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Der Beginn einer anderen Existenz
Ein kalter Vollmond stand am Himmel. Matt glänzten unzählige Sterne am endlos weiten Abendzelt, dessen dunkles Blau einen passenden Kontrast zum sonst eher zurückhaltenden Trabanten bildete.
Wie ein verstohlener Schatten rauschte der Wind durch die oberen Wipfel der Bäume und trug den frischen Waldgeruch in das einzige Dorf der Gegend. Es zählte nicht viele Bewohner, denn niemand fühlte sich richtig ... wohl. Auch wenn sie es nie zugegeben hätten, waren sie ständig in Angst. In Angst vor einer Gefahr, die sie nicht auszusprechen wagten - und die doch stets präsent war. In jenem verlassenen Gebiet also trug sich Folgendes zu:
Nahe des düsteren Waldes, in den niemand zu gehen sich je wagte - nicht einmal am Tag - hatten Anwohner immer wieder von Erscheinungen berichtet; wabernden Sphären, die sich weder berühren noch fotografieren ließen. An das Heulen der Wölfe hatte man sich mittlerweile gewöhnt, auch daran, dass die lokale Polizei lieber zum Kaffee trinken beisammen saß, als all diesen Vorkommnissen nachzugehen. Von ihnen war noch nie viel Hilfe erwartet worden.
Man munkelte, dass sich tief im Wald verborgen und vor den neugierigen Blicken der Sterblichen entzogen "etwas" versteckte, das des Nachts umherstreifte, um ... - ja, darüber wurde geschwiegen - bis es sich nicht länger verschweigen ließ. Zumindest nicht bis heute.
Denn in einer dunklen, unheilvollen Nacht, die dem Undenkbaren Zutritt gewährt in die Dimension, die den Menschen zugeteilt ist, ward der feuchte Nebel, welcher den Aufgang zum Wald verhüllte, zerteilt und eine Gestalt - das namenlose Grauen - trat aus der Finsternis hervor.
In einen pechschwarzen Umhang gekleidet hob sie sich kaum vor dem Umriss des Waldes ab. Allein ihre rot-glühenden Augen, die es nach etwas ganz Bestimmtem zu sehen verlangte, verrieten sie.
Eine beängstigende Stille legte sich über das Dorf, jeder Laut wurde erstickt, als schliche der Nebel den Menschen, die vor Furcht angesichts jener dämonischen Präsens erstarrten, in die Kehlen und verstärkte so ihr Gefühl der Ohnmacht und Hilflosigkeit. Hatte dieses übernatürliche Phänomen sie erst einmal ihres Willens beraubt, ihre Vernunft ausgeschaltet und dem Übel gleichwohl dadurch die Türen geöffnet, schritt die Gestalt zielstrebig voran und wartete vor diesem oder jenem Haus.
Seine Besitzer waren nicht sie selbst und gänzlich unfähig, ihre Handlungen zu kontrollieren, geschweige denn in von außen gesteuerte Abläufe einzugreifen und mussten sich vollkommen den bestimmenden Befehlen der Gestalt beugen.
Bei jedem Auftritt wurde nur eine Person gewählt - vorwiegend junge Frauen oder Kinder. Da niemand sich rühren konnte, bis auf die oder den Auserwählten, war auch keiner in der Lage, zu sehen, was sich vor dem Haus zutrug, doch eigentlich wollten sie das auch gar nicht. Es war so schon erschreckend genug.
Dieses Mal jedoch war ich es, die hinausbefohlen wurde. Ich fühlte ein seltsam warmes Vibrieren durch meine Venen strömen und eine fiebernde Erregung - teils aus Furcht, teils aus freudiger Erwartung - legte sich um meinen Geist, meine Seele.
"Komm ... zu mir ... komm zu mir in die Dunkelheit", flüsterte eine raue Stimme, die ich bereits zu kennen schien, als wäre sie mir in einem Traum schon mal begegnet. Nur die Stimme. Eine Folge charakteristischer Schwingungen in der Luft, die ich nicht vergessen konnte. Verschwommenen Blickes nahm ich meine Umgebung wahr und erhob mich schlaftrunken von meinem Bett. "Komm..."
Mit fahrigen Fingern öffnete ich die Haustür. Niemand sprach, das Radio in der Küche rauschte in das gespannte Schweigen und meine Eltern saßen starr auf der Couch ohne mich anzusehen. Für sie war ich nicht da. Ich war auf mich gestellt, näherte mich wissentlich dem Urheber all unserer Angst, all unserer Alpträume und schwelgte - paradoxerweise - in einem Zustand überschwänglicher Freude.
Der Wind trug mir wieder und wieder verheißungsvolle Worte entgegen und ich wollte dem Ruf der dunklen Gestalt nicht länger taub gegenüber stehen. Aus der Nähe war sie bestimmt schon hunderte Male zuvor betrachtet worden, nur hatte niemand sie nach der Begenung je beschreiben können. Nachdem ...
Offene Arme empfingen mich. Wie ein Ausreißer, der nach Tagen der Entbehrung und des Hungers und Frierens endlich heim kommt, lief ich auf ihn zu. Obwohl die Augen röter glühten als das Abendlicht, wirkten sie kalt und gnadenlos, doch die warnende Stimme meines Verstandes war nicht lauter als ein zaghaftes Flüstern, das der Sturm unbändiger Gefühle davonfegte um mich schutzlos den Gewalten zu überlassen.
