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Der Außenseiter

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29.11.2007
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Der Außenseiter

Ich betrat das Kopfsteinpflaster auf dem Schulhof; es war noch etwas Zeit, bis der Unterricht begann. Wie jeden Morgen stellte ich mich zu meiner Clique, die meisten waren schon da. Sie schienen sich gerade über jemanden zu unterhalten. „Hey, Kevin, sieh mal, der Idiot kommt; pünktlich wie immer“, rief mir Lars zu, als er mein Eintreffen bemerkte. Ich wandte mich um und sah „den Idioten“ gerade durch die große Eingangstür verschwinden. Ich sah auf die Uhr. Auf die Minute pünktlich, wie jeden Morgen. Der Idiot, wie wir ihn alle nur nannten, war zwar in derselben Klasse wie wir, aber er sprach mit niemandem. Es wollte auch keiner mit ihm reden, er war anders, er verhielt sich seltsam, er war ein Idiot. Manchmal sah man ihn in einer Freistunde einfach ziellos durchs Schulgebäude laufen, anscheinend hat der nichts Besseres zu tun.
„Der läuft doch tatsächlich noch mit diesem Kinder-Schulranzen rum“, spottete jemand. „Wahrscheinlich kann er sich keinen neuen leisten“, erwiderte Lars hämisch.
Die Pausenglocke schellte und wir begaben uns langsam ins Gebäude. Physik stand in der ersten Stunde auf dem Plan. Während wir uns in die letzte Reihe lümmelten – bloß weit weg vom Lehrer – setzte sich der Idiot natürlich direkt vors Pult. Auf seinem Tisch herrschte immer genaueste Ordnung, er schrieb alles mit, was der Lehrer so von sich gab. So ein Streber, ein Lehrerliebling. Es war noch nie vorgekommen, dass er seine Hausaufgaben vergessen hatte. Die anderen, die um mich herum saßen, dachten anscheinend auch gerade darüber nach, denn einer von ihnen flüsterte: „Lasst uns ihm irgendwann mal sein Heft mit den Aufgaben wegnehmen, oder noch besser gleich den ganzen albernen Ranzen.“ Wir kicherten schadenfroh.
Der Lehrer ermahnte uns in dieser Stunde ein paar Mal, das machte mir nichts aus. Im Gegenteil, in gewisser Weise freute ich mich darüber, was konnte der mir schon anhaben? Stets drehten sich alle herum und sahen mich mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken an. Ich war auf dem richtigen Weg. Nur der Idiot drehte sich nicht um; er verachtete mich wahrscheinlich. Bei dem Gedanken grinste ich innerlich. Soll er mich verachten! Umso besser, wer will schon mit so jemandem Freundschaft schließen? Das wäre ja noch schöner. Da könnte ich mich ja gleich selbst mit an die Ecke stellen, an der er sich jeden Morgen auf dem Schulhof mutterseelenallein aufhält.
Die Physikstunde war langweilig. Es handelte sich um irgendwelche Objekte im freien Fall, soviel hatte ich mitbekommen. Aber die Formeln interessierten mich nicht. Das alles interessierte mich nicht. Wenn ich einmal aus einer solchen Höhe fallen sollte, bin ich tot, da hilft es mir nicht zu wissen, wann ich unten aufschlage.
Nach der Stunde lauerten wir dem Idioten auf. Er verließ den Raum als letzter, den Rücken wie immer leicht gebeugt, das hat er eben von dem Schulranzen. Und wie immer war sein Blick auch völlig ausdruckslos. Er sah durch uns durch, als wären wir Luft. Er hielt sich wohl für etwas Besseres. Wir bildeten einen Kreis um ihn, sodass er nicht fortlaufen konnte. „Na, wohin willst du denn? Schon zur nächsten Stunde? Kannst wohl gar nicht genug kriegen? Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!“ Lars redete auf ihn ein. „Willst du Ärger mit uns, oder was?“, schloss ich mich an. Die anderen schleuderten ihm einige Beleidigungen entgegen. Er sah weiterhin starr durch uns hindurch. Doch ich wusste, dass die Worte nur zum Schein an ihm abprallten. Wenn ich mich konzentrierte, schien es mir, als könnte ich in ihn hineinsehen; und während sein Äußeres unverändert blieb, zuckte irgendetwas in ihm bei jedem Wort zusammen. „Sollen wir dir vielleicht mal deinen Ranzen wegnehmen?“ Wir lachten. Er sah von einem zum anderen ohne eine Miene zu verziehen. Nahm dieser Idiot uns etwa nicht ernst? Mit den Worten „Wenn du unbedingt darauf bestehst…“ riss ich ihm den Schulranzen von den Schultern und warf ihn einem der anderen zu. Jetzt kam Leben in die mickrige Gestalt; als wäre dieser Ranzen so wichtig, versuchte er, ihn meinem Kameraden wieder zu entreißen. Der jedoch warf ihn zu Lars und dieser wieder zu mir. So ging das einige Zeit weiter, unser Opfer rannte verzweifelt im Kreis. Wir lachten ihn dabei aus. Irgendwann gingen wir dazu über, den Ranzen zu öffnen und ein paar seiner ach so heiligen Utensilien und Schulhefte auf dem Gang zu verteilen. Er wurde zunehmend panischer.
Der Lehrer verließ gerade den Raum. „Was soll das denn? Lasst das sofort sein.“ Immer noch lachend entfernten wir uns, während dieser Gestörte, dieser Außenseiter auf dem Boden herumkroch und seine Hefte wieder zusammenkramte.

