Mitglied
- Beitritt
- 30.03.2003
- Beiträge
- 136
Der alte Mann und der Zug
Er saß im ersten Waggon auf der linken Seite und starrte schweigend aus dem Fenster. Beinahe reglos saß er dort, schien in Gedanken versunken, was auch nicht weiter auffällig war, wäre es nicht jeden Tag so gewesen. Jeden Tag, egal, ob Sommer oder Winter, egal, ob wochentags oder an den Wochenenden, der alte graue Mann stieg jeden Morgen in den Regionalzug, saß auf seinem Platz und stieg mittags wieder aus. Und nach einer kurzen Pause stieg er wieder in den Zug ein und fuhr zurück. Jeden Tag. Und immer saß er auf dem gleichen Platz im ersten Waggon und sah aus dem Fenster.
Irgendwann einmal war er Katja aufgefallen, und sie hatte sich gefragt, warum er Tag für Tag diese Strecke fuhr, hatte seine Reise doch offenbar keinen Zweck. Sicher, sie selbst fuhr diese Strecke auch täglich einmal hin und einmal zurück, nur war sie auch seit zwei Jahren Zugbegleiterin, und es war ihr Job, diese Tour zu machen. Nachdem sie den Alten ein paar Mal beobachtet hatte, begann sie sich zu fragen, warum er nie ein Buch oder eine Zeitung las, und weshalb er immer mit dem Regionalzug fuhr, obwohl der Intercity nur halb so lange unterwegs war. Einmal hatte sie einen Kollegen nach dem alten Mann gefragt, dem dieser merkwürdige Fahrgast ebenfalls aufgefallen war. „Ich weiß nicht“, hatte sie zur Antwort bekommen, „aber ich schätze, der ist einfach nicht mehr ganz da, ein bisschen verrückt.“ Vielleicht war es so, sagte Katja sich, und der alte wusste nicht einmal, dass er Tag für Tag sinnlos umher fuhr. Doch die Sache ließ ihr keine Ruhe, und sie beschloss, ihn nach dem Grund für seine Reise zu fragen.
„Entschuldigen sie“, ergriff sie das Wort, nachdem sie sich seinen Fahrschein hatte zeigen lassen, „es mag ihnen merkwürdig erscheinen, doch mich beschäftigt schon seit Wochen die Frage, weshalb sie täglich hier im Zug sitzen...“ Zuerst hatte sie den Eindruck, der Alte habe sie nicht einmal gehört, da er immer noch blicklos aus dem Fenster schaute. Sie wollte sich schon wieder an die Arbeit machen, da wandte er ihr sein Gesicht zu, ein vom Leben gezeichnetes, zerfurchtes Gesicht mit trüben Augen, und deutete ihr an, sie solle sich setzen. Katja kam seiner Bitte nach und konzentrierte sich dann ganz auf seine ruhige, brüchige Stimme, mit der er nun zu erzählen begann.
„Wissen sie, ich bin inzwischen vierundachtzig Jahre alt, kann vom Leben nicht mehr viel erwarten, und es gibt nicht viel, was ich noch tun könnte. Meine Jugend hat mir der Krieg geraubt, ich habe sehr früh gelernt, wie hart das Leben sein kann. Als junger Mensch wollte ich die Welt sehen, Abenteuer bestehen und etwas erleben, aber alles, was ich in jenen Jahren von der Welt sah, waren Soldaten, Panzer, Leid und Elend. Das waren nicht die Abenteuer, die ich zu erleben hoffte, und auch später bekam ich keine Chance dazu, weil ich meine Frau und unsere Kinder zu versorgen hatte.“
Bei seinen Worten vergaß Katja fast, dass sie im Zug und im Dienst war, so sehr nahmen seine schweren Worte sie gefangen und brannten sich in ihr Gehirn. Sie wagte es auch nicht, den Mann zu unterbrechen, weil sie nicht mehr wusste, ob er noch zu ihr oder zu sich selbst sprach.
„Ich will mich nicht beklagen“, fuhr er fort, „jeder Mensch muss mit dem Schicksal fertig werden, das Gott für ihn bereithält, und die Jahre mit meiner Frau und den Kindern waren gute Jahre. Auch wenn es hart war, waren wir glücklich und haben das beste aus unseren Möglichkeiten gemacht. Und“, jetzt lächelte er, „ich kam inzwischen auch herum, denn ich war Lokführer geworden. Am Anfang sah ich jeden Tag eine neue Stadt und fuhr jeden Tag eine neue Strecke. Doch bald war mir die Strecke nach Hause die liebste geworden. Viele Jahre habe ich bei der Eisenbahn gearbeitet, und immer wieder war es ein schönes Gefühl, zurück zu meiner Familie zu kommen.“
Er blickte kurz zu Katja auf, und er schien zu spüren, dass sie ihn verstand.
„Nur leider geht alles einmal vorüber, die Kinder gingen aus dem Haus, meine Frau verstarb, und ich wurde in den Ruhestand versetzt. Von da an kam ich mir nutzlos vor, nicht mehr zu gebrauchen, ein alter Zug, der auf einem Abstellgleis vor sich hinrostet. Und da die Alten in der heutigen Zeit nichts mehr zählen, wusste ich nicht, was ich tun sollte, lebte stumpf vor mich hin, wurde krank und verbittert. Ich verfluchte das Leben, das mir die Jugend genommen hatte, ärgerte mich über die Jahre danach, die mir jetzt eintönig erschienen, und ich konnte mich an nichts mehr erfreuen. Aber eines Tages sagte ich mir, dass es das nicht sein durfte, und dass mein Leben so nicht enden sollte. Also setzte ich mich in einen Zug und fuhr meine alte Lieblingsstrecke. Und wissen sie, ich sah draußen die Landschaft an mir vorbeiziehen, die sich in all den Jahren verändert hatte, ich beobachtete die Menschen, die mit dem Zug fuhren, in all ihrer Hektik und Unzufriedenheit, und am Abend war es wieder ein schönes Gefühl, nach Hause zu kommen. Von jenem Tag an fahre ich täglich mit dem Zug, und glauben sie mir, ich habe meinen Frieden gefunden.“
Katja wagte es noch immer nicht, etwas zu sagen. Sie schämte sich, dass sie den Mann für verrückt gehalten hatte und wurde sogar rot bei dem Gedanken. Der Mann sah sie noch einmal an, dann stand er auf und entschuldigte sich, er müsse nun aussteigen, um seinen Zug nach Hause nicht zu verpassen.