nen Kaffee?“, gluckst die Unbekannte erfreut.
„Boah, ja. Wäre echt super. Der Rum von gestern hat ganz schön geknallt . Warst aber schon früh weg, Anna.“
... „Anna“ heißt die also...
„Ich wollte für den heutigen Nachmittag topfit sein. So ein Freizeitpark ist nicht ohne!“, erwiedert Anna.
„Freizeitpark?“, ruft Casper erstaunt heraus. Die anderen beiden schauen ihn verduzt an. „So, wie wir´s gestern geplant hatten. Kannst du dich nicht mehr erinnern?“, fragt Sven.
„Aaach, genau! War kurz am träumen, sorry!“
... Ey, die wollen mich doch jetzt nicht etwa in so einen blöden Freizeitpark schleppen. Am besten noch ins Phantasialand, wo irgendwelche illegalen Einwanderer unter tuffigen Kostümen kleine Kinder begrapschen. Mit meinem Kater hau ich denen in ihr blödes Plüschmaul, wenn die mich animieren wollen. Ich kann eine Hose an meinem Hintern fühlen. Das Problem wäre also schon mal gelöst. Aber Freizeitpark...
„Phantasialand wäre geil“, zwitschert Anna frohlockend, als sie den Kaffe aus der Küche holt, „dort gibt´s so niedliche Figuren, die mit Kindern spielen. Voll süß!!“
„Klingt super“, antwortet Sven begeistert.
... Na super: Phantasialand. Ich pack’ die Schlagringe gleich ein…
„Klasse“, lügt Casper.
Die drei trinken ihren Kaffee.
Nach einer Zeit durchbricht Sven die Stille, „Dann müssen wir jetzt ja bald los, sonst ist der Tag gelaufen und wir sitzen immer noch hier.“
... Wäre das sooo schlimm??...
Casper und Sven ziehen sich schnell die Sachen von letzter Nacht an. „Geil Sven, riech mal, meine Sachen riechen gar nicht nach Rauch.“
„Ist doch klar, Complex ist doch auch ein Nichtraucherclub.“
„Echt, ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Das wundert mich nicht.“, grinst ihn Sven an.
Im Phantasialand fällt Caspers erster Blick auf einen großen Plüschhund, der groß gestikulierend auf ihn und Anna zuläuft. Anna ist ganz aus dem Häuschen, „Guck’ dir den Süßen mal an. Den will ich knuddeln!“ Als Anna auf den Plüschdackel zuläuft und dabei „Komm her Hundi!!“ schreit, kriegt dieser es mit der Angst zu tun und läuft weg.
„Bleib hier, Hundi! Ich will mit dir knuddeln.“ Anna läuft weiter hinter ihm her und verschwindet hinter einem Kinderkarussell.
„Ein bisschen bekloppt ist die auch, oder?“, meint Sven zu Casper.
„Ein bisschen.“, antwortet Casper.
Die beiden schlendern über das Gelände auf der Suche nach etwas zu essen. Sie halten an einem Pizzastand, kaufen ein bisschen was zum frühstücken und setzen sich an einen nahegelegenen Tisch.
„Wie findest du Anna?“, fragt Sven.
„Ein bisschen überdreht und nervig. Warum fragst du?“
„Ach, nur so.“
„Da läuft doch nicht etwa was, oder doch?“
„Wer weiß.“, grinst Sven Casper an.
Gerade als Casper über Sven herziehen und das lautstarke Lachen beginnen will, hört er eine sanfte Stimme von seiner rechten Seite: „Kann ich mich zu euch setzen?“
Als sich Casper zur Seite dreht, fehlen ihm die Worte.
„Natürlich, setz dich!“, antwortet Sven schnell.
„Danke, ich bin übrigens Susanne.“
„Ich bin Sven und das ist mein Kumpel.“
„Hi“, das ist alles, was Casper herausbekommt.
