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Der Abt oder Die Geschichte eines Süchtigen
Eine Sucht wird meist durch einen einmaligen Kick hervorgerufen, steigert sich dann in regelmäßigen Konsum, bis hin zur Manie. Von einer solchen Manie soll jetzt berichtet werden. Der Name des Abhängigen, der von sich glaubt, völlig normal zu sein, spielt dabei eine untergeordnete Rolle, ebenso wie dessen streng katholischer Hintergrund. Der Vollständigkeit halber soll sein Name – Abt Hängig – nicht unerwähnt bleiben.
Unser Abt war schon seit Kindertagen anfällig für diverse Süchte. Er erreichte das neunte Lebensjahr, ehe er es schaffte den Schnuller abzulegen. Nicht minder gerne meditierte er. Nur einer der Gründe, warum er Pater geworden war. Das Meditieren beherrschte er in Perfektion. Er brachte seinen Körper in Ruheposition, riegelte jedes von außen kommende Geräusch ab, drosselte seinen Geist auf ein Minimum, bis er endlich einschlief.
Als junger Mann war er dann von der Lesesucht befallen. Er las alles, was ihm in die Finger kam. Fast panisch suchte er nach Buchstaben und Wörtern. Je mehr er danach suchte, desto öfters projizierte sein Verstand auch Buchstaben auf das Gesehene. Er sah Wörter an der Wand und auf dem Boden. In der Buchstabensuppe bildeten sich vor seinem geistigen Auge bereits ganze Romane. Das ging sogar soweit, dass er Sätze wie „Ich liebe dich, Susi“ auf Bäumen stehen sah. Auf Bäumen!
Doch all diese Süchte waren nichts, im Vergleich zu der Sucht, die den Abt Jahre später gefangen hielt.
Alles begann im Jahr 1998, als die Klosterbibliothek mit Computern ausgestattet wurde. Viele Brüder schimpften damals, diese selbstdenkenden Wesen seien die reinste Blasphemie. Unser Abt aber war ein aufgeschlossener Mensch, dem aufgrund seiner Position – Stiftsbibliothekar – nichts übrig blieb, als sich mit den neumodischen Maschinen anzufreunden.
Langsam erlernte er die Grundlagen, den Umgang mit der Maus, das Erstellen von Dateien und das Verwalten der Bibliotheksdatenbank. Das Erfassen und Katalogisieren der Bücher bereitete ihm zusehends Freude. Nach und nach übernahm er den ganzen Schriftverkehr, sowie die eigentliche Verwaltung des Klosters. Selbstverständlich EDV gesteuert.
Als ein Jahr später Abt Bernhard, der bisherige Führer des Klosters, starb, gab es nur eine kurze Diskussion, wer sein Amt weiterführen sollte. So wurde unser Mönch zu dem, was er heute ist: Abt Hängig.
Eine seiner ersten Amtshandlungen war, die Einrichtung eines Internetzugangs. Er hatte in verschiedenen Fachzeitschriften schon viel über diese neue Technologie gelesen und war nun mehr als entschlossen, sie für sich auszuprobieren.
Schon nach wenigen Tagen war unser Abt ihr verfallen. Anfangs saß er nur kurz vor dem Bildschirm, erledigte noch gelegentlich den anfallenden Papierkram. Später setzte er sich Zeitlimits, um seine Abhängigkeit einzugrenzen, doch er wurde immer tiefer in den Strudel der Sucht gezogen. Bald saß er von morgens bis spät in die Nacht hinein am Rechner und durchforstete das Internet. Die Organisation des Klosters vernachlässigte er in dem Maße, in dem die Internetsucht zunahm. Er begann zu boarden, zu chatten und schaute sich Pornos an. Die täglichen Gebetszeiten wurden immer kürzer, bis hin zur völligen Aufgabe. Unser Abt verlotterte immer mehr. Er wusch die Tastatur öfters als sich selbst. Er aß und trank wenig; und wenn dann nur nebenbei, sodass er stark abmagerte. An seinen Augenringen konnte man den Vitaminmangel ablesen. In den wenigen Stunden, in denen er überhaupt zur Ruhe kam, faselte er zusammenhanglose Begriffe wie „Browser“, „YouTube“ oder **chica-deluxe**.
Es war nicht so, dass er den eigenen Verfall und den des Klosters nicht bemerkt hätte. Es war ihm nur schlichtweg egal! Was um ihn herum passierte, interessierte ihn nicht mehr. Die reale Welt verlor immer weiter an Bedeutung.