Der restliche Unterricht war langweilig. Ich hörte nicht zu, ich dachte nach; überlegte mir Schandtaten, mit denen ich den Idioten quälen könnte. Mir fielen einige Dinge ein. Ich sah dabei im Geiste auch das anerkennende Grinsen der Kameraden, den erstaunten Respekt der umstehenden Mitschüler und den am Boden liegenden Idioten. In manchen Vorstellungen weinte er auch einfach nur – ich hatte ihn noch nie weinen gesehen, und doch sah sein Gesicht oft so aus, als hätte er sich gerade die Augen aus dem Kopf geheult –, in anderen Vorstellungen lag er zusammengeschlagen auf dem Boden und blutete. Es schürte meinen Hass auf diesen Typen, ohne dass ich hätte genau sagen können, warum ich ihn so hasste; einfach weil es ihn gab und weil er so war, wie er war: ein Idiot!

Das Klingeln nach der letzten Schulstunde erlöste mich schließlich. Ausgelassen und voller Tatendrang verließ ich den Raum; meine Augen suchten den Idioten, konnten ihn jedoch nirgends entdecken. Er musste sich früh aus dem Staub gemacht haben, obwohl er doch sonst immer länger im Klassenraum zurückblieb. Ich überlegte, ob er vielleicht geahnt hätte, dass ich bereit wäre, ihm Weiteres anzutun; aber das war absurd, schließlich konnte er keine Gedanken lesen.
Der Schulhof war recht voll und in dem Gedrängel stieß ich versehentlich mit irgendjemandem zusammen. Obwohl er recht groß und breit war, hatte ich ihn nicht bemerkt, wahrscheinlich war ich zu sehr in Gedanken gewesen. „Eh, was willst du?!? Du hast mich angerempelt!“, provozierte mein Gegenüber, der aussah wie ein Schlägertyp aus dem Bilderbuch. „Entschuldigung… es war ein Versehen… darf ich mal durch?“ Ich versuchte, unter diesen Ausflüchten das Gelände recht schnell zu verlassen. Doch der Riese hatte anderes vor: „Du wirst nirgendwo hingehen! Niemand legt sich ungestraft mit mir an!“ Ehe ich mich versah hatte er mich, ich weiß nicht wie, in die Mitte des Schulhofs gedrängt. Ich sah nach links und rechts, ob sich irgendwo eine Möglichkeit zur Flucht auftat. Doch es hatte sich bereits ein Kreis um uns gebildet. In sicherem Abstand standen die Schüler so dicht beieinander, dass nirgendwo eine Lücke blieb. Alle gafften, was nun geschehen würde. Ich sah auch einige Leute aus meiner Clique in der Menge; als mein Blick sie streifte, verschwanden sie schnell weiter in den Hintergrund. Verräter!, schoss mir durch den Kopf. Warum unternahm denn keiner der Mitschüler etwas? Sie standen einfach nur rum und starrten gierig. Mein Schicksal konnte ihnen doch nicht egal sein!
Ich wandte meinen Blick wieder meinem Angreifer zu, den meine Verzweiflung zu amüsieren schien. Er grinste fies. Etwas Silbernes blitzte in seiner rechten Hand auf. Ich hörte rennende Schritte und wollte nichts als fliehen, rennen, weg von hier. Das Geräusch der Schritte brannte sich in meinen Kopf, wurde lauter. In Gedanken rannte ich, hinter mir war Leere und auch vor mir war nichts. Ich kam nirgendwo her und rannte nirgendwo hin, aber ich rannte, das war das Wichtigste. In der Realität jedoch standen meine Füße fest auf dem Boden, rührten sich keinen Millimeter. Wie würde ich vor der versammelten Schule dastehen, wenn ich floh? Wie ein Feigling. Ich verwarf den Gedanken, es war mir egal, ich wollte rennen; ich konnte nicht. Es ging nicht. Ich hatte schon in etlichen Erzählungen gelesen, wie jemand beschrieb, sich wie gelähmt zu fühlen; ich hielt das immer für übertrieben. Jetzt weiß ich es besser.
