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Der Bahnwärter
Der Wecker tickte unerhört laut, fand Hans. Von irgendwoher kam ein leichtes Zischen und Pfeifen. Wahrscheinlich ein Heizkörper, der entlüftet werden wollte. Es war spät in der Nacht, die im Dunkel fluoreszierenden Zeiger seines Weckers zeigten ihm an, das es 02:45 Uhr sei, und er fand keine Ruhe. Janet, seine Frau, lag neben ihm schlummerte selig vor sich hin und lächelte im Schlaf.
Er wälzte sich wieder herum und schloss die Augen.
Tausende Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Der Umzug, das alles was sie an Stress überstanden hatten, und das, was in ihrer alten Stadtwohnung noch abgeholt werden musste. Er dachte an das Provisorium, in dem sie noch für die nächsten Tage leben mussten, bis alles soweit eingeräumt und eingerichtet sein würde.
An das was noch auf sie zu kommen würde, wie er es schaffen sollte den verwilderten Garten in einen ansehnlichen Zustand zu bringen. Eher war an eine Einweihungsfete mit ihren Freunden und Bekannten nicht zu denken. Wenigstens das Haus hatte er an etlichen Wochenenden zusammen mit seinem Kumpel Rainer soweit renoviert. Zum Glück war es doch nicht so renovierungsbedürftig gewesen, wie es bei der ersten Besichtigung den Anschein gehabt hatte.
Wieder drehte er sich um. Er kam nicht zur Ruhe.
Irgendwann mußte auch das Dach neu gemacht werden. Und er konnte es auch nicht fassen, wie so ein schönes Haus so lange Zeit leer gestanden hatte. Der Vorbesitzer war ein älterer Herr, der zwar das Haus besaß und hier auch immer wieder nach dem Rechten sah, aber in der Stadt gewohnt hatte. Vor ein paar Jahren hatte er es vom Bundesvermögensamt über eine Ausschreibung erworben. Er hatte es vermieten wollen, aber niemanden gefunden. Nun hatte er es, der Mühe überdrüssig, in der Zeitung inseriert und schließlich verkauft. Von dem vergleichsweise sehr günstigen Kaufpreis konnte sich der Alte nun noch ein paar schöne Tage machen.
Da hatten sie wirklich einen Glückstreffer gelandet. Aber warum wollte niemand dieses hübsche Häuschen haben? Es gab doch so viele Eisenbahnfreaks, die sich nach einem alten Bahnwärterhaus, zu dem auch mal ein kleiner Bahnhof samt Verladeschuppen nebst Rangiergleis gehörte, eigentlich doch die Finger danach lecken müssten. Die Strecke war schon seit 15 Jahren stillgelegt worden. Zumindest fuhren bis zu diesem Zeitpunkt noch Bedarfsgüterzüge darauf, wie ihm der Vorbesitzer erklärt hatte. Der Personenverkehr war schon wesentlich eher eingestellt worden. Die Gleise waren noch nicht entfernt worden, und noch überall hing der Geist längst vergangener Eisenbahnromantik in der Luft.
Und dann spürte er, das er zu Toilette musste.
Ärgerlich riss er die Decke weg und wälzte sich vorsichtig und leise aus dem Bett. Er schlich barfuss über die alten Holzdielen und achtete darauf nicht diejenigen zu betreten, welche knarrten. Erst im Flur machte er sich Licht und schlüpfte in seine Hausschuhe.
Als er fertig war wusch er sich die Hände und überlegte dabei, ob er nicht noch im Garten eine rauchen sollte. Er stieg vorsichtig die knarrende Holztreppe hinunter und überlegte sich dabei, ob er nicht vielleicht auch noch eine Tasse von Janets selbstgemischten "Gute Nacht-Kräutertee" trinken sollte.
Hans ging in die Küche und füllte Wasser in den schnurlosen Wasserkocher. Während er wartete, bis das Wasser kochte, hörte er in die Stille des Hauses. Ab und an knackte es irgendwo. Die Wände waren aus Ziegeln gemauert, die Decken allerdings bestanden aus Holz, das fortwährend arbeitete, sich verzog, sich entspannte, sich ausdehnte und eben dabei diese typischen Geräusche von sich gab.
Die Küchenuhr zeigte kurz vor drei Uhr morgens.
Als das Wasser endlich siedete, brühte er sich eine Tasse auf und ging durch die Hintertür aus der Küche hinaus in den Garten, setzte sich an den wackligen Holztisch und zündete sich eine Zigarette an. Er saß auf dem alten Bahnsteig, der noch mit Kopfstein gepflastert war. Neben ihm stand ein gusseiserner, mit allerlei Schnörkel verzierte Laternenmast, der allerdings nicht mehr funktionierte. Auch die Bahnhofsuhr fehlte. Vielleicht würde er die Laterne ja wieder zum Laufen bringen. Und so eine Uhr musste bei Ebay zu finden sein.
Aus den Fugen des Pflasters wuchs Zentimeter hoch das Unkraut. Auf dem Gleis sah es noch schlimmer aus. Die Schienenoberkanten waren braun vom Rost und nicht glänzend. Hier war schon lange kein Zug mehr gefahren. Vor 20 oder mehr Jahren hatten hier noch Schienenbusse vom Typ VT 98 gehalten. Der Alte hatte ihm zum Haustürschlüssel auch noch in altes Fotoalbum überlassen, voller Aufnahmen des Hauses aus den Zeiten, als hier noch Bahnbetrieb herrschte. Er hatte das Album seinerzeit noch im Haus auf dem Dachboden gefunden.
Der Himmel war klar. Nicht eine Wolke war zu sehen.
Oben am Firmament leuchteten die Sterne, in einer Klarheit wie er sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Hier gab es keine Dunstglocke und Straßenbeleuchtung, die den Blick trüben konnte. Das kleine 300-Seelen - Dorf, zu dem der Bahnhof einmal gehörte, lag etwa einen Kilometer entfernt im Tal. Um diese Zeit war dort die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet.
Auf der anderen Seite erhob sich ein langgezogener, bewaldeter Bergrücken. Dort mündete die eingleisige Bahnstrecke in einen nun im fahlen Schein gerade noch erkennbaren Tunneleingang.
Hans lehnte sich ganz weit nach hinten und blickte nach oben. Er suchte und fand den kleinen Wagen, den Polarstern und die Venus neben der dünnen Mondsichel. War das ein ab- oder ein zunehmender Mond?
Während er so hinauf blickte überkam ihm ein gewisses Gefühl, er fühlte sich plötzlich klein und unbedeutend angesichts dieser gewaltigen Schöpfung, die er dort oben erblicken konnte. Da gab es Milliarden von Sternen, und noch mal so viele Galaxien... Hin und wieder zischte etwas kleines, helles durch sein Blickfeld, eine Sternschnuppe vielleicht, oder ein Satellit.
