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Der Abschiedsbrief
Die alte Frau drehte den Schlüssel und öffnete die Tür. Überwältigt vom Gestank, der ihr entgegenschlug, warf sie ihre faltigen Arme in die Höhe: „Oh Gott! Ohgottogott! Ich hab’s geahnt. Der hat da drin den Löffel abgeben!“
‚Schön, dass Sie trotzdem zwei Wochen gewartet haben, bevor Sie uns Bescheid gaben,’ dachte Höhnke und fügte, während die Frau des Hausmeisters mit dem Schlüsselbund in der Hand das Treppenhaus hinunterstürmte, leise flüsternd „Blöde Wachtel“ hinzu.
„Ernst!“ fuhr Sandra ihn an. Das war ihr offenbar zu wenig Anstand und Respekt im Umgang mit dem Bürger gewesen. Schließlich war sie noch nicht lange Polizistin und hatte die wahren Lehrjahre noch vor sich, in denen sie Schichtdienst für Schichtdienst herausfinden würde, dass Sie einen Beruf gewählt hatte, in dem sie jeden Tag ihre Gesundheit und manchmal sogar ihr Leben für einen Haufen undankbarer Vollidioten riskierte.
„Ist doch wahr,“ fluchte Höhnke. „Die Leute passen nicht aufeinander auf und wir müssen dann ...,“ er lugte in die Wohnung und schob die Tür ein bisschen weiter auf, „pfui deibel, Herr Gott, wie kann man so aneinander vorbeileben? Letzte Woche habe ich mit Stefan einen aus der U-Bahn gezogen, den hatten sie abgestochen. Direkt am Gleis, am helllichten Tag! Zwei Meter weiter sitzt ein Typ, liest Zeitung und wartet auf die Bahn! Hätt’ ihn erschießen sollen.“
„Der hatte Angst. Ist doch völlig normal,“ verteidigte Sandra den ihr unbekannten Sitzenbleiber.
‚Gott, bist du jung,’ dachte Höhnke zum unzähligsten Male, seit er mit der achtundzwanzigjährigen Frau zum Streifendienst eingeteilt worden war. Er betrat den Wohnungsflur und hielt sich die Hand vor Mund und Nase. „Gewöhn dich daran, dass du dich nie an den Geruch gewöhnst,“ sagte er.
Sandra blieb auf dem Flur stehen. In ihrem unsicheren Gesichtsausdruck sah Höhnke jetzt das Mädchen, dass sie noch vor wenigen Jahren gewesen war.
„Dein erster Monte Christo?“ fragte er.
„Mein erster was?“ fragte Sandra zurück. Ihre sonst so sichere, autoritäre Polizistinnenstimme bebte leicht aber unüberhörbar.
„Monte Christo. Eingesperrt, isoliert, vergessen. Wenn wir einen in seiner Wohnung finden, den’s da schon vor Wochen aus’m Diesseits gehauen hat, nennen wir das einen Monte Christo. Haben die Jungs von der Innenstadtwache mit angefangen.“
„Aber die Leute hat doch wohl im Normalfall keiner eingesperrt-“
„Nein, Mann, ich weiß, der Vergleich hinkt, ist doch auch egal, soll ja bloß’n Witz sein.“
Ihr Mund wurde ein Strich in ihrem Gesicht und Höhnke erkannte, dass sein Ton zu scharf gewesen war. Er fühlte Schuld in seinem Hals eine Faust ballen. Immerhin hätte sie seine Tochter sein können. Und genau dieses Gefühl hatte er ihr gegenüber in den letzten Wochen entwickelt, hatte wehrlos erdulden müssen, wie etwas in ihm die kühle, oberflächliche Freundschaft eines vorgesetzten Kollegen gegen den warmen Beschützerinstinkt eines Vaters ausgewechselt hatte.