Das Grinsen meines Gegners wurde breiter, während er sich mir nun langsam näherte, den Oberkörper leicht vornüber gebeugt. Mein Herz schlug schneller, das Klopfen vermischte sich mit den Schritten, die ich immer noch, jetzt jedoch nur am Rande, wahrnahm. Meine Augen starrten auf das Messer in der Hand meines Peinigers.
Es tat einen dumpfen Schlag und mein Gegenüber ging in die Knie; kurz darauf sackte er bewusstlos zusammen. Das Geschehen kam mir vor wie in Zeitlupe: Mein Feind kippte langsam nach vor, die Arme erschlafften, die Augen waren geschlossen – ich wusste nicht, wann er sie geschlossen hatte –, der Oberkörper fiel auf den Boden und blieb liegen. Es kam mir vor, als würden Minuten verstreichen, dabei waren es wahrscheinlich nur wenige Sekunden.
Als hätte man eine Glasglocke über mir angehoben drangen nun plötzlich die Stimmen der umstehenden Schüler an mein Ohr, die sich aufgeregt unterhielten. Ich hatte sie vorher nicht wahrgenommen, hatte nur die Schritte und mein pochendes Herz gehört. Die Schritte, die taten, was ich nicht konnte, die rannten, allerdings aus einem anderen Grund, als ich es vorgehabt hatte. Ich drehte meinen Kopf leicht nach rechts, wo mein Retter gerade seinen erhobenen Arm langsam sinken ließ, die Hand immer noch zur Faust geballt. Den unhandlichen Kinder-Schulranzen hatte er einige Meter weiter zurückgelassen und hob ihn nun auf. Dabei hob er den Kopf und sah in die Menge; in sein Gesicht trat wieder die übliche Ausdruckslosigkeit. Er wandte Kurz den Kopf, nickte mir zu und entfernte sich dann, den Blick starr geradeaus gerichtet.

Am nächsten Morgen betrat ich das gewohnte Kopfsteinpflaster auf dem Schulhof. Es war nass, in der Nacht hatte es geregnet. Es war noch etwas Zeit, bis der Unterricht begann. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie einige aus meiner Clique mir zuwinkten; ich drehte mich nicht zu ihnen herum. Ich steuerte eine bestimmte Ecke auf dem Hof an, wo Leon bereits gedankenversunken herumstand. Als ich kam, sah er auf und blickte mich an. Seine Mundwinkel deuteten ein Lächeln an und ich bemerkte, wie auch ich plötzlich zu lächeln begann; ich konnte es nicht aufhalten und als ich schließlich nachgab, breitete es sich nicht nur über mein Gesicht, sondern auch über meine Gedanken aus. Leon blickte wieder in die Ferne, mit dem gleichen Gesichtsausdruck wie immer, doch für mich erschien er nicht mehr ausdruckslos.
Ich wandte den Blick in dieselbe Richtung, der aufgehenden Sonne entgegen, die unbekümmert ihre Bahnen zog, seit Jahrtausenden, die es nicht kümmert, was für Wesen die Welt unter ihr bevölkern und wie sie sich verhalten. Die Silhouetten der Schüler auf dem Hof zeichneten sich dunkel vor ihr ab. Sie kümmerten mich nicht. Sie waren Außenseiter.

