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Der Angler
Mein Herr, ich kenne alle Einwände, die Sie gegen meine Erzählung haben werden, im Voraus. Sie werden die Logik bemühen und mir mit philosophischer Spitzfindigkeit nachweisen wollen, dass und wie sehr ich irre. Sie werden an langen Abenden in endlosen Disputen bemüht sein, mich von meinen Irrtümern und gedanklichen Abirrungen wegzureißen und wieder auf den Pfad des gesunden Menschenverstandes zu geleiten, Sie werden all Ihre rhetorischen Fähigkeiten mobilisieren, um mir zu beweisen, auf welche Abwege mein Geist mich geführt hat – und doch: Es wird Ihnen nicht gelingen! Niemals! Denn ich sah, was ich sah und ich weiß, was ich weiß. Und - eine nicht zu unterschätzende Tatsache - ich bin es von frühester Jugend an gewöhnt, mich in der Nähe von Zweiflern und Skeptikern aufzuhalten, jenem trockenen, fantasie- und humorlosen Völkchen, das von jeher nur an das glaubt, was es sehen und, viel wichtiger noch, anfassen und einsperren kann. Hierbei muss allerdings der unbedingte Glaube an Gott und seine Allmacht ausgenommen werden. Denn gerade jene Menschen, die ich meine, obliegen häufig einem blinden, unreflektierten Wortglauben, wenn es um religiöse Fragen geht. Wohlgemerkt: Dies gilt nur für den Fall der eindeutig religionsbedingten, in unserem Falle also christlichen Fragestellungen.
Nein, mein Herr, unterbrechen Sie mich nicht. Lassen Sie mich einfach erzählen, was mir Seltsames widerfahren ist.
Ich wuchs in einem kleinen Dorf in unserem schönen Schleswig-Holstein auf, direkt am Ufer der Schlei. Meine Kindheit war behütet von wohlmeinenden Eltern und Großeltern, begleitet von Geschwistern, die ich sehr liebte und überwacht von unserem Pastor, der mir schon in frühester Jugend alle wesentlichen Glaubensgrundsätze eintrichterte und dabei die ungeteilte Unterstützung meiner Eltern und Großeltern hatte. Ich lernte ohne nachzufragen, an die unbefleckte Empfängnis und die Auferstehung Jesu Christi zu glauben, obwohl mir die ins Auge fallenden Gegebenheiten des Lebens auf einem Bauernhof das genaue Gegenteil täglich vor Augen führten. Ich lernte, misstrauisch zu sein, wenn die dörfliche „Kräuterhexe“, eine unheimliche, von allen gemiedene Alte, Liebestränke braute und verkaufte, denn Mutter und Großmutter warnten mich unermüdlich vor den fatalen Folgen des Aberglaubens. So wuchs ich auf und verließ mich auf das profunde Wissen der Eltern, der Großeltern und des Pastors, bis ich eines Tages genau das tat, was man mir immer wieder eingetrichtert hatte: Ich vertraute meinen Augen und meinen übrigen Sinnen mehr, als dem Aberglauben meiner Mitmenschen.
Gestatten Sie, dass ich an dieser Stelle ein wenig weiter aushole. Ich bin sicher, Sie werden schon bald bemerken, dass die kleine Episode, die ich Ihnen zu berichten im Begriffe bin, für den Fortgang meiner Erzählung durchaus von Bedeutung ist. Bei uns im Hause lebte Alma, eine meiner Großtanten väterlicherseits, die jüngste Schwester meines Großvaters. Alma war schon immer, so schien es mir zumindest, etwas wunderlich gewesen. Sie hatte, wie meine Mutter mir erklärte, auf Grund einer sehr unglücklichen Liebesaffäre in ihrer Jugend, den Verstand verloren und war, wie man bei uns zu Hause sagte, „etwas schwierig“. Zur Ehrenrettung meiner Mutter muss ich allerdings bemerken, dass diese nie den Ausdruck „den Verstand verlieren“ verwendete. So und noch viel gröber wurde lediglich im Dorfe über Großtante Alma gesprochen, wenn die Sprecher wähnten, dass niemand von unserer Familie in Hörweite sei. Meine Mutter erklärte dem sechs- oder siebenjährigen Knaben, der ich damals war, die unsterbliche Seele der guten Großtante Alma sei sehr krank. Eine Erklärung, die ich zufrieden aufnahm und die mir einleuchtend und wahr erschien.