Irgendwo im Gebüsch zirpte eine Grille. Vielleicht waren es auch zwei. Ein wenig erinnerte es ihn an den letzten Sommerurlaub an der Ostsee. Und was es da für Mücken gegeben hatte. Mutantenmücken hatte er sie genannt, während Janet ihm Zwiebelhälften auf die juckenden Stiche gelegt hatte.
Irgendwo im Dorf begann plötzlich ein Hund zu bellen.
Ein Schäferhund, vielleicht, überlegte Hans. So etwas konnte er sich auch noch vorstellen. Vielleicht keinen Schäferhund, aber dafür einen Golden Retriever oder Berner Sennen Hund. Janet mochte hingegen eher Mischlingshunde.
Ein zweiter Hund stimmte sich mit in das Gebell ein, und dann noch ein dritter, ein vierter. Was war denn da drüben im Dorf los?
Und dann hörte er noch ein Geräusch.
Es kam von den Gleisen.
Hans stutzte, stand auf und trat an die Bahnsteigkante, lauschte.
Es kam von den rostigen, alten Schienen.
Ein leises Summen.
Er kannte dieses Geräusch nur zu gut. Als er früher als Kind mit seinem Freund Jürgen an einer in der Nähe ihres Heimatortes gelegenen Bahnlinie gespielt hatte, immer in der Furcht von der Bahnpolizei aufgegriffen und nach Hause gebracht zu werden, wie es ihnen einmal tatsächlich passiert war. Es hatte großen Ärger und Stubenarrest gegeben, doch verbotene Spiele sind nun einmal die interessantesten.
Das konnte hier aber nicht sein. Die Strecke ist doch stillgelegt ! Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken.
Sein Blick wanderte in den aus Granitsteinen gemauerten Einschnitt im Berghang, in die im Licht der Sterne und des Mondes dunkel gähnende Tunnelöffnung.
Gelbliches, fahles Licht leuchtete im Tunnel auf. Hans blickte ungläubig dorthin, rieb sich die Augen.
Und dann zerriss der von den Tunnelwänden wiederhallende, hohle und langgezogene Pfiff einer Dampflok die Stille der Nacht.
Etwas langes, schwarzes, von einer Rauchwolke eingehülltes Etwas mit einem trüben Dreipunkt – Spitzenlicht am Anfang schoss aus der Tunnelröhre.
Ein eisiger Windstoß kam auf. Die Hunde bellten wie verrückt.
Hans klappte der Unterkiefer runter.
Eine Dampflok kam in voller Fahrt aus dem Tunnel gebraust. Das singende Geräusch aus den Schienen wurde immer lauter und heftiger.
Es wurde immer kälter. Hans fröstelte.
Immer höher türmte sich das schwarze Ungetüm mit den großen Windleitblechen vor ihm aus, es kam immer näher.
Aus dem Schornstein schoss eine dicke, brodelnde, im fahlen Licht dunkel reflektierende Rauchsäule, die schier endlos nach hinten gezogen wurde.
Hans schritt taumelnd rückwärts, bis er den rauen Verputz seiner Hauswand im Rücken spürte. Er presste sich dicht gegen die kühle Wand, zog die Füße so dicht ein wie es nur ging.
Die Lok ratterte an ihm vorüber. Die Lampen vorn hatten Verdunkelungsschlitze, der dünne Lichtkegel huschte über den unkrautüberwucherten Bahnsteig.
Der Boden unter seinen Füßen bebte und zitterte, die Treibräder mahlten knirschend über den Schienenstahl. Aus dem Küchenfenster fiel das Licht auf das dampfende Ungetüm.
Hans spürte plötzlich die gewaltige Hitzeabstrahlung des Kessels, sah unter der Lok glühende Asche herausregnen, der Boden unter seinen Füßen bebte und vibrierte, als die Tonnenschwere Lok direkt an ihm vorbei fuhr. Die rot lackierten wuchtigen, in schnellem Schlag hin und her wuchtenden Treibstangen glänzten vor Nässe und Schmieröl. Das Auspuffschlagen der Zylinder dröhnte wie Donnerhall. Hans zählte fünf Treibräder, die von dem Gestänge angetrieben wurden.
Er sah ein mattes Licht im Führerstand.
Zwei Gestalten waren darin, einer davon lehnte aus dem Seitenfenster und blickte nach vorn, ohne Hans zu beachten, der tosende Fahrtwind schien ihm fast die lederne Schirmmütze vom Kopf zu reißen, sein Gesicht war geschwärzt vom Ruß. Kaum das Hans dies registrierte, war er auch schon vorüber.
Wieder dröhnte das laute Heulen der Pfeife, aus der weißer Dampf schoss und über das Dach des Führerstandes wehte.
Dann folgte in rasendem Tempo der Kohlentender, der wie eine große Badewanne geformt war. Ein stilisierter Totenkopf mit der Aufschrift “ Kein Trinkwasser!” prangte groß darauf. Oben auf dem Tender türmte sich ein hoher Berg Kohlen auf. Wie ein riesiger Wurm schoss der Zug an Hans vorbei.
Es folgten die Wagen. Dampf hüllte sie ein. Zwischen den Dampfschwaden konnte er erkennen, das es Güterwaggons waren. Immer mehr Wagen fegten an ihm entlang, geschlossene Güterwagen, Flache Güterwagen mit Kisten darauf, eine Reihe von Kesselwagen. Unter ihren Rädern bebte der Boden, das Poltern ging ihm durch Mark und Bein.
Dann war der Zug vorbei. Hans sah die roten Schlusslichter am letzten Waggon in der Ferne verschwinden. Das laute Singen und Summen der Gleise wurde immer leiser und verstummte schließlich in der Ferne.
Noch immer wehten Dampfschwaden über den Bahnsteig, und der Schwefelgestank war atemberaubend.
Hans Kopf dröhnte. Was war das für ein Zug gewesen? Wie laut es gewesen war. Bestimmt war Janet auch davon wach geworden. Doch warum kam sie nicht hinunter, erst recht wenn sie bemerkte, das er nicht mehr im Bett lag?
Die Hunde hörten auf zu bellen. Dann war Stille.
Nur noch das leise Zirpen der Grille war zu hören.
Hans ging in das Haus und lauschte. Doch alles war still. Wenig später fand er auch seine Frau schlafend im Bett. Wieso hat sie das nicht gehört?
Er fühlte sich wie erschlagen. Wie in einem bösen Traum, ein falscher Film. Wenn sie noch schläft, dann muss es nur ein Traum sein. Das war doch höllisch laut gewesen, allein schon diese Pfeife.
Das hatte er doch irgendwie alles nur geträumt. Erschöpft legte er sich dazu und fand wenig später tatsächlich eine bequeme Körperhaltung, in der er schließlich einschlief.