... Menschenskind, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie eine so schöne Frau gesehen und jetzt kriege ich nur ein dummes „Hi“ raus. Super gemacht. Jetzt kann ich nur noch hoffen...
„Hasst ihr diese Plüschfiguren auch so?“, beginnt Susanne das Gespräch, „Das sind doch bestimmt irgendwelche Alkoholiker, die die ganze Zeit unter ihren Kostümen ihren Wodka saufen.“
„Nach meiner Theorie“, widerspricht Casper, „sind´s illegale Einwanderer, die kleine Kinder begrapschen.“
Alle drei lachen herzhaft. „Ach Casper, du bist herrlich.“, lacht Susanne.
Casper erschrickt.
... Ich habe ihr meinen Namen nicht gesagt. Woher weiß sie den? Was ist hier los? Warum guckt Sven auf einmal so komisch?...
„Woher weißt du, wie ich heiße?“, stellt Casper sie zur Rede. Susanne schaut bedrückt zu Sven, der den Kopf gesenkt hat. In dem Moment kommt Anna dazu: „Hey Jungs, da bin ich wieder. Hab den Plüschhund gekriegt. Wer ist denn eure neue Freundin, wollt ihr uns nicht vorstellen?“
„Hör auf, Anna. Susanne hat sich verplappert. Für heute ist es vorbei.“, sagt Sven.
„Was ist vorbei? Was ist hier los? Was soll die ganze Scheiße?“, brüllt Casper.
„Es führt kein Weg dran vorbei, wir sollten es ihm erzählen.“, schlägt Sven vor, „Casper, heute ist nicht Sonntag der 13. Juli 2003. Es ist Mittwoch der 18. Mai 2005!“
Casper wird kreidebleich. Der Wind zieht eiskalt über seinen Rücken und die Masse um sie herum scheint zu verstummen.
...-...
Sven setzt sein Rede fort: „Am 12. Juli 2003 hattest du einen schweren Unfall. Auf dem Weg vom Complex nach Hause haben wir rumgealbert und ich habe dich aus Versehen vor eine S-Bahn gestoßen. Du lagst drei Monate im Krankenhaus. Durch den Unfall wurde dein Kurzzeitgedächtnis unheilbar beschädigt. Du kannst nur noch die Informationen eines Tages aufnehmen. Sobald du aus deinem Schlaf aufwachst, denkst du es wäre Sonntag und du wärst in der Nacht zuvor feiern gewesen, weil dein Kopf durch den Fehler im Gehirn brummt, wie bei einem Kater.
Susanne und Anna waren Krankenschwester in deinem Krankenhaus. Dort haben wir sie kennengelernt. Du mochtest sie immer sehr, wenn du sie jeden Tag „neu kennengelernt“ hast. Seit du entlassen wurdest, kommt jeden Tag einer von uns vorbei und unternimmt etwas mit dir. Jeden Tag spielen wir dir vor, dass es Sonntag der 13. Juli 2003 wäre und wir beide den Abend davor im Complex waren. Tut mir leid.“
Casper schaut sich um. Die Menschen und Häuser um ihn herum fangen an sich zu drehen. Er steht von seinem Platz auf. „Was hast du vor?“, fragt Anna besorgt. Casper antwortet nicht. Er torkelt ein paar Schritte und bleibt neben einem Mann stehen, der gerade in seiner Zeitung blättert. Wie benommen, entreißt ihm Casper die Zeitung. Sein Blick fällt auf die rechte obere Ecke der Zeitung: Mittwoch, der 18 Mai 2005!!!
Caspers Beine werden schwach. Noch gerade wird er von Sven, der von seinem Platz aufgestanden ist, gehalten und wieder auf seinen Platz gesetzt.
„Es tut mir Leid.“, sagt Sven bedrückt.
„Du Arschloch!“, wimmert Casper, „das werde ich dir nie vergessen!“
„Das wäre zu schön.“, antwortet Sven.