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Der Alte Im Park
DER ALTE IM PARK
Interessanterweise sterben die Menschen so und so. Es gibt kein Schema, selbst wenn wir nur diejenigen betrachten, welche eines 'natürlichen' Todes sterben. Die Glücklichen, möchte man sagen, wie sie friedlich entschlummern, vor Gott treten und ihm ein gelebtes Leben vorweisen können. Mit Abspann, sozusagen. (Dies wiederum bringt mich auf den Gedanken, wie unverständlich es für mich ist, wenn die Leute aus dem Kino hetzen, ist kaum die letzte Klappe gefallen. Als wären sie Buddhisten und im nächsten Moment gäbe es im Filmsaal nebenan einen weiteren Film, ein weiteres Leben anderer Leute. Diesen gehetzten Leuten unterstelle ich, dass sie sich bei ihrem eigenen Ende ans Leben klammern werden, eine Zugabe fordern, einen zweiten Teil...)
Doch es gibt Tode, wie sie nicht jeden ereilen. Der vom Löschflugzeug aufgesaugte Taucher, zum Beispiel. Oder die immer wieder in der Zeitung stehenden Blitzschlagopfer.
Oder...
Ich saß in einem Park und beobachtete einen alten Mann. Er war klein, vielleicht einen und einen halben Meter hoch, doch war sein Rücken so sehr gekrümmt, dass man ihn mit Gewalt bestimmt auf einen Meter fünfundsiebzig hätte strecken können. Er trug einen dunklen, zerfaserten Filzmantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte, und an den Füßen trug er zu große, ausgetretene Lederstiefel. Auf dem haarlosen Köpfchen saß eine rot-schwarz-grünes Mütze.
Es war Sommer, ein sehr kalter August mit Regen und verärgerten Urlaubern, doch für Filz und Wolle war es in meinen Augen noch nicht kalt genug. Dem Männchen schien es nichts auszumachen.
Ich sitze gerne etwas abseits, was nicht heißt alleine, und beobachte das bunte, oftmals auch farblose Treiben der Menschen. Ich trinke mein Bier und mache Notizen. Nach dem dritten Bier beginne ich exzessiv den Leuten Lebensgeschichten anzudichten. Diese Lebensgeschichten basieren meist einzig auf einen Augenblick - eine Frau schwebt durch den Raum, sie lässt sich feiern, ihre Wimpern tragen zu viel Tusche, ihr Blick ist gehetzt, sie flieht vor ihrem Freier - und blieben, würde ich mich mit den Betreffenden in einen Dialog verstricken, unhaltbar. Man hätte mich schon von manchem Empfang entfernt, hätte ich einen Projektor auf dem Kopf, welcher meine Gedanken projiziert. Manches mal gar klappe ich wie selbstverständlich mein Notizbuch zu, wenn sich jemand neben mich setzt (zum Beispiel die Prostituierte, die vor ihrem Freier flieht.) Nun kam der alte Mann auf mich zu.
"Setzen Sie sich," bot ich ihm den leeren Platz neben mir an.
"Ist der Platz besetzt?" entgegnete er mit ausgesuchter Höflichkeit. Aus der Nähe erkannte ich sein zernarbtes, alkoholkrankes Gesicht als das Antlitz eines Besessenen. Seine Stimme dagegen war so weich, als wäre sie der Gegenpol zu seinem rauen Äußeren.
"Nein. Schon lange nicht mehr."
Er stutzte.
"So setzen Sie sich doch," forderte ich ihn weiterhin auf. Schließlich war er recht zielstrebig zu mir gekommen. Mit meinem Angebot wollte ich nicht mehr, als ihm eine Peinlichkeit ersparen. "Der Platz ist frei und sie stören mich nicht."
"Danke." Er bleib stehen und fixierte mich. Lange waren wir uns so gegenüber, das stehende Männchen kaum höher als ich, sitzend auf der Bank. Wir blickten uns tief in die Augen und wieder lief in meinem Kopf eine gesamte Lebensgeschichte herunter. Es war keine gute Geschichte, vielmehr handelte sie von Tod und Verlust, Leid, Gewalt und versagter Liebe. Man hatte seine Kinder erschossen, als er zwanzig war. Mit vierzig wurde er obdachlos. Heute morgen aß er halbe Äpfel aus einer Tonne. Plötzlich lachte er laut auf und sein fauler Atem schien mir schier das Gesicht zu zerfressen.
"Keine Ahnung hast du!" rief er und setzte sich neben mich. "Keine Ahnung von nichts."
Wieder blickten wir uns an. Er hob den rechten Zeigefinger, ein krummes Ding, braun wie Erde, und ich dachte, er wolle mir etwas am Himmel zeigen. Wolken. Die Sonne, vielleicht. Oder Zugvögel. Doch bevor ich nach oben schauen konnte, da bohrte sich ein pechschwarzes Spinnebein aus seiner erhobenen Fingerkuppe, wurde länger und länger, zehn, zwanzig Zentimeter, züngelte den Wolken entgegen und neigte sich bald herab um meinem Gesicht einen Besuch abzustatten. Der Alte zeigte keine Regung.
Was sollte ich tun? Ich sprang auf und fiel rücklings in den Schotter des Fußweges. Kleine Steinchen spritzen unter mir davon, meine Handballen brannten fürchterlich und schon begann das Blut zu fließen. Ich bohrte meine Füße in den Schotter und schleuderte mich fort von der Bank und dem Alten. Das Spinnenbein war mittlerweile über einen Meter lang geworden, vielgliedrig und verfolgte mich gleich einem Unwetter: gemächlich und unaufhaltsam. Ich strampelte weiter davon, spürte bald kaltes, feuchtes Gras unter mir und meine Handballen waren dankbar dafür.
Nach einigen Metern stieß ich mit dem Rücken an die Rinde eines Baumes. Gleich einem filigranen Bogen aus dem höllischsten Alptraum eines kranken Geistes überspannte das Spinnenbein den Gehweg, an seinem einen Ende der Finger des Alten, der noch immer in Filz und Wolle schier unbeteiligt auf der Bank saß, und am anderen Ende eine teuflisch züngelnde Spitze, keinen halben Meter von mir entfernt.
Die Sackgasse, in welche ich geraten war, schenkte mir einen verzweifelten Mut. Ich sprang auf, packte das Ende des Spinnenbeins mit solcher Gewalt, dass es brach und arbeitete mich auf diese Weise voran, dem Alten entgegen. Entgegen meiner Vorstellung war das Spinnenbein schwach und leistete kaum Widerstand, so dass ich nach wenigen Sekunden vor dem Alten stand und seinen erhobenen Zeigefinger hielt. Kalte Luft umströmte meinen aufgeheizten Körper, mein eigener Mantel flatterte und so kam es, dass ich mit dem Spinnenbein nicht endete. Ich brach dem Alten den Finger, die Hand, Unterarm, Oberarm, Schulter, griff unter den Mantel, rammte meine Hand in sein faules Fleisch, brach Rippe für Rippe, das Rückgrat, setzte meine Knie gegen seine Beine und irgendwann, als ich aus meinem Rausch erwachte war die Bank voll Blut und Knochensplitter. Von dem Alten war nichts weiter mehr übrig.
Ich ging nach Hause, wusch mich, wusch meine Kleidung und legte mich schlafen.
Ich träumte von einer kleinen Spinne über meinem Bett. Sie sagte: "Du hast keine Ahnung," hob ihr Spinnenbein und ein kleiner menschlicher Arm wuchs daraus hervor, packte mich am Kragen und würgte mir die Seele aus dem Leib...