Janet hatte beim Frühstück gelacht, als ihr Hans von dem Zug erzählt hatte.
"Das hast du wohl nur geträumt!" sagte sie lächelnd, eine Tasse Tee in der Hand. Hans rührte in seinem Morgenkaffee. So richtig glaubte er es ja auch nicht mehr. Die Wildnis des Gartens schien unberührt, die Sonne schien, und Hans sah die beinahe 2m hohe Riesendistel, die neben dem Gleis wuchs. Die störte ihn von allem Unkraut am meisten. Ein Zug hätte das Ungetüm wohl mitgerissen, so dicht wie es auch an den Schienen steht, oder etwa nicht? Gedankenverloren versenkte er noch ein Stück Würfelzucker in der Tasse. Er gähnte müde.
Sie breitete die Tageszeitung auf dem Esstisch aus und nahm einen Schluck aus der Teetasse. "Dann war es vielleicht ein Museumszug. Es gibt doch so Vereine, die mit restaurierten Zügen durch die Gegend fahren!"
Hans erhob den Kopf.
"Nachts um drei? Ich bitte dich!" Er verzog das Gesicht. Er würde ja auch gern an ihre Theorie glauben, aber diese Uhrzeit war zu abwegig. War die Strecke überhaupt noch in einem befahrbaren Zustand? Die Mechanik der Weiche, die vom Durchgangsgleis auf das kurze Verladegleis vor dem Schuppen abzweigte, war durchgerostet, der Stellhebel ließ sich ohne Widerstand hin und her bewegen
Man hätte es ihnen auch sicher gesagt, wenn die Strecke von irgendwelchen Eisenbahnfreunden mit ihren liebevoll restaurierten Dampfloks benutzt würde. Aber die fahren nun weiß Gott nicht nachts damit herum.
Hans trank den lau gewordenen Kaffeebecher leer und stand vom Tisch auf. Es gab noch eine Menge zu tun.
In der nächsten Nacht trieb Hans wieder einmal der Harndrang aus dem Bett. Diesmal hatte er aber schon besser geschlafen, nachdem sie nun die letzten Sachen an ihrem Platz verstaut hatten und das Haus nun etwas mehr gemütlich und einladend wirkte. Am Wochenende würde er nun auch zusammen mit seinem Kumpel Rainer dem Garten zu Leibe rücken.
Er stand nun wieder einmal vor dem Waschbecken und wartete, das heißes Wasser aus dem Hahn strömen würde. Dabei fiel ihm ein, das er dringend Heizöl bestellen musste, jetzt im Sommer kam man noch billiger weg, bevor wie jedes Jahr im Herbst die Preise anzogen. Das waren neue Sorgen für ihn, in ihrer alten Wohnung kam das Heißwasser aus dem Fernwärmenetz zu ihnen ins Haus.
Und dann, in Gedanken versunken, plötzlich ein lauter, hohler Pfiff.
Hans erstarrte.
Ein lauter werdendes Rattern und Stampfen.
Wieder ein Pfiff.
Gleißendes Licht schoss durch das Fenster, blitzte auf und verging wieder.
Neblige Dampfschwaden krochen wie Finger durch das gekippte Fenster, es stank nach Schwefel.
Rollen von schweren Rädern auf Schienen. Es schnaufte und stampfte direkt unterm Fenster. Der Fußboden bebte unter dem Gewicht der Lokomotive, die Haarspraydosen fielen vom Regal, ihre Zahnbürsten klapperten in ihren Bechern.
Hans riss das Fenster mit einem Ruck auf und lehnte sich gegen das Fensterbrett. Und sah dicht unter dem Fenstersims das schwarze Dach des Führerstandes der Dampflok vorüber rasen. Dann musste er schnell das Fenster schließen, als die Rauchsäule ihm durch das Gesicht strich. Er würgte und hustete, während unten der Zug an ihrem Haus entlang raste.
Das Rattern und Rollen wurde schwächer, immer leiser.
Im Badezimmer stank es nach kaltem Rauch. Nach warmen Schmierfett, heißem Metall, nach Schwefel. Ein schwerer, markanter Geruch.
Hans lies einen verspäteten, dünnen Schrei los. Er taumelte gegen die Duschkabine und stieß mit dem Kopf gegen die Plexiglaswand.
Die kleine Digitaluhr des wasserdichten Radios in der Duschkabine zeigte 3 Uhr 05.
Die Fußgängerzone war voll Menschen.
Es hatte Streit am Morgen gegeben. Hans musste sich ablenken.
Janets Mutter war gestürzt und hatte sich das Bein gebrochen. Am Morgen hatte ihre Schwester angerufen. Hans fühlte sich furchtbar und elend. Der Schlafmangel saß ihm in den Knochen, und dieser neuerliche Alptraum machte ihn konfus. Wie kann man zweimal von der selben Sache träumen? Zumal er nie großartig mit Eisenbahnen zu tun gehabt hatte.
Er hörte kaum hin, als Janet ihm aufgeregt von der Sache mit ihrer Mutter berichtete. Seine Schwiegermutter war wie diese Dampflok. Mindestens jedenfalls genauso schwer.
Hans konnte sie nicht ausstehen, und nach der Schenkung des nicht gerade kleinen Geldbetrages zum Hauskauf spielte diese arrogante Ziege sich nun noch mehr auf als sie es ohnehin schon immer getan hatte. Überhaupt hatte ihre Tochter etwas besseres verdient als wie Hans, der kleine Angestellte bei einer Bank. Er war froh, Begegnungen mit ihr bis auf gewisse Unvermeidbarkeiten zu Weihnachten und anderen Festtagen vermeiden zu können. Seine Schwiegermutter hatte ihn auch noch nie leiden können und ihn das spüren lassen. Ihre großkotzige Art, aus besserem Hause, er nur kleiner Pöbel. Am liebsten hätte sie ihrer Tochter die Hochzeit ganz verboten. Und das Geld fürs Haus gab es auch nur, weil sie es nicht mehr ertragen konnte, ihre Tochter in einer Mietwohnung leben zu sehen, weil er, Hans, ihr nichts besseres bieten konnte.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ fauchte sie ihn wütend aus seinen Gedanken.
Er blickte sie fragend an, und da machte sie auf dem Absatz kehrt und widmete sich irgendwelcher Hausarbeit.
Nun schlenderte Hans, ein Softeis in der Hand, durch die Einkaufstrasse und blieb ab und an vor einem Schaufenster stehen. Es war warm, obwohl es noch früher Vormittag war.
Er musste sich auf andere Gedanken bringen. Wie konnte er die Sache wieder Glattbügeln? Dem alten Drachen Mitgefühl heucheln, eventuell einen Krankenbesuch abstatten, mal alle Ärgernisse für diesen Moment vergessen?
