Der 25. Stock
Laila und ich waren auf dem Weg in ihr Büro. Sie hatte ein paar wichtige Papiere vergessen und die brauchte sie nun unbedingt. Eigentlich waren wir zum Essen verabredet, aber ihre Arbeit ging vor.
Ich verstand das. Ich konnte ziemlich verständnisvoll sein, vor allem bei einer so schönen Frau wie Laila. Heute würde ich endlich die Schwelle übertreten, die Schwelle ihrer Schlafzimmertür und hoffentlich auch eine andere.
Immerhin hatten wir jetzt schon unser drittes Date und wenn’s beim dritten Date nicht klappt, lass es lieber ganz. Doch bei Laila hatte ich ein gutes Gefühl. Wir waren auf einer Wellenlänge.
„Es ist wirklich toll von dir, dass du soviel Verständnis zeigst. Die meisten Leute wären wohl nicht so.“
„Ich bin eben nicht wie die meisten Leute.“ Ich lächelte sie an.
„Das ist mir aufgefallen.“ Sie lächelte kokett zurück. Sie war wirklich klasse. Klug, witzig, attraktiv und erfolgreich. Vielleicht lagen doch mehr als drei Dates drin…
„Du bist eben ein helles Köpfchen.“
„Mehr als das.“
Typisches Geplänkel. Das war bei jedem Date so. Jedenfalls bei jedem meiner Dates, egal mit wem ich ausging. Man redete zwar viel, aber gesagt wurde eigentlich nichts. Wahrscheinlich weil man bei einem Gespräch über Politik oder den Sinn des Lebens nicht geil wird. George Bush hat mich noch nie sonderlich scharf gemacht.
Deshalb finde ich es so ganz in Ordnung.
Wir stiegen aus dem Wagen aus und standen vor einem Wolkenkratzer, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Ist ein neues Gebäude. Von diesem berühmten Architekten Svensson oder so. Ich steh auf das viele Glas. Dadurch sieht es viel grösser aus.“ Erklärte mir Laila.
Ich schluckte. Laila nahm meine Hand und wir gingen hinein. Mein Blick fiel sofort auf den Fahrstuhl. Es war so ein modernes Superding. Viel Chrom und Stahl und leuchtende Knöpfe, um von einer Todesfalle abzulenken.
Laila lief zielstrebig auf den Fahrstuhl zu und ich spürte, wie ich zu schwitzen begann. Zuerst nur ganz leicht. Doch je näher wir dem Fahrstuhl kamen, desto schlimmer wurde es.
„Es ist nur ein Fahrstuhl. Ein Transportmittel, um Leute schneller und bequemer in höhere Stockwerke zu bringen.“ Sagte ich mir innerlich vor. Mein Mantra.
Meine Füsse fühlten sich plötzlich schwer an. Jeder Schritt war eine schier unmögliche Anstrengung.
„Vielleicht kann ich hier auf sie warten. Dann wird alles gut.“ Hatte ich plötzlich die rettende Idee.
„Du musst dir die Aussicht aus meinem Büro ansehen. Die ist einfach traumhaft. Ausserdem...“ Sie grinste anzüglich. Mit ein paar Worten hatte Laila mir die einzige Fluchtmöglichkeit genommen, bei der ich mein Gesicht hätte wahren können. Jetzt konnte ich unmöglich nein sagen. Vor allem weil sie mir mit einen Wort und ihrem Grinsen noch mehr versprochen hatte. Ich eiste meinen Blick los vom Fahrstuhl und betrachtete stattdessen Lailas Kurven. Sie trug einen ziemlich kurzen Minirock. Ich spürte wie mir die Entscheidung endgültig abgenommen wurde. Laila hatte den Fahrstuhl schon gerufen. Ich sah wie sich meine Nemesis näherte, Stock für Stock kam zu mir, jetzt da sie mich sowieso kriegen würde. Ich starrte auf die Zahlen und versuchte die Bilder in meinem Kopf zu verbannen. Zehnter Stock. Wie weit es von da aus nach unten ging? 100 Meter, 200 Meter in die Tiefe im freien Fall? Wie sich diese Wucht wohl auf den Körper auswirkte?
