Der Appetit kommt mit dem Essen
Ich kann mich noch genau an den Sommertag erinnern, an dem mein bester Freund Hendrik starb. Ich war zwölf Jahre alt und erst im Herbst davor nach Stromburg gezogen. Mein Vater hatte Arbeit als Prokurist in der Chemiefabrik gefunden und wir wohnten nun in einem der Reihenhäuser bei der alten Ziegelei.
Ich fühlte mich in der neuen Schule damals nicht wohl. Als neuer Schüler in einer Klasse, in der sich alle anderen schon seit dem Kindergarten kannten, hackten bei jeder Gelegenheit alle auf mir herum. Noch in der zehnten Klasse nannten sie mich „Neuer“. Vielleicht lag es an mir, ich hatte damals immer ziemlich gute Noten, da ich das Schuljahr schon zum zweiten Mal machte und damit war ich natürlich gefundenes Fressen. Aber wahrscheinlich waren die anderen einfach nur dumme Kinder.
Nein, nicht alle, Hendrik hat nie dabei mit gemacht. Er saß immer ganz still hinten an der Wand des Klassenzimmers zwischen Carsten und Nurdan. Die Verlierer-Reihe, die es wohl in jeder Klasse gab.
Nurdan war Türkin. Das war alles, was irgend jemand über sie wusste. Nach den Weihnachtsferien kam sie nicht mehr wieder und das war's. Carsten war sowas wie mein Vorgänger. Bevor ich in die Klasse kam, hatte er sämtliche Keile bekommen.
An Hendrik hatte sich nie jemand heran gewagt. Er war gut einen Kopf größer als Herr Platte, unser Sportlehrer, den wir Bohnenstange nannten. Nur dass er nicht wie eine Stange aussah. Er hatte Schultern wie Arnold - zumindest kam es mir damals so vor - und er konnte den Mülleimer, in den Carsten hin und wieder gesteckt wurde, ganz allein wieder vom Schrank herunter holen. Seine Noten bewegten sich permanent an der unteren Toleranzschwelle und er trug im Winter ständig rote Nickis. Wäre er nicht so ein Brocken gewesen, hätte er laufend Prügel bezogen.
Einmal, kurz vor Weihnachten, kam ich mit dem Fahrrad an seinem Haus vorbei. Es stand unten am Kanal und sah immer so aus, als mussten jeden Moment die Wände nach geben und alles ins Wasser stürzen. Hendrik wollte eine Mülltonne an den Straßenrand stellen und versuchte gerade, sie durch eine Schneewehe zu schieben, als er ausrutschte und hin schlug. Beim Aufstehen hielt er sich am Griff der Tonne fest, wodurch sie umkippte und ihren halben Inhalt auf ihm ausschüttete.
Genau in dem Moment trafen sich unsere Blicke.
Jemand anders wäre vermutlich sofort abgehauen und hätte die Geschichte seinen Freunden erzählt. Vielleicht hätte ich das auch getan, aber ich hatte keine Freunde und so stieg ich von meinem Bonanzarad, ging zu ihm hinüber und half ihm auf.
Von da an hatte ich einen Freund.
Wir bauten Schneemänner, erforschten die Felder und Wälder um die Stadt und - na ja - Carsten kehrte zu seinem alten Job als Prügelknabe zurück. Da Hendrik und ich immer zusammen herum hingen, traute sich nämlich niemand mehr an mich ran.
Bis zu jenem Tag im Sommer.
Hendrik und ich waren auf dem Gelände der verlassenen Fabrik hinter unserem Haus unterwegs. Wir stöberten oft durch die Gebäude, manchmal konnte man dort wirklich brauchbare Sachen finden. Wir hatten bereits einen vollen Benzinkanister und diverses Büromaterial sicher gestellt und uns in den Kopf gesetzt, eine funktionierende Schreibmaschine zu finden. Wir durchkämmten an diesem Sonntag ein oder zwei Stunden die Kellergeschosse und als wir wieder heraus kamen, regnete es in Strömen.
Wir setzten uns auf die Laderampe unter dem Wellblechdach und beobachteten, wie der Regen das Kopfsteinpflaster im Hof unter Wasser setzte.
Ich weiß nicht mehr, wer von uns damit anfing, aber wir begannen, die Regenwürmer zu zählen, die beim Versuch, aus ihren überschwemmten Tunneln zu entkommen, ertranken.