Nun besaß mein Vater damals einen Hofhund, einen Mischling diverser Hunderassen, der als scharfer Wachhund gehalten wurde. Eine Kette, die dem armen Tier nur wenig Bewegungsfreiheit ließ, fesselte es an einen langen Draht, der den Vorplatz unseres Hauses in der Quere überspannte. Der Hund, durch diese grausame Gefangenschaft auf das Äußerste gepeinigt, wurde nun von meinem Vater zusätzlich sehr knapp verpflegt, was sein wildes, bissiges und gefährliches Wesen nachhaltig verstärkte. Dieser Hund tat mir, der ich eine große Liebe zu aller lebenden Kreatur in mir verspürte, Leid, und so versuchte ich, seine Freundschaft zu erringen, indem ich mein Frühstückbrot mit ihm teilte und immer wieder ein Stück Wurst oder Käse aus der Speisekammer stibitze und an ihn verfütterte. Auf diese Weise gelang es mir auch tatsächlich, das Tier an mich zu gewöhnen. Es ließ sich von mir streicheln und begrüßte mich jedes Mal, wenn es meiner ansichtig wurde, mit großer Begeisterung. An einem heißen Julinachmittag hatte ich meinem vierbeinigen Freund eine Schale Wasser gebracht und mit ihm im Schatten der Hauswand die ärgste Hitze abgewartet. Der Hund legte den Kopf auf mein Knie und sah mich mit einem Blick an, der mir auf unheimliche Weise vertraut war. Plötzlich schoss mir die Erkenntnis durchs Herz, dass ich diesen Blick schon sehr oft gesehen hatte. In den dunklen Augen meiner verstörten Großtante Alma stand just derselbe melancholische Schmerz, wenn sie mir leise weinend über das Haar strich und mich bat, nur ja meine Jugend zu genießen. In demselben Moment wurde mir klar, dass unser Hund krank war. Seine unsterbliche Seele hatte, genau wie die der Großtante, Schaden genommen. Glücklich über diese Erkenntnis lief ich zur Mutter, um ihr von meiner Entdeckung zu berichten. Doch wie groß war meine Enttäuschung, als meine Mutter meine Mitteilung mit der Bemerkung abtat, Tiere hätten keine Seele, ich solle nur unseren Herrn Pastor fragen, der wüsste da genau Bescheid. Natürlich suchte ich das Gespräch mit unserem Seelenhirten, und zu meiner Überraschung, gab er meiner Mutter Recht und ermahnte mich, die Finger von einem solchen Irrglauben zu lassen. Da stand ich nun, hin– und hergerissen zwischen zwei Pflichten. Zwischen der Pflicht, jedes Wort für bare Münze zu nehmen, das unser Pastor sprach, und der Pflicht, keinem Aberglauben anzuhängen, sondern nur das ernst zu nehmen, was ich mit eigenen Sinnen erfahren hatte. Ich entschloss mich, meiner eigenen Beobachtung zu vertrauen und wusste seit dieser Stunde, dass Tiere eine Seele besaßen.
Es wird Sie nicht weiter verwundern, mein Herr, dass ein aufgeweckter und wissbegieriger Knabe, wie ich es war, emsig forschte, um seine einmal gemachte Beobachtung zu untermauern und so hatte ich tatsächlich keine Schwierigkeiten, überall Beweise für meine Theorie zu entdecken, dass die Tiere, mit denen wir unser Leben in mal innigerer, mal loserer Beziehung teilten, tatsächlich über eine empfindsame Seele verfügten. Die Hauskatze meiner Großmutter litt ganz offenbar sehr unter dem Verlust ihres Wurfes. Mein Vater hatte die vier unnützen Esser im Dorfteich ertränkt und ich konnte das unglückliche Muttertier an mehreren Tagen beobachten, wie es jegliche Nahrung verweigerte und suchend und maunzend über den Hof streunte.