Janet war in Steitfragen unkompliziert. Wenn sie sich aufregte, gab es einen lauten Knall, eins, zwei Stunden Funkstille, und dann wollte sie wieder Versöhnung.
Um diese morgendliche Tageszeit waren nicht viele Menschen unterwegs, überwiegend Rentner oder Hausfrauen mit Kleinkindern.
Dann sah er jenen Spielzeugladen. Hans kannte ihn zwar, war aber noch nie drinnen gewesen.
Im Schaufenster waren Modellbahnen ausgestellt. Hans blieb davor stehen und schleckte an seinem Eis, betrachtete die ausgestellten Loks und Wagen und war entsetzt über die hohen Preise, die dafür verlangt wurden.
Und dann sah er sie. Es war wie ein Deja ´vu. Das war sie. Es was eindeutig. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Er erkannte ein bestimmtes Exemplar im Schaufenster als exakt die Lok wieder, die ihn seit nunmehr zwei Tagen nicht mehr aus dem Kopf ging.
Da waren die fünf Treibräder, der lange Kesselaufbau und die langgezogenen Windbleche an den Seiten, der nackt wirkende Kessel ohne jede Verkleidung. Sogar der stilisierte Totenkopf “Kein Trinkwasser!” auf dem Tender, der wie eine überdimensionale Badewanne aussah, fehlte nicht. Ein Schild wies die Lok als eine “Baureihe 52” im Maßstab HO aus, die stolze 289 Euro kosten sollte.
Hans betrat den Laden. Die Türglocke bimmelte.
Der Verkäufer, ein schlanker, kränklich aussehender Mann, begrüßte ihn.
Der Laden war klein, die Regale mit Eisenbahnzubehör und Modellbaukästen vollgestopft. Hans blickte ratlos auf die Vielfalt. So recht wusste er auch nicht was er jetzt tun oder sagen sollte. Die Frage brannte ihm auf der Zunge, aber wie sollte er sie ansprechen ohne das man ihn für verrückt halten würde? Die Unsicherheit, die Hans ausstrahlte musste der Verkäufer bemerkt haben. Er kam auch schon um den Tresen herum auf ihn zu.
"Kann ich ihnen helfen?" Er hustete. Seine Augen glänzten Fiebrig.
Hans fand, das er ins Bett gehörte, und nicht in den Laden, um die Kundschaft anzustecken.
"Ja. Ich hätte da eine Frage: Gibt es hier in der Nähe einen Verein, die alte Züge restaurieren und damit fahren?" Hans war froh, als er das letzte Wort dieser Frage über die Lippen gebracht hatte. Das war doch alles ein Alptraum, oder?
Der Verkäufer schüttelte den Kopf.
"Nicht das ich wüsste. Es gibt zwar einen, die ein kleines Museum haben, auch eine Lok, eine Baureihe 01, schönes Stück, aber die können sich die vorgeschriebene Hauptuntersuchung, also den TÜV dafür, nicht leisten, und deswegen steht sich die Lok nur bei denen in der Halle die Räder unrund!” Er grinste.
"Schade" Hans bekam Angst. Was, wenn der Zug wieder kommt? Und er keinem Eisenbahnfreunde -Verein gehörte? Oder war es doch nur ein dummer Traum? Die blöde Strecke ist doch stillgelegt, total baufällig, da kann kein Zug fahren, niemand würde das riskieren. Aber wenn der Zug etwa... Nein, das gab es doch gar nicht. Blödsinn ! Nein! Hans tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.
"Alles in Ordnung?" fragte der Verkäufer
"Ja, ja, alles klar!" Hans wischte sich noch mal einen Schwall Schweiß von der Stirn. Der Laden hatte eine Klimaanlage und es war angenehm kühl. Aber dennoch troff es ihm aus allen Poren.
"Sie sehen aus, als hätten sie eben ein Gespenst gesehen!" Der Mann lachte.
"Vielleicht hab ich das!" erwiderte Hans, mehr zu sich selbst, und erschrak plötzlich darüber, das es laut gesagt hatte.
Der Verkäufer blickte ihn erstaunt an, und sein Gesicht wurde plötzlich wieder ernst. Als wenn er etwas sagen wollte.
Hans ging hastig aus dem Laden, noch ehe der Verkäufer etwas sagen konnte. Gott wie war ihm das peinlich. Völlig verstört ging er zurück zu der Tiefgarage , in der er den Wagen geparkt hatte. Ärgerlich zahlte er die 4 Euro, die der unverschämte Kassenautomat von ihm verlangte.
Sie lagen nebeneinander im Bett. Sie schlief, Hans nicht.
Janet war immer noch etwas Sauer auf ihn. Er hatte die Sache so gut gebogen, wie es ging, hatte einfach gesagt, das es ihm wegen seiner Schwiegermutter wirklich leid täte. Sie hatte ihn schief angesehen. Und den Kopf geschüttelt. Geglaubt hatte sie ihm das nicht, auch nicht das er sie wirklich bedauerte.
Immer wieder wanderte sein Blick zu den rot leuchtenden Digitalziffern seines Weckers.
Es war halb drei.
Und da kam ihm eine Idee. Das war doch die Zeit, zu der der Zug immer zu erscheinen pflegte. Jedenfalls war es in den letzten beiden Nächten so. Sein Alptraum oder was auch immer. Aber jetzt fühlte er sich nicht, als würde er all das im Schlaf erleben. Irgendwie hatte er es die letzten beiden Male auch nicht im Schlaf erlebt. Das war alles so verdammt real.
Sie würde es wahrscheinlich erst glauben, wenn sie ihn selbst sehen würde, aber man bekam sie auch nicht mit dem Lärm einer Feuersirene wach, wenn sie einmal eingeschlafen war. Das war eine ihrer Eigenschaften, um die Hans sie beneidete. Der Zug könnte unter dem Bett entlang donnern, sie würde es nicht bemerken. Es sei denn, der existierte tatsächlich nur in seiner Einbildung. Und das wollte er jetzt wissen.
Hellwach stand er auf, zog sich an und schlich durch das Haus nach unten ins Wohnzimmer. Irgendwo in einer der Schubladen hatte Janet ihr Nähzeug gepackt.
Hans hatte soviel Ahnung vom Nähen wie ein Nilpferd vom Fliegen. Nicht mal einen Knopf konnte er annähen, ohne sich bloß nur die Fingerkuppen blutig zu zerstechen. Das war ihr Nähkasten. Er rührte ihn sonst nie an. Er klappte den Deckel der alten Keksdose hoch. Ratlos wühlte er in den Garnrollen und Nadelheftchen, Gummibändern, Messbändern, Knöpfen, Reißverschlüssen und Fingerhüten. Dann stieß er ganz unten auf ein Knäuel Strickwolle. Das war etwas. Er nahm das Knäuel an sich.
