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Der Becher auf der andren Seite
[highlight]Der Becher auf der andren Seite[/highlight]
von M. Glass
Er sitzt und bettelt. Eingewickelt in zwei Decken, steht ein kleiner Pappbecher vor ihm. Ich sitze ihm gegenüber in einem billigen Café und blicke hin und wieder unauffällig zu ihm hin. Auch ich habe einen Pappbecher vor mir. Die Caffélatte darin war jedoch lediglich braune, brühend heiße Milch. Meine direkte Sicht zu dem Herrn wurde immer wieder durch vorbeilaufende Anzüge mit Aktentasche, Einkaufstaschentragende Puppen und experimentalfreudige Teenagern gestört. Auch ein Taxi zwängte sich einmal durch die enge Gasse. Das Café ist nahezu leer. Meine Augen, die einzigen an diesem Nachmittag, haften an diesem einem Mann. Er musste doch mitbekommen, dass ich ihn die ganze Zeit beobachtete, ständig anstarrte, nicht mehr von ihm abließ. Selbst wenn er blind wäre, musste er meinen Blick doch spüren. Vielleicht vernahm er es nicht, vielleicht bemerkte er es. Doch wenn es so war, dann schien es ihn nicht weiter zu kümmern. Ihn beschäftigten andere Probleme. Denn sicher wirft nicht jeder eine Münze ein, doch als ich ihn dann einige Stunden musterte, da fiel mir auf, dass keine einzige Spende seinen Becher erreichte. Geschäftsleute sind wohl zu beschäftigt, Damen gar zu eingebildet und Teenager wissen ihr Geld wirklich besser zu verprassen. All die anderen Menschen ekeln sich möglicherweise vor ihm, meiden seine Nähe, entfernen sich auffällig schnell. Und was ist mit mir? Ich sitze hier und unhöflich wie ich bin, verspotten meine Blicke sehr. Wenigstens kann ich ein wenig mit ihm fühlen. Ich bin frei von Arbeit und Familie, hab weder Heim noch genug Geld. Doch auf der Straße knien und seine Schande so offensichtlich öffentlich zu zeigen? Das würde ich mich nicht trauen.
Ich trinke meinen Kaffee aus, ziehe meine Geldbörse, zahle den Kaffee und werfe das Trinkgeld in meinen Becher. Ich stehe auf, geh zur andren Straßenseite und nehme den Becher vom alten Mann. Er blickt zu mir. Seine Augen sind trocken und weinerlich, wütend und erbärmlich, sie blicken in mich und zucken zurück. Sein Gesicht wirft schwere Falten, seine Augenringe sind aufgebläht und blau. Es erinnert mich an schlimme Zeiten, als Krieg und Hunger Menschen plagte. Die Kälte liegt auf seiner Haut, sein Mund ist fahl und eh er sich öffnet, stelle ich ihm meinen Becher hin, mit zwei Euro fünfzig drin.