„Alles in Ordnung bei dir?“ Ich drehte mich zu Laila, die mich prüfend musterte. Ich versuchte zu grinsen. War es heisser geworden?
Mit einem lauten „pling“ öffneten sich die Türen, die nebenbei bemerkt sehr dick und stabil aussahen. Die Kabine war klein, sehr klein.
Der Fahrstuhl hatte sein riesiges Maul aufgesperrt wie eine Venusfalle, lockte mit funkelnden Farben in den Tod. Und er wartete nur auf naive Beutetiere wie uns, die dumm genug waren sich hineinzubegeben.
Laila stand schon drin und sah mich erwartungsvoll an. Ich musste da durch. Am Ende wartete eine Belohnung. Eine Fahrt von ein paar Sekunden. Das war alles.
Er würde stehen bleiben und die Luft würde uns ausgehen und wir würden qualvoll ersticken!
Ich schüttelte den Kopf. Wie gross war diese Wahrscheinlichkeit?
Ich holte tief Luft und kam hinein. Ich stand drin und war wieder sechs Jahre alt. Als hätten Fahrstühle ein eigenes Raumzeit- Kontinuum, wo Zeit niemals vergeht. Mein Puls beschleunigte sich automatisch, während ich das Höchstgewicht kontrollierte. Ich selbst wog an die 75 Kilo und wenn Laila nicht 925 wog, bestand wohl keine Gefahr.
Der Alarmknopf war auch schön sichtbar. Ich atmete langsam aus. Meine Krawatte schnürte mir die Luft ab.
Laila drückte den Knopf, den mit der Nummer 25. 25 Stockwerke. Wieso hatte sie ihr Büro nicht im ersten Stock?
Die Türen begannen sich mit einer grausamen Langsamkeit zu schliessen. Das Geräusch kam mir zu laut und unnatürlich vor. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit Mühe unterdrückte ich den Impuls, mich doch noch raus zu zwängen. Was hätte das für einen Eindruck gemacht?
Ich war schliesslich kein kleines Kind mehr.
Ich merkte, dass ich immer mehr schwitzte. Es war so eng und stickig.
„Ist wirklich alles okay bei dir?“ Laila sah nun wirklich besorgt aus. Verständlich, ich sah wahrscheinlich aus, als wäre ich krank. Fahrstühle hatten diesen Effekt auf mich. Ich war passionierter Treppensteiger.
„Jaja.“ Krächzte ich. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Da setzte er sich in Bewegung. In meinem Kopf lief erneut ein grausamer Film ab. Ich hätte niemals einsteigen sollen.
„Die bleiben nur manchmal stehen.“ Laila lächelte amüsiert und zwinkerte mir zu. Ich versuchte zurückzulächeln. Schweiss lief mir ins rechte Auge und ich kniff es zu. Ich benahm mich wie ein Idiot. Ich musste mich zusammenreissen.
Mein Gesicht spiegelte sich in den Wänden. Ich sah wirklich nicht gut aus. Dreizehnter Stock.
Wieso war dieses Scheissding so langsam? Sollten die modernen nicht viel schneller sein?
Ich steckte die Hände in die Taschen und ballte sie zu Fäusten. Es war ziemlich wenig Raum. Laila presste sich schon an mich, was ich normalerweise höchst erfreulich gefunden hätte. Es gab ja nicht einmal genug Platz für zwei Leute, also wie konnte dieser Fahrstuhl bitte 1000 Kilo tragen? Meines Wissens gab es keine so fetten Leute.
Achtzehnter Stock.
Der Schweiss floss schon in kleinen Sturzbächen von meiner Stirn, da fing das Licht im Fahrstuhl an zu flackern. Nicht beruhigend, ganz und gar nicht.
„Das kommt manchmal vor. Ist normal.“ Sagte Laila beiläufig. Ich hätte ihr am liebsten den Hals umgedreht. Nichts war normal an dieser Situation. Wir schwebten in Todesgefahr!
Wir waren hilflos ausgeliefert. Der Fahrstuhlgott war ein grausamer Gott. Trotzdem betete ich inständig um Rettung, um Gnade. Anscheinend war er auch kein barmherziger Gott.