In einer anderen Schublade fand er die Taschenlampe.
Er schlich in den Garten. Was sollte er Janet sagen, wenn sie ihn Nachts um kurz vor drei mit Strickwolle und Taschenlampe im Garten erwischte?
Sie wird mich zum Psychiater schleifen, wenn ich ihr sage das ich dem Zug eine Falle stellen will um zu sehen, ob es ihn wirklich gibt.
Hans brachte ein Grinsen zustande, obwohl er sich selbst für total bescheuert hielt. Gut das sie hier draußen keine Nachbarn hatten.
In den alten Gemüsebeeten steckten dünne Stangen aus Bambus, das hatte er gesehen. Wahrscheinlich hatte der letzte Besitzer hier Bohnen oder Erbsen angebaut. Er zupfte 2 der Stangen aus der Erde und ging zum Gleis, wo er sie links und rechts neben das Schotterbett in die Erde steckte. Dann spannte er zwischen die beiden Stangen einen Wollfaden. Das reichte ihm noch nicht.
Er erinnerte sich an das, was er mit Jürgen damals am liebsten getan hatte, nämlich Pfennigstücke auf die Schienen legen. Das war immer ein großer Spaß, auch wenn sie nur selten hinterher eine der Münzen im Schotter wiederfanden.
Doch einmal hatten sie Glück, und der Kupferpfennig war von einem Güterzug so breit gepresst worden wie ein Markstück.
Hans kramte in den Taschen seiner Jeans und fand einige 1 Cent Münzen. Das müsste ja auch gehen.
Er verteilte sie auf den Schienen, erhob sich dann und bewunderte seine Falle. Jetzt brauchte der Zug nur noch zu erscheinen, und er würde Gewissheit haben. Ein für alle Mal. Wenn es ihn nun wirklich gab, dann würde er schon dafür sorgen, das Janet ihn noch in der nächsten Nacht zu sehen bekam, und wenn er ihr Koffeintabletten unterjubeln musste, das sie wach blieb.
Hans setzte sich an den Tisch und steckte sich eine Zigarette an.
Angespannt lauschte er in die Stille und warf hin und wieder einen Blick zum Himmel. Einige tiefhängende Wolken verdeckten die Aussicht auf die Sterne. Eigentlich Schade, wie er fand.
Ein Hund bellte. Hans saß plötzlich kerzengerade im Stuhl. Es kribbelte ihm wie tausend Ameisen vor Aufregung im Bauch.
Mit klammen Fingern knipste er die Taschenlampe ein.
Er leuchtete zu seiner Falle. Dann dorthin, wo der Tunnel in den Berg führte.
Ein lauter werdendes Rattern und Schnaufen.
Der Zug kam. Hans schluckte nervös.
Wenn der Zug die Stöcke aus der Erde reißt und die Pfennige zerdrückt, wäre es eindeutig. Er würde zur Polizei gehen, dafür sorgen, das es notfalls eine gerichtliche Verfügung gegen diejenigen gab, die hier mitten in der Nacht mit ihrem Nostalgie - Express, womöglich noch heimlich, eine Spritztour unternahmen, dazu noch auf einer Strecke, die stillgelegt worden war. Aber wenn...
Der Zug schnellte heran. Das lange, schwarze Ungetüm von Lokomotive ratterte an Hans vorbei. Dichte Dampfschwaden wehten durch den Garten. Als der Zug mit seiner Lok an der Spitze auf seiner Höhe war, blies eine gewaltige Dampffontäne aus der Pfeife, ein langer, hohler und dröhnender Pfiff ertönte, und wurde als mehrfaches Echo von überall her zurückgeworfen. Hans fiel auf, das der Zug dies immer tat, wenn er an seinem Haus angekommen war. Und überhaupt das Pfeifen: Der Erste Pfiff im Tunnel, der zweite bei der Ausfahrt, und der dritte vorm Haus.
Die lange Reihe der verschiedenartigen Güterwagen rollte polternd mit hohem Tempo an ihm entlang. Dann verschwand der letzte Wagen hinter dem hohen Gestrüpp im Garten, schließlich sah er in der Ferne neben dem Garten die beiden roten Schlusslichter in der Dunkelheit, wie sie immer kleiner wurden und schließlich verschwanden.
Der Strahl der Taschenlampe fiel von allein auf die beiden Holzstangen, die neben dem Gleis standen, auf den Wollfaden, der dazwischen gespannt war.
Hans stand auf wie ein Roboter. Eiskalter Schweiß rann ihm übers Gesicht. Hans verstand die Welt nicht mehr, als er mit mechanisch wirkenden Bewegungen zu der Stelle schritt, an der seine gut präparierte Falle noch immer stand.
Das darf es doch nicht geben, wieso hat der die Stöcke nicht aus der Erde gerissen oder den Faden zerfetzt. Hans sah auf die Pfennige. Warum sahen die noch genauso aus wie vorher? Kein Kratzer, das Eichenblatt makellos und glänzend.
Hans fühlte, wie ihn seine Beine im stich ließen, dann kippte er um.
Er erwachte neben Janet im Bett, als sie ihn weckte. Wie er dahin gekommen war wusste er nicht. Aber die Erinnerung an den Alptraum letzte Nacht war da, sie schoss ihm ins Bewusstsein, als er aus dem Fenster sah und die beiden Holzstäbe mit dem gespannten Wollfaden sah, die Taschenlampe, die mit schwach glimmender Birne im Gras lag.
Hastig zog er sich an und lief in den Garten, sammelte alles ein und versteckte die Stäbe mit dem Faden in einem Gebüsch.
"Und, hast du deinen Zug wieder gesehen?" fragte Janet grinsend beim Frühstück. Anscheinend war die Sache mit dem Streit vergessen. Was ein Glück.
Jetzt machte sie sich darüber lustig. Hans fühlte sich wie gerädert. Und jetzt wusste er Bescheid.
"Nein, wieso?" log Hans.
Wenn er es ihr erzählen würde, dann würde sie ihn für verrückt erklären. Janet mochte keine Gruselfilme und keine Horrorliteratur, sie glaubte nicht an Horoskope oder Übersinnliches, und schon gar nicht daran, das Züge als Gespenster Nachts durch die Gegend fahren. Nein, das behielt er für sich. Aber er musste nun dringend etwas unternehmen.
Hans betrat gegen Mittag den Spielzeugladen.
Der Verkäufer sah ihn fragend an. Ob er mich für total bescheuert hält? Fuhr es ihm durch den Kopf, und bereute es, den Laden betreten zu haben.
