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Der alte Mann
Die Sonne stand weit im Westen. Ihre langen goldenen Finger tasteten sich über das satte Grün, warfen an den weidenbestandenen Knicks lange Schatten und erfassten schließlich auch den alten Mann, der am Rande einer saftigen Weide verweilte.
Mit seinem weißen Bart und dem wallenden Gewand stand er verloren in der Abendsonne und schaute versonnen über das weite Land.
Er sah erschöpft aus. Die Anstrengung seines Tagewerks stand ihm ins Gesicht geschrieben. Das war nicht verwunderlich. Die Woche neigte sich ihrem Ende zu. Werktage, die selbst ihm, der außerordentliche Anstrengungen gewohnt war, viel abgefordert hatten. Schließlich erschafft man nicht ständig eine neue Erde. Selbst dann nicht, wenn man Gott selbst ist.
Wohlgefällig ließ er seinen Blick schweifen.
Fünf Tage harte Arbeit. Tag und Nacht. Wasser und Erde, Pflanzen und Tiere waren geschaffen. Alles war perfekt. Soweit das Auge reichte – sattes grünes Land. Bis zum Horizont, dort wo die Erde den Himmel berührte.
„Ich werde es Dithmarschen nennen“ murmelte Gott zu sich selbst. Gern hätte er sich nach den Mühen der vergangenen Tage ein wenig ausgeruht, doch nirgends bot sich eine Gelegenheit zum Sitzen.
„Ich glaube,“ sinnierte er, „bei den nächsten Landschaften, die ich formen werde, sollte ich gelegentlich am Wegesrand ein paar große Feldsteine platzieren, damit müde Wanderer rasten können. So perfekt mir Dithmarschen auch gelungen ist – die fehlen hier!“.
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
„Hinter dem Land beginnt das Wasser. Auf beiden Seiten. Aber was geschieht am Horizont? Sollte irgendwann einmal jemand diese Stelle erreichen, wird er ins Nichts abstürzen. Nein! Da muss ich mir noch etwas einfallen lassen.“
Er überlegte eine Weile bis ein Leuchten in seine Augen fuhr. „Ich hab´s! Ich werde eine Kugel formen. Gleich hinter Dithmarschen soll die Krümmung beginnen...“
Und so ergab es sich, dass man noch heute an der Westküste einen Blick in die unendliche Weite werfen kann und an diesem Fleckchen Erde erst hinter dem Horizont die Krümmung beginnt.
Nun ist es nicht überliefert, ob Gott am Freitag ein wenig gefeiert hat oder eher erschöpft von der schweren Arbeit die Nachtruhe genoss.
Gern hätte er aber mit jemanden gesprochen, wäre über ein wenig Anerkennung für sein gelungenes Werk dankbar gewesen. Doch niemand hörte ihm zu. Die Fische im Wasser waren stumm, die Vögel zwitscherten fröhlich und voller Lebensfreude, selbst die schwarzbunten Kühe auf den satten Weiden sahen glücklich aus. Doch keines dieser Lebewesen unterhielt sich mit Gott, wollte ihn lobpreisen für sein Werk.
„So muss ich ein Wesen schaffen, mit dem es sich reden lässt“ dachte Gott und machte sich am folgenden Tag ans Werk.
Der Mensch, so nannte er sein neues Geschöpf, war ihm ähnlich. Er war besser ausgestattet als alle zuvor geschaffenen Lebewesen und vereinte die positiven Merkmale, die sich verteilt in den anderen Kreaturen finden ließen.
Zu dieser Absicht passte es vorzüglich, dass Gott dieses Wesen am sechsten Tag, den Sonnabend , geschaffen hatte.
„Du bist die Krönung der Schöpfung“ sprach Gott. „Du sollst im Paradies leben; dir soll Milch und Honig zu fließen, du sollst nie arbeiten. Trotzdem soll stets für dich gesorgt sein. Dafür sollen andere Kreaturen schaffen. Du bist das Ebenbild des Herrschers und sein Repräsentant auf Erden.“ Und so entstand der Beamte...
Am siebten Tag ruhte Gott sich aus.
Doch dann begann eine neue Woche. Der Herrgott nahm seine schwere Arbeit wieder auf und vervollständigte sein Meisterwerk – Stück für Stück, wobei er in die neuen Gegenden, die er schuf, seine Erfahrungen aus Dithmarschen einfließen ließ.
Mit Sorge beobachtete er allerdings sein Ebenbild, den Menschen. Der saß den ganzen Tag nur herum, hielt sich für besonders wichtig, mischte sich überall ein und fing an, Regelungen und Ausführungsbestimmungen zu kreieren. Die Kühe sollten eine vorgegebene Quote erreichen, den Vögeln wurde vorgeschrieben, in welcher Größe sie ihre Eier zu legen hätten, das Obst sollte nicht an Bäumen wachsen, die aus Gründen des Arbeitsschutzes größer als Menschen sind; er schrieb den Nutzpflanzen Handelsklassen zu und vieles mehr.
Auf der anderen Seite suchte der Mensch nach Schlupflöchern, um die von Gott erlassenen Gebote zu umgehen. Und darüber wollte er in neu zu schaffenden Arbeitskreisen und Ausschüssen mit Gott diskutieren.
Eines Tages reichte es dem Herrn. Er, sonst gutmütig und geduldig, jagte den Menschen hinaus aus dem Paradies Dithmarschen und erlegte ihm viele Erschwernisse auf. Und um künftig nicht diesen ständigen Diskussionen ausgesetzt zu sein, erfand Gott auch noch das Sprachwirrwarr und schuf neben der normalen Sprache das Beamtendeutsch.
„Ich bin zwar enttäuscht,“ sprach Gott zu sich selbst, „aber ein neuer Versuch soll es mir wert sein.
Und so formte er nochmals einen Menschentyp, wobei er die Fehler seines ersten Versuches vermied. Die neuen Bewohner des Paradieses waren fleißige und besonnene Leute. Sie hörten zu, wenn ihnen jemand etwas erzählte. Sie konnten schweigen, fielen dem Gegenüber nicht ins Wort. Und es war Verlass auf sie. Auch ohne lange Erklärungen verstanden sie einander, packten gemeinsam an und vervollständigten das Paradies, dass Gott ihnen geschenkt hatte.
Und so ist es bis heute geblieben...