Der Fahrstuhl kam zum Halten. Ich unterdrückte einen Aufschrei.
Ich hatte es gewusst. Und ich war trotzdem eingestiegen. Was war ich für ein Idiot. Statt einem spitzen Schrei hörte ich das „Pling“ der Türen. Noch nie war ich wegen eines Geräusches so erleichtert gewesen. Gerade wollte ich aus diesem Gefängnis fliehen, als mich Laila an der Schulter packte und zurückzog.
„Das ist erst der neunzehnte Stock.“ Wieder unterdrückte ich den Impuls herauszustürzen. Stattdessen keuchte ich ein überraschtes „Oh“. Denn niemand stand vor der Tür. Aber jemand musste dieses Ding doch gerufen haben, sonst würde es nicht anhalten. Es sei denn, dass mir der Fahrstuhlgott eine letzte Chance zur Flucht gegeben hatte, die mir Laila nun versaute.
„Wahrscheinlich musste der zurück ins Büro. Das passiert hier andauernd. Kann ziemlich nervig sein.“
„Aha.“ Ich versuchte mich zu beruhigen. Dachte an Wiesen, weite Wiesen mit viel Platz und viel Luft. Die Seile quietschten und holten mich in die harte Wirklichkeit zurück. Ziemlich ungerecht.
Ich sah, dass meine Hände zitterten und steckte sie wieder in die Taschen. Wann hatte ich sie überhaupt raus genommen?
Und dann geschah es, kurz vor dem 22. Stock kam er zu stehen. Wir waren nirgendwo. Wir hingen in der Luft. Wir mussten sterben. Jetzt gab es kein Entkommen. Sogar Laila presste sich angstvoll an mich und umarmte mich. Ich wollte an den Alarmknopf, an unsere einzige Chance. Aber Laila war wie ein Felsbrocken, unbeweglich. Vielleicht war sie doch 925 Kilo schwer.
Ich stöhnte laut. Laila keuchte. Sie versuchte mein Gesicht festzuhalten, aber ich hatte keine Zeit für beruhigende Worte. Ich musste unser Leben retten. Also packte ich ihre Hände und schob sie weg von mir.
„Was tust du da?“ fragte sie mich.
„Alarmknopf.“ Sagte ich nur. Wieder versuchte ich sie weg zu schieben. Ich war in Panik. Ich konnte nicht mehr logisch denken. Es war so eng und stickig. Trotzdem war der rettende Knopf meilenweit weg. Ich würde niemals rankommen. Ich streckte meinen Arm aus, aber Laila drückte mich gegen die entgegen gesetzte Wand. Sie war ziemlich stark. Dann spürte ich ihre Lippen auf meinen.
Was ist nur los mit dieser Frau? War sie denn irre? Wir steckten fest! Zwischen zwei Stockwerken in einem Fahrstuhl, dem Gefängnis ohne Fluchtmöglichkeit und sie küsste mich? Ich begann nun unkontrolliert zu zittern. Eine Panikattacke.
Laila löste sich von mir und sah mich an. Sie sah wütend aus. War ihr endlich aufgegangen, dass wir dem Tod geweiht waren?
Sie schob ihren Rock wieder nach unten und drückte auf einen anonymen Knopf. Der Fahrstuhl bewegte sich wieder und auch mein Hirn nahm seine Arbeit wieder auf. Als die Türen sich wieder öffneten und Laila sogar noch vor mir aus dem Fahrstuhl rauschte, begriff ich endlich.
Laila hatte den Fahrstuhl angehalten. Sie hatte mein Stöhnen, Zittern und sogar den Schweiss als Zeichen der Erregung gedeutet. Und wäre ich nicht so völlig ausser mir gewesen, hätte ich gemerkt, was sie gewollt hatte. Sie hatte nur nicht mit meiner Panik vor Fahrstühlen gerechnet.
Ich versuchte meine Atmung zu normalisieren. Ich wusste nicht, ob ich noch was retten konnte. Aber ich wusste ganz genau, dass ich die Treppe nehmen würde, um hier wieder rauszukommen.