"Sie sahen gestern so aus, als hätten sie ein Gespenst gesehen!" sagte er zur Begrüßung. Hans erstaunte, während ihm es kleiner Schauer über den Rücken lief.
"Ja, das habe ich, glaube ich!" meinte Hans zögernd. Was sollte jetzt diese Frage? Hans war nervös. Wollte der Typ sich über ihn lustig machen?
Der Verkäufer ging von innen das Schaufenster, zog die Gardine beiseite und hatte wenig später die Lok samt ihres Wannentenders vorsichtig auf beiden Handflächen liegen.
"Sah das Gespenst etwa so aus?" fragte er, mit ernstem Gesicht, während er Hans die Lok entgegen hielt.
Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter, diesmal ein ganzer eiskalter Sturzbach.
"Ja! Und sie hatte Güterwaggons angehängt!" sagte er zitternd.
"Kommen sie mit ins Büro, da können wir uns besser unterhalten!"
Also doch. Der Mann wusste etwas. Hans fühlte sich ein wenig erleichtert. Das war kein Versuch ihn auf die Schippe zu nehmen. Der Verkäufer meinte es ernst!
Der Verkäufer drehte schließlich schnell das “Geöffnet” - Schild an der Tür um und schloss ab. “Um diese Uhrzeit ist sowieso nichts los, außerdem ist das mein Laden, und die paar Minuten kann ich ruhig opfern!”
Sie betraten das kleine Büro, in das man durch eine Tür inmitten einer Regalwand gelangte. Hier in dem kleinen Laden war wirklich jeder Quadratzentimeter verplant worden. Hans würde sich hier auf Dauer in der drangvollen Enge nicht wohl fühlen.
Der Verkäufer bot Hans schließlich eine Zigarette an. Hans nahm dankend an und ließ sich Feuer geben.
Die Männer rauchten und schwiegen. Niemand wusste dieses Gespräch zu beginnen.
"Ich dachte erst, sie halten mich für verrückt gestern!" brach Hans das Schweigen.
"Nein, ich halte sie nicht für verrückt. Ich hab ihn doch schon selber gesehen!
War vor ein paar Jahren. Ich hab es vorher selber nicht geglaubt, als man mir davon erzählte. Aber dann bin ich doch zu diesem alten Bahnhof gefahren, und dann kam er! Ich hab ihn sogar fotografiert!" Der Verkäufer zog eine Schublade auf und zog ein eingerahmtes Bild heraus.
Hans lief wieder ein eiskalter Schauer über den Rücken.
Er erkannte den Schuppen links neben dem fahrenden Geisterzug.
"Da wohnen wir jetzt!"
"Na da haben sie ja wirklich die Ehre! Ich wette, er nervt sie tierisch! Er ist aber harmlos, er tut keinem was, er kann sie ja nicht mal überfahren!" meinte der Verkäufer mit leichtem Grinsen. Hans schwieg. Der Verkäufer zog an seiner Zigarette.
"Wissen sie, in dem Dorf da weiß jeder darüber Bescheid, nur reden tut keiner was davon. Sie hüllen sich in Schweigen. Sie würden es nie zugeben, etwas davon zu wissen, weil sie Angst vor dem Zug haben! Er könnte ja doch mal anhalten, und dann holt er dich, nimmt dich mit, Huh! Auch die Bahner, als die Strecke noch im Betrieb war, auch die hatten mächtig Angst, aber nachts fuhr nie ein anderer Zug auf der Strecke, von daher war es denen vielleicht auch egal“ Der Verkäufer grinste, während Hans innerlich erschauerte.
„Aber ich hatte mal einen Stammkunden„, fuhr der Verkäufer fort,“ der da wohnte. Ist vor ein paar Jahren gestorben. Der hat mir alles erzählt. Der war dabei, als es passierte!"
"Was passierte?" Hans wurde immer neugieriger.
"Es war irgendwann im Januar 1945. Nachts gegen drei. Amerikanische Jagdflieger hatten die Brücke etwa 2 Kilometer nördlich von ihrem Haus bombardiert und völlig zerstört. Die wurde 1952 dann wieder aufgebaut, aber in jener Nacht fuhr ein Nachschub – Güterzug für die Westfront auf dieser Strecke. Der Bahnwärter, der damals in ihrem Haus gewohnt hat, wusste natürlich, das die Brücke kaputt ist. Aber er hat verpennt, die Strecke zu sperren. Der Typ hatte ein Alkoholproblem, wenn sie verstehen, was ich meine."
Hans nickte.
"Der hätte nur mal eben Telegrafieren oder anrufen müssen, das die Brücke futsch ist. Einem Stellwerk Bescheid geben, das sie ein Signal auf Halt schalten. Oder selbst ein Signal geben, das der Zug anhält, aber der Typ lag besoffen in der Kiste, und der Zug ist durchgefahren, konnte nicht mehr bremsen, und ist dann die kaputte Brücke runter geknallt mit Mann und Maus!"
"Ist ziemlich hoch, die Brücke!" meinte Hans. Er kannte die Brücke, fuhr er doch immer drunter hindurch, wenn er in die Stadt wollte.
"Ja, das war die alte Brücke auch. Sind rund 40 Meter, die der Zug runter gestürzt war. Die Lok ist beim Aufprall explodiert. Wumm! Wie in einem Film! Wissen sie, im Kessel von so einer Dampflok hat es 16 Bar Druck, und da fängt das Wasser erst bei knapp über 200 Grad an zu sieden. Das erzeugt natürlich entsprechend Kraft für die Lok, aber wehe wenn der Kessel durch irgendwas aufplatzt oder reißt... Dann fällt ja der Druck sofort ab, und das überheiße Wasser verdampft mit einem einzigen Schlag.
Die Lok hat es in tausend Fetzen gerissen. Und dann ging dabei natürlich auch noch die Ladung hoch, Minen, Granaten, Munition, Benzin, was weiß ich was noch alles. Da blieb nicht viel übrig, nur hier und da mal ein Metallbröckchen"
Hans Mund war trocken.
"Den Bahnwärter hat man am nächsten Tag gepackt und verhaftet, die Trümmer hat man dann nach dem Krieg weggeräumt, aber der Zug kommt jede Nacht zur selben Zeit wieder! Eben als Geist, verstehen sie? Er erscheint im Tunnel und fährt immer wieder das letzte Stück zur Brücke, wo er dann wieder verschwindet."
„Und kann man da gar nichts machen?“
Der Verkäufer stand auf, ging aus dem Büro in den Laden, drehte das Schild um und schloss die Tür wieder auf. Hans folgte ihm, wobei er bemerkte, das der Verkäufer sein rechtes Bein nachzog.
"Versuchen sie, ob sie ihn erlösen können! Sie sind ja jetzt der Bahnwärter, weil sie in dem Haus da wohnen!" sagte er leise.