Ich glaube sagen zu dürfen, dass meine Sinne für die Empfindsamkeit der Tiere in jener Zeit erheblich geschärft wurden. Und nicht nur für die Empfindsamkeit der Tiere. Nein, nicht lange nach dem Erlebnis mit unserem Hund, stellte ich fest, dass auch angeblich leblose Gegenstände, die von meiner Umwelt nur als totes aber nützliches Material wahrgenommen wurden, über eine sensible Psyche und eine erstaunliche Willenskraft verfügten. Oder wie würden Sie es erklären, dass ausgerechnet das Küchenmesser, welches mein Bruder, da es ihm zu stumpf erschien, mit den Worten „Scheißmesser!“ in die Ecke pfefferte, am nächsten Tag beim Brotschneiden so abglitt, dass derselbe Bruder einen tiefen Schnitt in seinen Handballen davontrug? (Übrigens sah ich deutlich, dass das Messer hämisch und zufrieden grinste, als das Blut meines Bruders auf den Küchentisch tropfte.)
Aber ich sehe, mein Herr, es mangelt Ihnen an der nötigen Muße, sich all meine kleinen, aber wichtigen Erlebnisse anzuhören, die unwiderlegbar beweisen, dass nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch Tische, Steine, Eimer, Töpfe, Schuhe und Werkzeuge beseelte Wesen sind, die mit der Fähigkeit zum vernunftgesteuerten Handeln beschenkt wurden.
Deshalb will ich Sie nun nicht länger mit weiteren Einzelheiten langweilen, sondern Ihnen von den Beobachtungen berichten, die ich kürzlich machte und die meine These auch dem ärgsten Zweifler glaubhaft erscheinen lassen.
In unserem Dorf lebte ein Mann, ein übler Bursche, missmutig, gemein und streitsüchtig. Die einzige Begabung, über die er verfügte, ist diejenige, sich bei allen und jedem unbeliebt zu machen. So gab es im ganzen Dorf keinen Bauern mehr, der nicht in Streit und Feindschaft mit diesem Manne lebte. Die Dorfbewohner gingen ihm aus dem Wege, man ließ ihn links liegen, denn man fürchtete seine jähzornige Gewalttätigkeit und wollte um jeden Preis eine Auseinandersetzung mit diesem Individuum vermeiden. Zu viele Bauern, die ihren Mund nicht hatten halten können und ihm - in einer unbedeutenden Kleinigkeit nur – widersprochen hatten, hatten schon gebrochene Rippen oder blaue Augen davongetragen.
Keiner von uns Dorfbewohnern kannte den wahren Namen des unliebsamen Gesellen und so erfreute er sich diverser Spottnamen. Man nannte ihn den Furzer, den Rülpser, den Rüpel und den Schläger. Aber alle diese Bezeichnungen hielten sich nicht. Seit etlichen Jahren aber wusste jeder von uns, wer gemeint war, wenn von „dem Angler“ die Rede war. Diese Bezeichnung trug er davon, weil Angeln die einzige Tätigkeit war, der er regelmäßig nachging.
Der Angler nun behandelte alle Gegenstände, die das Pech hatten, in seine Reichweite zu geraten, genauso, wie er gewöhnlich seine Mitmenschen behandelte, nämlich grob und roh. Er trat mit Füßen nach Eimern und Töpfen, er warf Kleidungsstücke, die er nicht mehr benötigte, gleichgültig in Zimmerecken, kurz es mangelte ihm an Respekt und Ehrfurcht sowohl vor Menschen als auch vor Dingen.
