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Der Becher auf der andren Seite

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19.05.2008
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Der Becher auf der andren Seite

[highlight]Der Becher auf der andren Seite[/highlight]
von M. Glass

Er sitzt und bettelt. Eingewickelt in zwei Decken, steht ein kleiner Pappbecher vor ihm. Ich sitze ihm gegenüber in einem billigen Café und blicke hin und wieder unauffällig zu ihm hin. Auch ich habe einen Pappbecher vor mir. Die Caffélatte darin war jedoch lediglich braune, brühend heiße Milch. Meine direkte Sicht zu dem Herrn wurde immer wieder durch vorbeilaufende Anzüge mit Aktentasche, Einkaufstaschentragende Puppen und experimentalfreudige Teenagern gestört. Auch ein Taxi zwängte sich einmal durch die enge Gasse. Das Café ist nahezu leer. Meine Augen, die einzigen an diesem Nachmittag, haften an diesem einem Mann. Er musste doch mitbekommen, dass ich ihn die ganze Zeit beobachtete, ständig anstarrte, nicht mehr von ihm abließ. Selbst wenn er blind wäre, musste er meinen Blick doch spüren. Vielleicht vernahm er es nicht, vielleicht bemerkte er es. Doch wenn es so war, dann schien es ihn nicht weiter zu kümmern. Ihn beschäftigten andere Probleme. Denn sicher wirft nicht jeder eine Münze ein, doch als ich ihn dann einige Stunden musterte, da fiel mir auf, dass keine einzige Spende seinen Becher erreichte. Geschäftsleute sind wohl zu beschäftigt, Damen gar zu eingebildet und Teenager wissen ihr Geld wirklich besser zu verprassen. All die anderen Menschen ekeln sich möglicherweise vor ihm, meiden seine Nähe, entfernen sich auffällig schnell. Und was ist mit mir? Ich sitze hier und unhöflich wie ich bin, verspotten meine Blicke sehr. Wenigstens kann ich ein wenig mit ihm fühlen. Ich bin frei von Arbeit und Familie, hab weder Heim noch genug Geld. Doch auf der Straße knien und seine Schande so offensichtlich öffentlich zu zeigen? Das würde ich mich nicht trauen.
Ich trinke meinen Kaffee aus, ziehe meine Geldbörse, zahle den Kaffee und werfe das Trinkgeld in meinen Becher. Ich stehe auf, geh zur andren Straßenseite und nehme den Becher vom alten Mann. Er blickt zu mir. Seine Augen sind trocken und weinerlich, wütend und erbärmlich, sie blicken in mich und zucken zurück. Sein Gesicht wirft schwere Falten, seine Augenringe sind aufgebläht und blau. Es erinnert mich an schlimme Zeiten, als Krieg und Hunger Menschen plagte. Die Kälte liegt auf seiner Haut, sein Mund ist fahl und eh er sich öffnet, stelle ich ihm meinen Becher hin, mit zwei Euro fünfzig drin.

 

Eine kleine und vor allem sehr kurze Geschichte von Armut und Reichtum.
Wie arm die Reichen und wie reich die Armen doch sind...

Grüße
M. Glass

 

Hi M.Glass,
eine Geschichte, die wohl aus dem sozialkritischen Gedanken geboren wurde, die wohl vielen Leuten mal beim Anblick eines Bettlers in geschäftiger, gehobener Gesellschaft kommen.
Aber irgendwie ist die Geschichte für mich nichts Halbes und nichts Ganzes. Was ist die Moral? Dass der Erzähler ein cooler Typ ist, weil er meint, den Bettler zu verstehen und ihm trotz seiner auch nicht rosigen Lage 2,50 gibt? Dass die Welt scheiße (verzeihung) ist? Das Leben hart und ungerecht?
Eine Gefahr bei solchen Geschichten ist, dass man zu stark romantisiert. Was hier auch ein bisschen der Fall ist, schließlich wird der Bettler schon glorifiziert.
Also für mich: vertraute Gedanken, aber nichts Neues.
Grüße,
Maeuser

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo M. Glass

Man muss kein Millionär sein, um einem hungernden Menschen mit ein paar Euro zu helfen. Wer etwas hat, kann auch etwas abgeben. Dazu muss man natürlich die Not eines Mitmenschen erst einmal wahrnehmen, den Blick über den Anzugkragen hinaus lenken.
So begreife ich deine Geschichte.
Der Bettler sitzt und ist in Decken gehüllt, die Anzüge laufen an ihm vorbei. Du beschreibst nur die „Kleidung“. Bei den „Anzügen“ ist das richtig, sie sollen so gesehen werden wie sie sich geben, anonym, aber dem Bettler würde ich nicht auf die gleiche Stufe stellen, sondern ihm eine persönlichere Note geben.