„Das hier gehört auch zum Job, aber wenn du nicht willst, und du siehst mir nicht so aus, dann brauchst du auch nicht mit reinzukommen.“
Sandras Gesicht begann in tomatenrot zu leuchten als hätten Höhnkes Worte sie angeknipst wie ein Griff zum Schalter eine Glühbirne. Offenbar war sie sich dessen bewusst. Sie nahm ihre Mütze vom Kopf, legte die Hand vor den Mund und sah auf den Boden. Es klang fast ein wenig wütend, als sie sagte:
„Quatsch, ich bin doch nicht aus Zucker. Hey ho, let’s go.”
“Was?” fragte Höhnke.
„Haben die Ramones gesungen.“
„Wer?“
„’Ne Punkband.“
„Ach du Scheiße, so wie die Typen, die wir immer aus’m Bahnhof scheuchen müssen? Solche Leute dürfen auch noch Musik machen?“
Sandra lachte. Höhnke grinste.
„Na, dann mal rein in die gute Stube, junge Frau. Du bleibst aber hinter mir, ist klar.“
Sie gingen den Flur entlang und suchten nach der Richtung, in der der Gestank schlimmer wurde.
Was von Gerd Jahnke übriggeblieben war lag im Wohnzimmer vor dem auf tonlos gestellten Fernseher und sah sich eine Dokumentation über sanitäre Anlagen im alten Rom an. Höhnke zog im Geiste eine gerade Linie durch den verwesenden Körper, bestimmte so die Kriechrichtung und landete mit seinen Augen bei einem Telefon, dass auf einer Kommode hinter dem Fernseher stand. „Sofort anrufen, wenn die Schmerzen im Arm anfangen, Opa,“ sagte Höhnke. „Nicht erst warten, bis der Brustkorb explodiert. Merks dir fürs nächste Leben.“
„Du glaubst, es war ein Herzinfarkt?“ fragte Sandra und schluckte deutlich hörbar zweimal während dieser wenigen Worte, so dass die in ihr aufsteigende Übelkeit in ihren Worten mitschwang wie eine verstimmte Violine in einem Orchester.
„Ja,“ antwortete Höhnke. „Obwohl ... jetzt wo du’s sagst ...“
Er machte einige Schritte durch das Halbdunkel und zog die Vorhänge zurück, so dass der ätzende Gestank dank der Sonntagnachmittagssonne ein visuelles Pendant bekam.
„Oh ...“ Höhnke betrachtete den saftigen Leichnam und die rotgelbe Pfütze, die sich darum gebildet hatte. Sandra stöhnte wie ein Grippekranker, der sich zum Suppe löffeln im Bett aufsetzten muss. Sie betrachtete alles außer den Toten.
„Immer noch Herzinfarkt?“ fragte sie und man hörte, dass sie sprach, um nicht kotzen zu müssen.
„Eher ’n Napalmangriff,“ sagte Höhnke.
Sandra schlurfte auf den Fernsehsessel zu, eine Hand vor dem Mund, die andere auf dem Bauch. „Vielleicht hat er was genommen,“ fiepte sie, ohne die Hand von ihrem Mund zu nehmen. „Sich umgebracht.“ Mit der Hand, die auf ihrem Bauch lag, nahm sie einen Zettel, der im Schoß des Sessels lag. „Das sieht doch ziemlich nach Abschiedsbrief aus hier ...“
„Nicht anfassen!“ rief Höhnke, schnellte mit drei hastigen Schritten zu seiner Kollegin und riss ihr das Papier aus den Händen. „Nicht ...“ Wieder ließen ihn Sandras viel zu junge Augen erweichen und die Strenge aus seiner Stimme nehmen. „Nicht ... anfassen ...“ Er hielt das Papier von sich weg wie die Arschkarte. „Ach, scheiße, jetzt hab ich’s auch angepackt.“
Etwas blühte in seiner Brust, als sie die Hand von ihrem Mund nahm und lächelte. Als sie zusammenkrampfte und begann zu husten, dachte er zunächst, seine nicht ganz unbeabsichtigt zur Schau gestellte Balu-der-Bär-Trotteligkeit hätte sie sogar zum laut Loslachen gebracht. Doch nur den Bruchteil einer Sekunde später verrieten ihm die heißen, feuchten Spritzer in seinem Gesicht, dass der Sachverhalt vollkommen anders lag. Sandra hatte ihren tapferen Kampf gegen den Brechreiz verloren.