 

Hallo Björn,

und herzlich willkommen hier.
Ich finde dein Debüt durchwachsen, sowohl in Stil, Fehlerdichte als auch Inhalt.
Der ist natürlich von pädagogisch wertvoller und politisch korrekter Moral. Es ist vom aufbau her eine typische Kontrastgeschichte mit Lernerfolg.
Die Form des Mobbings frisch zu zeigen, ist natürlich immer problematisch, da sie eben einerseits eben oft nach gleichem Muster abläuft, genau wie die Vorurteile, die gegen den Idioten herrschen (gäbe es da nicht den berühmten russischen Roman, hätte ich "Der Idiot" als Titel für die Geschichte ja auch glatt vorgezogen), andererseits liegt darin aber eben auch das Problem, dass es so schon so häufig beschrieben wurde, die Geschichte entsprechend ein bisschen vorhersehbar ist.
Die Vergangenheit als Zeitform zu wählen birgt oft das Risiko, etwas nacherzählungsmäßig zu schreiben, dem auszuweichen ist die für mein Gefühl auch nicht ganz gelungen.
Das wird im zweiten Teil der Geschichte besser, nicht nur, weil in der Bedrohung eine größere Dynamik liegt, sondern weil du über die Lähmung ein griffiges Bildelement hast, das du konsequent durchziehst. Ebenfalls sehr gelungen finde ich hernach die Nennung des richtigen Namens, den man auf Grund der Situationsschilderung sofort dem Idioten zuordnen kann.
Fehler wie

Wie jeden morgen stellte ich mich zu meiner Clique
müssen aber wirklich nicht sein. ;)

Lieben Gruß
sim

 

Hallo sim,
erstmal vielen Dank dafür, dass du dir Zeit genommen hast, meine Geschichte zu kommentieren, die, wie man höchstwahrscheinlich recht einfach erkennen konnte, meine erste Kurzgeschichte war.
Im Nachhinein, wo du es erwähnst, werde ich mir auch bewusst, dass dieses Thema fast schon ein bisschen zu oft durchgekaut worden ist und es natürlich eine etwas anspruchsvolle Aufgabe ist, sich mit diesem zu befassen.

Viele Grüße,
Björn

 

Hallo Björn,

Ja, das Thema ist in dieser herkömmlichen Form wohl mitlerweile durch. Stilistisch ist deine erste Kurzgeschichte in so fern gut gelungen, als dass die Sprache dem Erzähler angemessen ist. Machmal fällst du allerdings ein wenig aus der Rolle, zum Beispiel hier:

was konnte der mir schon anhaben? Dafür richteten sich immer die Blicke der Mitschüler auf mich; ich konnte zeigen, wie wenig mich der Lehrer kümmerte. Nur der Idiot drehte sich nicht um; er verachtete mich wahrscheinlich. Bei dem Gedanken grinste ich innerlich. Soll er mich verachten! Umso besser, wer will schon mit so jemandem Freundschaft schließen? Das wäre ja noch schöner. Es käme einer Exkommunikation gleich.
Der erste fett hervorgehobene Teil scheint mir ein wenig zu direkt die Beweggründe des Erzählers offen zu legen. Es kommt rüber, als analysiere er sein eigenes Verhalten sehr bewusst. Es ist klar, dass du als Autor dem Leser damit einen gewissen Einblick verschaffen willst, aber so ist das zu plump.
Das mit der Exkommunikation wirkt für den Erzähler, der mir als recht einfacher Geselle erschien, ein bisschen hoch gestochen.

Noch viel Spaß beim Schreiben und auf kg.de.


Gruß,
Abdul

 

Hallo Abdul,
auch dir vielen Dank für die Zeit, die du dir genommen hast, und für die Kritik. Ich sehe es ein und habe die fraglichen Passagen mal verändert.

Viele Grüße,
Björn

 

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