Ganz besonders aber litten zwei weiße Plastikstühle von der Art, wie man sie heutzutage auf Balkonen und in Gärten häufig antrifft, unter seiner gleichgültigen Rohheit. Die beiden Stühle stehen am Ufer der Schlei an einem ganz besonders idyllischen Fleckchen. Unsere heimatliche Förde verjüngt sich an dieser Stelle sehr anmutig, und direkt an einer leichten Biegung des Wassers findet sich eine grasbewachsene, von wiegendem Schilf umgebene Uferstelle. Hier hatte der Angler, auf einem der beiden Stühle sitzend, schon manchen stattlichen Fisch gefangen. Ich bin noch vor einigen Jahren sehr gerne mit Großvaters kleinem Ruderboot in die Nähe dieser Bucht gefahren, um, im Schilf gut verborgen, den verhassten und gefürchteten Mann aus der Ferne zu beobachten. Auf meinen Streifzügen blieb mir nicht verborgen, wie der grausame Mann die beiden unschuldigen Stühle quälte. Oft traktierte er sie mit jähzornigen Fußtritten und auch sonst ließ er jede noch so kleine Freundlichkeit und Rücksichtnahme vermissen.
Aber ersparen Sie mir die Schilderung all der Qualen, die die beiden hilflosen Stühle zu erdulden hatten. Hören Sie vielmehr, wie es den Stühlen gelang, sich auf das Pfiffigste an ihrem Peiniger zu rächen.
Mein Herr! Lachen Sie nicht! Ich berichte Ihnen lediglich von Dingen, die ich mit eigenen Augen sah!
Eines Nachmittages, ich war Zeuge diverser Misshandlungen und Beschimpfungen der bedauernswerten Stühle geworden – unter anderem hatte der Angler den linken Plastikstuhl verächtlich bespuckt - glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen. Der Angler, der im Laufe des Tages bereits etliche Flaschen Bier und eine halbe Flasche Korn geleert hatte, beugte sich in seinem Stuhl nach vorne, um einen Fisch, der soeben gebissen hatte, geschickt aus dem Wasser zu ziehen. Just in diesem Augenblick streckte der andere Plastikstuhl eines seiner Vorderbeine aus und traf den Angler mit einem gezielten Tritt schmerzhaft am Schienbein.
Der Stuhl, auf dem der Angler saß, ließ seinem Be-Sitzer nicht die geringste Chance. Noch bevor der Mann sich von seinem Schmerz erholt hatte, kippte sein Stuhl ihn so geschickt aus der Sitzfläche, dass er mit dem Gesicht nach vorne in das seichte Schleiwasser stürzte, dort liegen blieb und ertrank. Im Dorfe wurde am Abend gemunkelt, dass der unbeliebte Angler seinen Tod der Tatsache verdankte, dass er sinnlos besoffen gewesen war und sich deshalb nicht aus seiner misslichen Lage befreien konnte. Ich aber, mein Herr, ich weiß es besser! Ich sah nämlich mit eigenen Augen, wie die beiden Plastikstühle sich auf den gestürzten Angler warfen und ihn mit aller Kraft ins Schleiwasser drückten. Erst als sein Zappeln nachließ und er sich nicht mehr rührte, kehrten die beiden Stühle an ihre angestammten Plätze zurück. Ich sah deutlich, wie sie sich zufrieden angrinsten. Ist dies Ereignis nicht Beweis genug für die These, dass auch angeblich leblose Gegenstände über eigenen Willen und folglich auch über eine unsterbliche Seele verfügen?
Und wenn Sie mir nicht glauben, mein Herr, dann fahren Sie einmal mit dem Boot die Schlei hinauf in Richtung Schleswig. Kurz bevor Sie den entzückend gelegenen Yachthafen von Missunde erreichen, werden Sie an der Steuerbordseite ihres Schiffes das kleine, grasbewachsene Uferfleckchen erkennen, auf welchem noch heute in trauter Zweisamkeit die beiden weißen Plastikstühle in Wind, Regen und Sonnenschein stehen, deren Befreiungsgeschichte ich Ihnen soeben erzählt habe.