Seine Brüder versuchten alles, um ihn von der teuflischen Maschine wegzubewegen, doch es gelang ihnen immer seltener. Anfangs war er noch gelegentlich zum gemeinsamen Essen erschienen. Dort schlang er dann schnell drei Bissen herunter, ehe er wieder zurück an seinen Rechner rannte, um zu überprüfen, ob sich etwas getan hatte. Er hatte Lesezeichen auf über 60.000 Seiten gesetzt. Auf einer dieser Seiten hatte sich selbstverständlich immer etwas getan. Jede Minute, die er nicht im Internet verbrachte, erschien ihm verloren. So war es nur logisch, dass er versuchte, die Zeit der Abwesenheit auf ein Minimum zu reduzieren. Zum gemeinsamen Essen kam er nicht mehr, die Kommunikation mit den anderen Mönchen erstarb. Mittlerweile schlug er um sich, wenn man versuchte, ihn von seinem Stuhl wegzuzerren.
Die anderen Brüder schlossen ihn in ihre Gebete ein, verständigten Ärzte, die wiederum Tabletten verschrieben, die wiederum nichts halfen. Er glitt immer tiefer in die Sucht, für die Manie eine treffendere Bezeichnung wäre.
Er legte sich im Internet verschiedene Existenzen zu, spielte mit diesen, tauschte sich unter einander aus. Die wenigen Sekunden in den er glücklich war, beispielsweise, wenn er Zustimmung auf einen von ihm geschriebenen Board-Eintrag erhalten hatte, wurden durch die Paranoia verdrängt, dass er irgendwo anders etwas verpasst haben könne.
Der Abt wechselte die Seiten immer schneller, hatte mehrere Fenster gleichzeitig geöffnet und rief seine fünf E-mail Accounts immer häufiger ab. Diese geistige Herrausforderung, immer schneller auf etwas zu reagieren, schwächte ihn weiter. Er schwitzte und zitterte so stark, dass er oft nicht dahin klicken konnte, wohin er wollte. Das machte ihn nur noch nervöser und ängstlicher. Immer wenn das passierte, hämmerte er die Maus auf den Schreibtisch und schrie: „Du verficktes Scheißding“. Danach brach er in Tränen aus.
Ein solcher Anfall brachte das Fass zum überlaufen. Die anderen Brüder, obschon allesamt geduldige Menschen, beschlossen, dass es so nicht weitergehen könne und setzten sich zusammen. Ein Mönch sagte: „Wir müssen Abt Hängig endlich von seiner Sucht befreien. Er ist dem Teufel des Dualsystems verfallen.“ Die anderen nickten nur und murmelten Zustimmung.
Am darauf folgenden Tag setzten sie ihren Plan in die Tat um. Sie ritzten das Internetkabel an. Nur ein kleiner Schnitt, den man auf den ersten Blick nicht sehen konnte, der jedoch reichen sollte, um die Verbindung zu kappen.
Als der Abt nach nur drei Stunden Schlaf zu seinem bösem Freund, dem Internet, zurückkehrte, loggte er sich ein wie immer. Doch schon als die Einwahl ein paar Sekunden länger dauerte als normal, ahnte er, dass etwas nicht stimmte. Lange schon hatte er sich vor dieser Situation gefürchtet. Daumen drückend und „Bitte! Bitte!“ wimmernd saß er vor dem Bildschirm. Nach ihm unendlich lange erscheinenden zehn Sekunden kam dann die Fehlmeldung. Nein, sie kam nicht, sie sprang ihn wild schreiend an. „Verbindung konnte nicht hergestellt werden.“ Er sprang aus dem Bürostuhl auf, hetzte um den Schreibtisch herum, überprüfte alle Kabel und Anschlüsse. Er versuchte die Einwahl erneut. Mittlerweile zitterte er so stark, dass er die Maus fast nicht mehr halten konnte. Seine Adern pulsierten und sein Kopf pochte. Tränen rannen ihm die Wangen entlang. „Bitte! B-I-T-T-E“, schluchzte er immer wieder. Er versuchte nochmals alle Anschlüsse, richtete die Verbindung neu ein. Doch es tat sich nichts.
Nach drei Stunden kamen die anderen Brüder, um den Abt zu überreden, mit zur Abendandacht zu kommen. Sie dachten, sie hätten die Sucht besiegt. Doch alles, was sie sahen war der tote Körper des Abtes. Tränen schimmerten noch auf seiner Wange.