"Danke, das sie sich Zeit genommen haben!" sagte Hans.
"Das habe ich gerne getan. Bisher hab ich mit keinem drüber gesprochen. Ist ja auch eine echt verrückte Geschichte, so verrückt, das noch nicht mal das Fernsehen sich dafür interessieren würde. Und das will schon was heißen.
Es glaubt nun mal keiner an Geister."
"Jetzt tue ich es! Und ich werde versuchen, ihn zu erlösen!" meinte Hans entschlossen.
Sie gaben sich die Hand.
"Alles klar! Wiedersehen!"
Hans ging durch die Fußgängerzone und hatte Watte im Kopf. Ein Geisterzug. Ein komisches Gefühl beschlich ihn im Gedanke daran, das er Zeuge eines Paranormalen Phänomens geworden war. Geister gab es für ihn nur in Büchern oder Filmen, die nach 23 Uhr im Fernsehen laufen. Und ausgerechnet noch ein ganzer Geister - Zug? Wenn es wenigstens nur irgendeine bleiche Gestalt mit dem Kopf unterm Arm wäre.
Er musste ihn erlösen. Allein schon, damit er endlich seine Ruhe hatte. Wie er das anstellen sollte war ihm noch immer ein Rätsel.
Hans fuhr die Einfahrt zum Haus hoch. Sofort fiel ihm auf, das Janet´s roter Golf nicht vorm Haus stand..
Er parkte den Passat vorm Haus, knallte die Tür zu und lief ins Haus.
Atemlos erreichte er die Küche.
Dann sah er den Zettel: "Hallo, Liebling! Ich bin zu meiner Mutter gefahren. Ihr geht es sehr schlecht. Komme übermorgen wieder.
Mach dir keine Sorgen. Wollte dich anrufen, aber dein Handy war aus!“
Hans atmete tief durch. Janet war jetzt in München, wo sie ursprünglich herstammte.
Janet fehlte ihm jetzt schon. Er hatte auf der Fahrt überlegt, ob oder wie er sie in die Sache mit dem Zug einbeziehen könne. Ob er es lieber doch allein tat, was auch immer zu tun war, um dieses gruselige Ding endlich loszuwerden.
Auf dem Herd stand ein Topf.
Hans hob den Deckel an und fand den Topf randvoll mit Gemüsesuppe. Noch warm. Er aß 3 Teller und fühlte sich satt und zufrieden.
Nicht ganz zufrieden. Das Haus war so verflucht leer und einsam. Und dann war da noch der Zug.
Hans ging durch die Küchenhintertür in den Garten.
Was hatte der Verkäufer beim Abschied gesagt? Sie sind jetzt der Bahnwärter? Der Satz gab ihm zu denken.
Hans ging in den alten Lagerschuppen.
Hier herrschte heilloses Chaos. Alte Holzpaletten, leere Kisten. Alte Werkzeuge, total verrostet, von Spinnweben und jahrzehntelangem Staub bedeckt, sicherlich unbrauchbar.
Ein Stapel alter Eichenbohlen stand an einer Wand, die wohl mal Gleisschwellen gewesen waren, so ölverschmiert, wie sie waren. Ja, da waren noch die Bohrungen für die Schrauben.
Und dann sah Hans die Signallampe in der Ecke an einem rostigen Nagel hängen.
Er nahm sie von der Wand. Er öffnete die Verriegelung an der Seite und öffnete das Gehäuse. Ein Petroleumbrenner darin fungierte als Lichtquelle. Die gleiche Konstruktion wie bei ihrer alten kleinen Lampe, die sie früher auf dem Balkon hatten. Und sie hatte rote Scheiben. Rot wie Stop !!!
Wenn er damit den Zug stoppen könnte, könnte er die Katastrophe abwenden, die den Zug Nacht für Nacht aufs Neue ins Verderben führt. Hatte der Bahnwärter damals nur einfach diese Lampe raushängen müssen, und alles wäre nie passiert?
Könnte er mit dieser Lampe die ruhelose Seele, die dieser Zug innehatte erlösen?
Hans überprüfte die Lampe. Ein Docht war noch vorhanden, der Tank allerdings leer. Er setzte sich ins Auto, fuhr rasch an die nächste Tankstelle und kaufte zwei Flaschen unparfümiertes Lampenöl. Als er wieder Zuhause ankam trug er die Lampe vorsichtig in die Küche und nahm sie auseinander. Er reinigte sorgfältig die Scheiben und das Gehäuseinnere, das völlig verrußt war. Schließlich säuberte er auch noch den Brenner.
Dann schraubte er den Tank auf und goss ihn mit Petroleum voll, drehte den Docht einmal nach unten, damit er sich Vollsaugen konnte, wartete und drehte den Docht wieder hoch.
Mit zitternden Fingern zündete er schließlich den öligen Docht an. Die Dochtfäden glimmten, und es qualmte fürchterlich. Aber dann tauchte doch ein kleines Flämmchen auf, das langsam größer wurde. Schließlich brannte der Docht so, wie er es von der alten Balkonlampe gewohnt war.
Behutsam schob er den Brenner in der Lampengehäuse und verschloss es.
Das Licht hinter der Roten Scheibe war sehr hell, es flackerte nicht, die Flamme ragte still und unbeweglich in die Höhe.
Er öffnete die Lampe wieder, pustete die Flamme aus und stellte das ganze nach draußen auf den Gartentisch.
Anschließend ging Hans an den Rechner und startete das Internet. Zum Glück hatte der neue Anbieter die Leitung vorige Woche bereits freigeschaltet gehabt. Er stöberte bei einer Suchmaschine über Eisenbahnsignale und fand schließlich etwas über ein sogenanntes Sh3 / Sh1 Kreissignal. „Eine rot abgeblendete Lampe im Kreis schwingen„, war dort zu lesen. Ein Nothaltsignal. Hans war erleichtert.
Jetzt brauchte er nur noch zu warten.
Hans saß gegen 3 Uhr wieder am Gartentisch. Er hatte die Lampe schon vor einiger Zeit angezündet. Sie gefiel ihm. Wenn die Sache hier erledigt war, würde sie als Tischleuchte für draußen dienen, beschloss er.
Jetzt schwirrten einige Motten vor den rot leuchtenden Blenden umher.
Die Zeiger seiner Armbanduhr rückten auf 3 Uhr.
Der Abend war sehr unruhig gewesen, die Zeit wollte einfach nicht verstreichen. Obwohl ein spannender Thriller im Fernsehen gelaufen war, konnte sich Hans dabei nicht darauf konzentrieren.
Seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Was würde passieren? Würde der Zug wirklich anhalten? Und was dann? Dann stand er da im Bahnhof, und weiter? Die Spannung stieg ins schier unerträgliche.