"Zu lange haben wir warten müssen", meinte er und zog mich mit einem entschlossenen Ruck zu sich heran. Dann strich er mir das Haar beiseite. Seine Augen, in denen heiße Kohle zu glimmen schien, suchten meinen Blick und bohrten sich erbarmungslos bis hinab in mein Innerstes, das er in Besitz nehmen wollte.
Ich entspannte mich, wurde schläfrig und verfiel in eine tiefere Trance als zuvor. Nur ganz oberflächlich spürte ich, wie seine starken Hände mich trugen. Der Wind wehte sachte um uns herum und in der Ferne glaubte ich die Silhouette eines Schlosses zu erkennen, dessen Zinnen und Türme sich schroff und trotzig vor den entblößenden Strahlen der Sonne abheben würden.
"Schlaf, meine Kleine. Erhol dich von der Reise und sei bereit für mich", raunte er, als er mich in weiche Kissen bettete, warm zudeckte und mir ganz vorsichtig einen Kuss auf die Stirn gab. Noch immer fühlte ich diese fiebrige Erwartung und das Herz pochte mir laut in den Ohren. Nie zuvor war es geschehen, dass jemand aus dem Dorf ... mitgenommen worden war und nie zuvor hatte ich mich derart erfüllt und verlassen zugleich gefühlt als jetzt, doch wurde dieser Eindruck bald schon in die Verbannung gesandt, wo er verrotten sollte um sich im Meer der Unbedeutsamkeit aufzulösen.
Beinahe augenblicklich schlief ich ein und suchte in den endlosen Weiten meiner Träume nach einer Möglichkeit, der vereinnahmenden Macht zu entfliehen, mich dem Einfluss des unerbittlichen Willens zu erwehren, aber es war vergebens - denn ein größerer Teil von mir verzehrte sich danach, das Schicksal jener vor mir zu teilen und darüber hinaus noch weiter zu gehen...
"Wie so oft ist meine Wahl auf jemanden wie dich gefallen. Die Entscheidung, dich hierher zu bringen, liegt darin begründet, dass es mir nach einer Gefährtin verlangt. Du wirst diesen ehrenvollen Part übernehmen, denn ich wählte weise nach dem Potenzial, das sich in dir verbirgt und darauf wartet, gefunden zu werden", sagte er, als er eintrat.
Eine bemerkenswerte Leichtigkeit lag sowohl in seinen Bewegungen als auch in seinen Worten. Verträumt strich er mir das Haar aus dem Gesicht. "Die Nacht wird uns gehören. Und wenn das Lied der Eulen verstummt, werden wir beisammen ruhen, uns vergnügen und den Schein der verhassten Sonne verfluchen." Ich unternahm einen halbherzigen Versuch, mich seiner Nähe zu entziehen, aber seine Augen hielten mich fest bei sich. "Lass mich gehen", flüsterte ich und begann am ganzen Körper zu zittern. Die Furcht war wieder da. Die Furcht und der Hass darauf - und zugleich der Dank dafür. Für eine Warnung, auf die nicht reagiert werden konnte.
Er lächelte mild, doch sein Mund verriet die Härte, die sich hinter der vornehmen Fassade verbarg. "Halt einfach still. Es wird dir gefallen."
Ein letztes Mal entfachte sich das Feuer des Widerstands in mir, doch der Rest der Glut erlosch schneller als ein Gedankenstrom versiegt und ich ergab mich.
"Was tust du nur? Was tust du nur?", dachte ich verzweifelt, unsicher; jedoch verdrängte ein intensiveres Verlangen als der Wunsch nach Flucht den letzten brüchigen, unbedeutenden Rest meiner Vernunft, dem ich nun die Führung überließ.
Sein heißer Atem kitzelte auf der dünnen Haut und ich schloss sehnsüchtig die Augen. Sanft liebkoste seine Zunge meinen Hals und in einer leidenschaftlichen Umarmung hielt er mich umklammert. Ein angenehmes Prickeln durchlief mich, ließ mich wohlig schaudern und erweckte nie geahntes Sehnen in mir. Mein Körper schmiegte sich an den seinen und ich wartete darauf, dass etwas geschah.
Plötzlich zuckte ich zusammen und schnappte erschrocken nach Luft, wollte schreien - was sich aber in genießerisches Stöhnen wandelte und wie Wachs lag ich in seinem Griff, während er an meiner Halsschlagader saugte. Das Blut pochte mir in den Schläfen, ungewohnt laut und aufdringlich, was aber nicht weiter beachtet wurde.
Nach einer Weile fühlte ich mich leicht und frei, doch noch immer saugte und schluckte er. Nun wich die Betäubung einer Benommenheit und ich wäre gefallen, wenn er mich nicht gehalten hätte. Mein Atem war kaum mehr als ein schwaches Hauchen, das Ringen um Luft hatte ich mittlerweile aufgegeben und kurz darauf entglitt ich der irdischen Welt - für immer, wie ich wusste.
Er trank auch den letzten Tropfen von mir, lauschte meinem Herzen, dessen Takt sich stetig verlangsamte, wiegte mich liebevoll im Arm und küsste mich sanft, bevor ich in einen schweren Schlaf entglitt. Das letzte, das er noch sagte, war: "Nun sind wir vereint."