Eingewickelt in zwei Decken, steht ein kleiner Pappbecher vor ihm.
Warum ist der Becher in zwei Decken gewickelt?
+++
blicke hin und wieder unauffällig zu ihm hin.
und
Meine Augen, die einzigen an diesem Nachmittag, haften an diesem einem Mann. Er musste doch mitbekommen, dass ich ihn die ganze Zeit beobachtete, ständig anstarrte, nicht mehr von ihm abließ.
widerspricht sich, weil ich keinen Zeitsprung dazwischen ausmachen kann. Etwa voller Kaffebecher, oder noch zu heiß zum trinken – fast leerer Kaffebecher.
+++
Vielleicht vernahm er es nicht, vielleicht bemerkte er es. Doch wenn es so war, dann schien es ihn nicht weiter zu kümmern.
Warum so lang und umständlich? Wenn er es bemerkte, dann schien … Oder so ähnlich.
+++
All die anderen Menschen ekeln sich möglicherweise vor ihm, meiden seine Nähe, entfernen sich auffällig schnell.
Das würde ich rausnehmen. Um sich vor dem Bettler zu ekeln, muss man ihn vorher als Person beurteilen, wahrnehmen.
Die Leute machen einen Bogen um ihn, wie um ein dingliches Hindernis, oder ein ähnliches Bild, wäre hier besser.

Gruß

Asterix

 

Eingewickelt ist der Mann. Der Pappbecher steht vor ihm.
Ist nur eine Inversion mit Bezugsänderung.

Dass das Café leer ist, heißt nicht, dass der Kaffee leer ist. Bitte genauer lesen.

Was spricht gegen einen Gedankenstrom? Die Gedanken so darzustellen, wie sie einem (ICH-Erzähler) kommen?

Man kann sich auch ohne nähere Kenntnis über eine Person vor ihr ekeln, wenn ihr Äußeres nicht den allgemeinen Normen entspricht oder wenn die Person eigenartig riecht oder bösartig zu sein scheint.

Man muss kein Millionär sein. Das stimmt. Doch trotz Armut eine Spende abgeben. Das macht die Geschichte doch eigentlich aus.

Die "Anzüge" stehen im Gegensatz zu der "Decke" und sollen die Dimensionen der verschiedenen Welten (arm <=> reich) veranschaulichen. Vorerst ist der Bettler doch anonym. Man weiß nichts von ihm. Doch als er sich dann näher mit ihm beschäftigt, erkennt er das Leid des Bettlers.

Sicher steckt in der Gesichte in Funke Kritik. Doch ich will mit der Geschichte zeigen, dass auch Arme reich sein können.

Denn ein Sprichwort besagt:
Ein reicher Mann ist meist ein armer Mann mit viel Geld.

Sicher erreicht diese Geschichte nicht die Dimension, als das man erkennen könnte, was Menschsein und eigentliches Glück bedeutet, aber sie soll eine ungefähre Relation dessen sein, was Mensch sein kann.

Vielen Dank für eure Kritik

Grüße
Markus

 
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Hi M. Glass,
Aus reinem sozialkritischen Impuls eine Geschichte zu schreiben, muss nicht verkehrt sein. bei Deiner Geschichte verwirrt mich aber einiges, z.B verstehe ich das Ende nicht. Ich sehe das eher als Demütigung des Bettlers, ihm einen vollgesabberten Becher zu geben mit etwas Geld im Rest Milchkaffezuckerschleim drin, das sich der Bettler ja da irgendwann rausholen muss. Der Prot hätte ihm doch das Geld einfach in den bereitgestellten Becher legen können.
Außerdem, wenn der Prot dem Bettler seinen Becher wegnimmt, sollte er ihm auch das Geld zurückgeben, das drinlag. (Ich habe noch nie einen vollständig leeren Becher eines Bettlers gesehen)
Aber wenn deine Geschichte sozialkritisch sein soll, ist die Moral/Pointe auch etwas simpel, dem Betteler und nicht dem Cafépersonal das Trinkgeld zu geben. Was ist mit dem unterbezahlten Kellner, der auf das Trinkgeld angewiesen ist?


Es erinnert mich an schlimme Zeiten, als Krieg und Hunger Menschen plagte.

An diese Zeiten braucht er sich nicht zu "erinnern", das ist brandaktuell.

Gruß Schmidt

 

Hallo Markus!

Dass das Café leer ist, heißt nicht, dass der Kaffee leer ist. Bitte genauer lesen.
Das Café habe ich weder erwähnt noch gemeint.
+++
Die "Anzüge" stehen im Gegensatz zu der "Decke" und sollen die Dimensionen der verschiedenen Welten (arm <=> reich) veranschaulichen. Vorerst ist der Bettler doch anonym. Man weiß nichts von ihm. Doch als er sich dann näher mit ihm beschäftigt, erkennt er das Leid des Bettlers.
Es geht mir nicht um den Kontrast zwischen arm und reich. Den hast du ausreichend dargestellt.
Was mir fehlt ist der Kontrast in der Wahrnehmung des Erzählers zwischen dem Bettler und den Anzügen. Um den ersten Eindruck, das erste Gefühl. Denn darum geht es ja in dem Abschnitt.
Die Anzüge wollen anonym bleiben (das hast du sehr gut rübergebracht), der Bettler naturgemäß nicht. Er will mehr sein als eine Decke und zumindest das sollte sich in den Gedanken des Erzählers wiederfinden. Sonst ist der Erzähler in diesem Stadium nicht mehr (oder besser) als ein Anzug, ob er nun einen trägt oder nicht. Daraus würde folgen, das man einen Bettler erst stundenlang beobachten muss, um bei ihm irgendeinen leidvollen Hintergrund zu erkennen.


Gruß

Asterix

 

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