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Der Apfel

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12.01.2002
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Der Apfel

Der Apfel

Pater Thomas sah sich in der leeren Kirche um, noch ganz erfüllt von tiefer Unruhe, wie sie ihn in der letzten Zeit immer häufiger nach dem Gottesdienst befiehl. Schien ihm diese Unruhe zunächst Ausdruck seiner Sehnsucht nach Gott, so betrachtete er sie nun voller Sorge und Misstrauen: Sein Blick blieb auf dem Antlitz des Gekreuzigten haften, doch ihn erfüllte nur tiefe Unruhe, die er nicht zu deuten wagte.

Die Menschen, die mit ihm gebetet hatten, waren seit langem gegangen. Pater Thomas war nun allein. Weihrauchgeschwängerte, dämmrige Stille umgab ihn als eine Wirklichkeit, die ihm immer fremder wurde, ihn aber dennoch in ihren Bann zog.

Schweren Schrittes ging er zu seinem Beichtstuhl, in den nach einer Weile eine Frau eintrat. Es war eine junge Frau mit quellenden Brüsten, deren Nacktheit ihn so sehr erregte, dass ihm der Atem stockte und er den Blick nicht abwenden konnte. Die Erregung verschlang all seine Gedanken, so dass es nicht einmal wahrnahm, dass er drei Brüste sah.
Zitternd vor Begierde streckte er eine Hand aus, um nach der mittleren Brust zu greifen - doch da entzog sich ihm der Zauber und entliess ihn wieder in die quälende Wirklichkeit der Kirche: Es schien ihm, als ob sich ein Lachen ganz leise von ihm entfernte, dann war es wieder ganz still in ihm und in dem Raum, der ihn dunkel einhüllte. In seiner Hand aber, die er vorher ausgestreckt hatte, hielt er einen Apfel.

Müde nach diesem nie erlebten Gefühl der Wollust, begab sich Pater Thomas in seine Kammer. Dort legte er den Apfel vor sich auf den Tisch und betrachtete ihn, denn er kam ihm sehr unwirklich vor. Dann aber erinnerte er sich an das Lachen in der Kirche, und er schämte sich und verbarg sein Gesicht in den Händen und weinte sich in den Schlaf.

Als Pater Thomas erwachte, empfand er sein Erlebnis nur noch wie ein fernes Wetterleuchten nach einem nächtlichen Gewitter und es verlangte ihn danach, den letzten stummen Zeugen - den Apfel - zu beseitigen, und er biss er in den Apfel.

Die Wirkung, die er fast augenblicklich verspürte, war wahrhaftig wunderbar: Alle Gebrechen, die seinem schwächlichen, frühzeitig gealterten Körper anhafteten, waren verschwunden. Augenblicklich fühlte er, wie sein Körper wieder stark wurde und sich mit Leben füllte.
Nach alter Gewohnheit wollte er niederknien und seinem Gott danken. Doch wofür sollte er ihm danken? Für den Apfel?
Beschämt hielt er inne, kniete dann aber nieder und dankte Gott für die ihm erwiesene, körperlich spürbare Gnade, und in Gedanken fügte er noch, mehr zu sich selbst sprechend, hinzu, dass er sich der paradiesischen Frucht würdig erweisen wolle. Dann brach er ab, denn es ärgerte ihn, so mit seinem Gott in Andeutungen gesprochen zu haben - als ob er sich seiner Gedanken schäme... Dabei hatte er nur anfangs und nur für einige Augenblicke daran gedacht, den Apfel ganz für sich zu behalten.

Er nahm ein Messer und begann, den Apfel zu zerteilen. Er zerteilte ihn in so viele Stücke, wie seine Gemeinde Mitglieder hatte, Greise und Kinder mitgerechnet.
Als er damit fertig war, lehnte er sich zurück, etwas müde zwar, aber glücklich, denn seine Gemeinde war ihm lieb und teuer. Sie waren seine Kinder, auch jene, die nicht in sein Gotteshaus kamen.

Schliesslich liess er seinem Geist die Zügel locker und er träumte. Er träumte, dass seine Gemeinde in einer langen Reihe vor ihm stünde. Einer nach dem anderen knieten sie nieder, und er gab jedem von ihnen ein Stückchen Apfel und sagte: "Nimm hin dieses Stück, es ist ein Teil meiner Seele." Und ganz sicher meinte er, was er sagte, denn er war demütig und wollte dieses Opfer bringen.

Doch da gebar sein Geist einen weiteren Traum, einen der ihn mit Krallen packte und nicht mehr losliess. Einen Traum, würdig eines Gottes, aber zu mächtig für einen Menschen.
Er sah sich in seiner Kirche auf der Kanzel stehen, die Orgel spielte, die Menschen in den Kirchenbänken sangen. Alles war wie gewöhnlich, jedoch schien ihm der Gesang etwas lauter und die Kirche gefüllter als zu anderen Zeiten. Er schaute genauer... Nein, da waren nicht nur mehr Menschen, die zu ihm aufschauten. Das Gotteshaus selber wurde grösser und grösser und füllte sich mit mehr und mehr Menschen. Der Gesang wurde immer lauter... ohrenbetäubender Gesang aus unzähligen Menschenkehlen betäubte ihn.

Dann waren die Mauern der Kirche ganz verschwunden. Vor ihm standen alle Menschen dieser Erde, und sie sangen zum Lobe Gottes.
Plötzlich verstummte der Gesang. In der Stille kniete einer nach dem anderen nieder, und er gab jedem von ihnen ein Stück von dem Apfel, der seine Seele war...


Da Pater Thomas schon seit Tagen von keinem Menschen mehr gesehen worden war, liess man die Tür zu seiner Kammer aufbrechen.
Sie fanden ihn sitzend vor seinem Tisch, mit einem Messer in der Hand. Er zerteilte einen Apfel in immer kleinere Stücke. Seine Augen leuchteten und sein Gesichtsausdruck war der eines Besessenen.

"Verrückt", sagten sie und übergaben ihn den Ärzten. Und die Apfelstückchen warfen sie in den Mülleimer.

 

Gefällt mir ! Wirklich !
Wie kommst Du darauf so ne Geschichte zu schreiben ? Studierst Du Theologie oder so ? Und was steckt hinter dem Motiv der dreibrüstigen Frau ?

Nur eines ist mir aufgefallen :

letzten stummen Zeugen - den Apfel - zu beseitigen, und er biss er in den Apfel.

Nicht nur der kleine Tippfehler-würde die Dopplung auch lassen:

....den Apfel zu beseitigen, und so biss er hinein.

oder ? ;)

 

Hallo und danke für die wohlwollende und kritische Resonanz.

Nein, ich studiere nicht Theologie, aber das Thema "Kirche" ist für mich ein schier unerschöpfliches, da viele emotionale Störungen des Menschen von heute m.E. erst durch die Vorgaben und Annahmen der Kirche entstanden sind (z.B. die Sünde der Sexualität in diesem Falle).

Deshalb auch das "mutierte" Bild der Frau mit den 3 Brüsten. Die Kirche duldet auch heute noch nicht die Freude an der Sexualität - bestenfalls diene sie zur Fortpflanzung des Menschen. Alles andere ist Sünde.

In diesem Zwiespalt befindet sich auch der Pater: Zwischen Wollust und dem Gedanken an die verwerfliche Sünde.

Gruss von KlaraS.

 

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