„Aufs Klo, geh’ aufs Klo!“ rief er und Sandra nickte hektisch, obwohl er sicher war, dass eine intelligente Frau wie sie sich wahrscheinlich genauso wie er gerade fragen würde, woher genau man denn wissen sollte, wo sich in dieser Gaskammer das Klo befand. Höhnke hörte ihr Trampeln auf dem Flur. Eine Tür wurde aufgerissen, wieder zugeschlagen, Trampeln, eine zweite Tür flog auf, dass es klang, als hätte jemand sie eingetreten, dann folgte das unverwechselbare Plätschern eines Wasserfalls im Bonsaiwald, unterbrochen vom atemlosen Husten des Rückwärtsessenden.
Mit einem Taschentuch wischte Höhnke die Spritzer von Sandras Mageninhalt aus seinem Gesicht und besah sich noch einmal den Toten. Er war unter Schmerzen gestorben, soviel verriet sein Mund, der so weit aufgerissen war wie bei einer Anakonda, die einen Wasserbüffel verschlingt. Wie Adlerklauen reckten sich die Hände in die Höhe, die Arme eng angewinkelt, so als wäre der Tote ein Kind, dass ein Contaganopfer nachäfft. Das tiefgelbe, dickflüssige und mit Blut vermengte Sekret, dass aus allen Körperöffnungen im Gesicht lief, kam auch unter den Fingernägeln hervor und tropfte zäh und langsam erstarrend wie Wachs auf die entblößte Brust.
Das Hemd hatte Janke sich offenbar vom Körper gerissen. Ein Großteil der Knöpfe fehlte. Einige konnte Höhnke im Raum herumliegen sehen.
Offene Stellen, die aussahen wie Brandverletzungen, waren überall dort erkennbar, wo Haut frei lag. Vom Anblick und Gestank endgültig überwältigt vergaß Höhnke die paar Dienstvorschriften, die sie noch nicht gebrochen oder zumindest arg verbogen hatten, ließ sich in den Fernsehsessel senken und las den Brief.
Hey Gerd,
ich glaube, wir haben jetzt gut dreißig Jahre nichts mehr voneinander gehört und eigentlich hatte ich auch schon mit dem Gedanken gespielt, es dabei zu belassen und mich darauf zu freuen, deine Visage im Jenseits zu polieren für alles, was du mir angetan und genommen hast. Ich habe gehört, dass Luise mittlerweile gestorben ist und hoffe sehr, dass es langsam und schmerzhaft war, aber da kann ich ja bei Blasenkrebs von ausgehen. Für mich war sie ohnehin schon damals gestorben, als ich sie mit dir erwischt habe.
Aber du weißt natürlich, was mich all die Jahre wesentlich mehr gequält hat als von dieser untreuen Schlampe für meinen besten Freund, diesen idealistischen Vater Theresa, verlassen zu werden. Wir hätten reich sein können, du und ich, Gerd, reicher als Gott und ich frage mich wirklich, ob du manchmal an diese verpatzte Gelegenheit denkst, jetzt wo du mit deiner mickrigen Rente in diesem Wohnsilo langsam verfaulst.
Ich bin zurückgegangen, Gerd, zurück nach Pasa de la orchídea, zurück zu den Peri-Indianern, zurück in den Waldteil, in dem „Dämonen ihre Notdurft verrichten,“ wie das hässliche alte Indiogerippe mit dem Lendenschurz aus Vogelspinnen das damals nannte. Oh, der ist übrigens immer noch da, ist das nicht unglaublich? Ich meine, wie alt mag der jetzt sein? Hundertfünfzig?