Bei zwanzig sprang Hendrik auf, lief in den Regen und sagte: „Pass auf, ich zeig dir mal was!“
Nach ein paar Schritten ging er in die Knie und zog mit zwei Fingern eine Wurm aus einer Pfütze. Das Tier wickelte sich augenblicklich um seinen Daumen. Mir wurde ein wenig flau dabei und ich fragte ihn, was er denn vorhatte. Er grinste mich an, steckte sich den Wurm in den Mund und schluckte ihn mit deutlicher Mimik herunter.
„Wäh! Igitt, bist du widerlich!“, rief ich, halb im Scherz.
„Hast du noch nie nen Wurm gegessen?“, fragte er.
Ich verneinte. Wozu auch? Ich fand das extrem ekelig.
Darauf meinte er, dass ich dann ein Feigling wäre und er sich wohl einen neuen besten Freund suchen würde. Damit hielt er mir einen weiteren Wurm hin.
Ich konnte natürlich weder das erstere auf mir sitzen lassen, noch das letztere riskieren. So ging ich neben ihm im Regen in die Hocke und griff nach dem Wurm. Ich weiß noch, dass ich ihn mir sehr lange mit allem mir zur Verfügung stehenden Widerwillen ansah. Ich wollte dieses schleimige, sich windende Ding nicht in den Mund nehmen und erst recht nicht essen. Hendrik sagte, der Trick sei, ihn einfach unzerkaut zu schlucken. So konnte man ihn nicht schmecken und die Magensäure gab ihm sowieso den Rest.
Also nahm ich all meinen Mut - falls man es Mut nennen konnte - zusammen und schob mir das Tier zwischen die Lippen. Zuerst schmeckte ich nur nasse Erde, dann merkte ich, wie das Ding herum wuselte, unter meine Zunge kroch und spuckte es aus. Ich würgte und wäre das Frühstück nicht schon ein paar Stunden her gewesen, wäre es vermutlich gleich hinterher geflogen.
Hendrik sah mich mit dem für ihn so typischen Ausdruck an. Teils Mitgefühl, teils Belustigung und größtenteils Überlegenheit.
Aus Trotz pickte ich den Wurm wieder auf, steckte in mir in den Mund und schluckte ihn ohne Umschweife herunter. In meiner Einbildung fühlte ich ihn in meinem Bauch herum zucken und nach dem Ausgang suchen. Manchmal träume ich heute noch davon. Möglicherweise hätte ich in diesem Augenblick meine Religiosität entdeckt - ich fing schon an, für die Seele das Regenwurms zu beten - doch Hendrik war noch nicht fertig.
Gebückt lief er über den Hof und sammelte immer wieder einen Wurm auf. Der Regen hatte inzwischen aufgehört und die Tiere krochen zielstrebig über das Pflaster. Schließlich kam er zurück und hielt mir seine Beute unter die Nase. Gut zehn der abstoßenden kleinen Fäden hatte er in der Hand. Als ich einen halben Schritt zurück wich - ich dachte, er wollte sie mir ins Gesicht drücken - lachte er und verleibte sie sich selbst ein. Wie vorher versuchte er, sie gleich auf einmal zu schlucken, doch diesmal waren es dafür zu viele und er begann zu würgen.
Ich dachte, er machte einen seiner Scherze, bis ich merkte, dass sein Gesicht knallrot angelaufen war. Er hielt sich die rechte Hand an den Hals und versuchte mit der anderen in seinen Mund zu greifen.
Als ich meinen anfänglichen Schreck überwunden hatte, lief ich zu ihm und schlug ihm auf den Rücken. Immer wieder. Heute weiß ich, dass das keinen Sinn hatte, aber damals war es das einzige, was mir einfiel.
Hendrik brach schließlich zusammen und nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, rührte er sich nicht mehr. Ich fing an zu schreien und hörte erst auf, als ich sah, wie ein Wurm aus seinem Mund kroch. Dann fiel ich in Ohnmacht.
Natürlich wollte nach diesem Vorfall erst recht keiner mehr mit mir befreundet sein. Den Spitznamen „Wurmfresser“ trug ich aber Gott sei Dank nicht lang. Carsten wurde hinter der Schule beim Onanieren erwischt und daran wollte man sich wohl lieber erinnern.