Hans rutschte auf dem Stuhl hin und her, vor sich der überquellende Aschenbecher. Es musste mindestens ein ganzes Päckchen gewesen sein, die er an diesem Abend geraucht hatte, soviel wie noch nie.
Im Dorf bellten die Hunde.
Und dann hörte er wieder das bekannte Rattern und Stampfen.
Hans stand auf und sah zu dem Tunnel, dessen Röhre nun plötzlich von einem trüben Licht ausgeleuchtet wurde. Der dröhnende Pfiff aus der dunklen Tunnelröhre, die sich langsam mit einem trüben Licht füllte.
Er kam.
Doch diesmal fühlte er keine Angst. Er nahm die Laterne vom Tisch und hielt sie zögernd in der Hand. Die Lok pfiff. Der Hall dröhnte durch die Täler und wurde von den Bergen zurückgeworfen. Wie konnten die Leute nur mit diesem Zug leben? Warum hat nicht schon früher niemand etwas unternommen?
Der Zug kam immer näher. Hans fasste all seinen Mut zusammen und begann mit dem Arm zu kreisen, erst langsam, dann etwas schneller. Die Laterne schlackerte an ihrem Henkel, die Flamme kräuselte sich, aber die Scheiben leuchteten hell und klar in ihrem Rot.
Und dann hörte er plötzlich ein Zischen, ein Kreischen und Fauchen.
Der vor der Lok über die Gleise huschende Lichtkegel wurde langsamer.
Dampf wurde abgeblasen, die Bremsklötze schliffen Funken sprühend gegen die Räder. Hans ließ den Arm mit der Lampe sinken und stellte sie auf dem Boden ab. Sein Schultergelenk schmerzte.
Der Zug kam in den Bahnhof, bremsend, immer langsamer werdend.
Er sah noch immer einzelne Funken sprühen, als die blockierten Räder über das rostige Metall der Schienen rutschten. Es kreischte Ohrenbetäubend. Noch immer blies mit einem lautem Tosen der überschüssige Dampfdruck aus dem Kessel ab, die hellweiße Dampfsäule schoss senkrecht in den Nachhimmel.
Der Kessel schnaufte und fauchte wie ein wütender Drache.
Die Lok kroch an Hans vorbei. Immer langsamer werdend. Der mahlende Stahl auf Stahl war ohrenbetäubend, das Quietschen schmerzte in seinen Ohren. Das Lokpersonal hatte aus voller Fahrt heraus eine Notbremsung eingeleitet. Dampfschwaden verhüllten die Sicht.
Hans hörte nur noch, wie das Kreischen erstarb und wie ein Ruck durch die Waggons ging und dabei die Puffer laut gegeneinander stießen, sich die Wagen aus ihrer Trägheit heraus gegen die gebremste Lok schoben.
Hans hörte nur noch das laute, scharfe Fauchen des Kessels über sich, und das rhythmische, laute Klappen und Schnappen des Luftpressers unterhalb des Kessels. Es stank nach heißem Metall, durchmischt vom Schwefeldunst und heißer Wagenschmiere.
Immer mehr Dampfschwaden hüllten den kompletten Zug ein. Aus dem Schornstein, der noch zu sehen war, stieg eine hell weiße Rauchsäule senkrecht in den Nachthimmel.
Hans griff zur Taschenlampe und leuchtete in den Nebel.
Das Herz klopfte ihm bis zum Hals.
"Hallo? Ist da jemand?" rief er
Er wurde langsam nervös. Ein wenig Panik machte sich in ihm breit.
Er konnte kaum etwas sehen.
Doch dann plötzlich legten sich die Dampfwolken.
Und Hans sah eine dunkle Gestalt durch den sich verflüchtigenden Nebel auf sich zu kommen. Er leuchtete die Gestalt mit der Taschenlampe an.
Er sah, das die Gestalt eine schmutzige blaue Uniform trug.
Sie zog beim Gehen ihr rechts Bein nach.
Die Hose war fleckig von Öl, Ruß und Schmierfett. Ebenso das blaue Hemd, das sie trug. Um den Hals trug die Gestalt einen dunkel grauen Schal, auf den Schulterstücken erkannte Hans golden durchwirkte Rangschlaufen, die von silbernen Knöpfen gehalten wurden.
Die Hände waren völlig schwarz.
Der Strahl der Taschenlampe wanderte höher in das Gesicht des Mannes, der jetzt direkt vor ihm stand. Es kam ihm sofort bekannt vor. Der weiße Farbton, die rötlichen Ringe um die Augen. Fiebrig glänzender Blick. Und obwohl der Lokführer vor ihm Bartstoppeln und Ruß im Gesicht hatte und eine verbeulte lederne Schirmmütze mit Flügelrad auf dem Kopf trug erkannte er, das es der Verkäufer aus dem Spielzeugladen war.
Hans erschrak.
Er fühlte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte.
"Du bist hier der Bahnwärter, und du hast deine Arbeit gut gemacht!" sagte er mit einer rauhen, kratzigen Stimme, die er aber dennoch sofort erkannte.
Die Hand fühlte sich kalt und leicht an.
Hans sah dem Geist in die Augen. Sie sahen dankbar aus.
Die Hand griff etwas fester gegen Hans Schulterblatt, klopfte mehrmals darauf. Die Finger waren kalt und knochig.
Der Lokführer nahm sie wieder von seiner Schulter, drehte sich um und ging langsam wieder auf seine Lokomotive zu. Hans sah den Heizer am Seitenfenster stehen, mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht, seine Augen strahlten aus dem völlig mit Ruß verschmierten Gesicht.
Hans wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor.
Der Lokführer kletterte mühsam hinauf zu seinem Führerstand, lehnte sich gegen den Türrahmen und sah Hans an. “Es wird Zeit!” sagte der Lokführer und lächelte.
Hans sah, wie er an einem Hebel zog. Die Pfeife stieß einen kurzen Pfiff aus.
Dann begann er wild am Richtungswender zu kurbeln, und zog schließlich den Regler, Dampf strömte aus den Zylindern, fauchend setzten sich die Treibstangen langsam in Bewegung, das Fauchen wurde lauter und ging in ein Rhythmisches Schnaufen über, die Räder griffen, die Lok rollte mit laut polternden Rädern an.
"Danke, das du uns erlöst hast!" rief der Lokführer durch den Lärm der schnaufenden Lok und sah ein letztes Mal aus dem Fenster, streckte den Arm heraus und winkte.
Hans hob die Hand und winkte zurück. Er hatte Tränen in den Augen.
Der Zug wurde immer schneller und schneller. Ein letzter langgezogener Pfiff.
Und dann war er plötzlich in einer Dampfwolke verschwunden.
Hans rieb sich die Augen. Der Zug war nicht mehr da.
Nur noch die einsame Stille der Nacht.