Du wolltest ja damals nicht weiter daran forschen, was genau die Tiere und Menschen dort umgebracht hatte, die aussahen, als hätten sie in Schwefelsäure gebadet, weil du sicher warst, dass unsere Ergebnisse zu unlauteren Zwecken missbraucht würden. Und weil du wusstest, dass ich der Realist in unserem Gespann war, hast du nach unserer Rückkehr die Scheißkarten mit den Wegen zu den Peris vernichtet. Damals hast du mir die Chance meines Lebens vorenthalten. Aber wenigstens hast du ja danach mein Mädchen flachgelegt, Danke dafür.
Ich hab’ den Weg zurück gefunden, Gerd, mit Hilfe einiger fähiger Leute und des Internet – das Scheißding ist wirklich für alles zu gebrauchen. Jetzt werd ich meinen Fund verkaufen, an die Jungs mit den Bärten, die mit Sternen und Streifen im Hirn oder sonst wen, ist mir scheißegal, die Welt ist ein Irrenhaus und ich hab’ sie nicht dazu gemacht, und das Mindeste, was mir zusteht, ist ein kleines materielles Trostpflaster für alles, was ich durchgemacht habe.
Ach so, was es ist, fragst du?
Weißt du, der alte Vogelspinnen-über-dem-Pimmel Urwalddoktor hat gar nicht so falsch gelegen mit seiner Theorie vom Dämonenklo. Die Luft ist wirklich nicht gut in diesem Teil des Waldes, Gerd. Es sind Bakterien. Fressen dich schneller auf als verdammte Piranhas. Ich arbeite natürlich auch mit ein paar Leuten zusammen, die Ahnung von Biologie und dem ganzen Zeug haben, und die sagen, es wirkt ungefähr so wie ein Schwelbrand auf deiner Haut. Es frisst sich durch und nimmt sich schließlich deine Organe vor, die dir aus sämtlichen Öffnungen kommen, während es an dir arbeitet. Ist das eklig, oder was?
Und das Beste ist: Es lähmt in Sekunden und tötet in Stunden! Ist das nicht eine unglaubliche Sauerei? Und in einer Welt, deren Schöpfer so was existieren lässt, hast du immer versucht zu tun, was gut und richtig war. Ist dir bei dieser Ironie nicht zum Kotzen zumute?
Apropos ... Falls du dich gerade fragst, warum deine Finger so jucken, ich habe das Papier mit einer kleinen Probe von meiner mikroskopisch kleinen Goldgrube behandelt. Ich hoffe, ich habe lange genug mit dem Clou hinter dem Zaun gehalten, dass du’s nicht mehr zum Telefon oder nach draußen schaffst. Aber irgendwie vertraue ich da mal drauf, ich habe nämlich eine Glückssträhne im Moment.
Wir sehen uns auf der anderen Seite, Gerd. In einem Stück wirst du’s nicht schaffen.
Grüße,
Heinrich
Etwas machte Knoten in Höhnkes Beinmuskeln. Ameisen schienen mit Beißzangen in seine Fingerkuppen zu fahren. Sie krabbelten hinunter in seine Handflächen.
Sandra kam zur Tür herein. Kriechend. Ihre Hose war unten und mit etwas, dass aus ihrer Vagina lief, hinterließ sie eine Spur wie eine Schnecke. Sie hechelte hundegleich mit einer Zunge, schwarz und fast so groß wie die eines Rindes.
Höhnke warf den Brief weg als hätte das Papier plötzlich Feuer gefangen. Die ruckartige Bewegung fuhr so ungewohnt schmerzhaft in seinen Arm, dass er das Gefühl hatte, er würde am Bizeps abreißen. Er spürte seinen Schließmuskel erschlaffen und nahm noch wahr, dass es Blut war und nicht Durchfall, dass ihm aus der Hose floss. Dann musste er alles Denken den Flammen überlassen, die seine Empfindungen und seine Sinne verbrannten bis nur noch Schmerz übrig war.