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Der alte Mann
Der alte Mann
Er hatte es versucht. Das hatte er wirklich. Das würde doch niemand in Frage stellen.
Er saß allein am Fenster eines heruntergekommenen Zimmers, ungelüftet und nach Bahnhofshalle riechend.
Das Licht drang in dunklen, trüben Schwaden herein, es war bewölkt.
Von draußen, wo das Leben normal war, hörte er Verkehr, vorübergehende Leute und vereinzeltes Kinderlachen. Dort wollte er nicht dazugehören. Schon lange nicht mehr. Das hatten sie so gewollt; vielleicht war aber auch sein Plan, sein immerwährender geistig umnachteter Plan gescheitert. Nach so langer Zeit hatte er fast vergessen, was er eigentlich wollte.
Er hatte eine Familie gehabt. Manchmal auch gute Zeiten. Aber immer dann hatte die Stimme angefangen ihn einzulullen, wie eine süße Verführung:“ Fang an! Sie sind glücklich, sie haben fast vergessen, wer hier das Sagen hat! Und hinter deinem Rücken lachen sie über dich!
Zeig ihnen, wer hier etwas ist!“
Er hatte nachgegeben, bereitwillig sogar. Hatten sie nicht selbst Schuld? In ihrer grenzenlosen Arroganz? Seine Frau und seine Tochter, sie kamen sich immer so viel besser vor als er. Sie reizten ihn mit ihrem Hausfrauengewäsch und ihrem kleinlichen Alltag.
Aber er hatte es ihnen gezeigt, ja das hatte er. Er hat sie angebrüllt, grundlos irgendeine kleine Lappalie zum Anlass. Er hat sie bedroht und beschimpft und sie damit aus dem Haus gejagt, stundenlang, bis sie sicher waren, dass er schlief. Sie hatten Angst, irgendwann wisse er nicht mehr was er tue. Er hat es immer gewusst. Und sie an der Nase herumgeführt mit seiner Allmacht. Wie hatte er das genossen. Ihr Gejammer, ihre Schreie und ihre lächerlichen Versuche, sich zu wehren hatten ihn nur ein müdes Lächeln gekostet.
Wurde er doch nie so behandelt wie es ihm zustand. Nie sein Genie erkannt. Aber er hatte es ihnen gezeigt und die Macht, die er besaß genossen.
Nun hatte er keine Familie mehr. Waren abgehauen, bei Nacht und Nebel. Ist das eine Art?
Wie hatte das nur passieren können? Ihn einfach verlassen. Er wollte immer nur das Beste für alle, vielleicht waren seine Methoden nicht immer dem Zeitgeist, mit seiner moralischen verweichlichten Einstellung angepasst, aber er hatte es wenigstens versucht.
Seufzend, voller unterdrückter Wut und Selbstmitleid griff er nach der Weinflasche.
Wieder einmal.