Der Biograf
Die Schusswunde in Kujaus Schläfe sah wie ein Punkt aus, ein Schlusspunkt, der Leben in Geschichte verwandelt hatte. Er war vornüber gesunken und hatte ein Glas Wein umgestoßen. Sein Oberkörper verdeckte die Schreibtischunterlage, sein Kopf verdeckte seine Hand und seine Hand verdeckte den Lauf einer kleinen Pistole, der die Ecke eines unbeschriebenen Briefbogens verdeckte.
Hans griff nach dem kleinen Buch, das am Rande der roten Lache lag und verließ das Arbeitszimmer, eilte durch den Flur und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Küche.
Sarah hockte in ihrem Rollstuhl vor dem Fenster, das zum Garten hinausging. Ihre Stirn klebte zwischen Hirnstückchen, die vielleicht nur Fliegen waren, an der Scheibe, eine fusslige Haarsträhne wehte im Luftzug, der durch ein unsichtbares Loch im Glas hereinströmte. Der Kühlschrank brummte.
Hans ließ sich im Wohnzimmer auf das Sofa fallen, legte das Buch vor sich auf den Tisch und suchte nach dem letzten Eintrag. Wenn man überprüfen wollte, ob sich die Tagebuchnotizen zu einer Erklärung für das, was hier geschehen war, zusammenfügen würden, zur Geschichte eines Mordes und einer Selbsttötung, dann fing man besser am Ende an. Die Ursache war deutlicher zu erkennen, wenn man sie im Licht ihrer Wirkung betrachtete.
1. April
Ich schreibe nur noch, um nicht mehr leben zu müssen. (Die Pistole war letztendlich effektiver als der Stift, was?) Meine Erfahrungen dienen ausschließlich diesem Tagebuch. Ich mache sie, um sie aufzuschreiben. Ich löse mich in Text auf. Ich kann nicht mehr. (Da fehlt eindeutig ein Will nicht mehr. Letzte Worte brauchen Ellipsen.)
31. März
Ich ertrage ihren gelähmten, lähmenden Blick nicht mehr. Er hat sich endgültig von ihr gelöst. Er ist überall im Haus. Nicht nur im Haus. Kann sie sehen? Kann sie sich erinnern? (Rhetorische Fragen. Wie eindringlich. Da hat sich wohl jemand für einen Schriftsteller gehalten.) Man kann nur vermuten. Ihre Augen sind leer. Diese verdammte Ungewissheit.
30. März
(Unleserliches Geschmiere. Krakelig und verwischt. Wahrscheinlich besoffen gewesen. Irgendwas mit Brief oder Bier. Vermutlich Bier.)
29. März
Maria war heute zum letzten Mal da. (Das stimmt. Zu dir wird sie nie wieder kommen.) Sie hat sich kurz um Sarah gekümmert und ist dann wieder gegangen. Ich wollte nicht mit ihr reden. Nächste Woche kommt die Neue. Das Geschäft bleibt bis dahin geschlossen. Es macht inzwischen sowieso keinen Unterschied mehr, ob ich geöffnet habe, oder nicht. Fünf Tage allein mit dieser Hülle ihr. Ich habe sie ans Fenster geschoben. Sie hat den Garten immer gemocht.
26. März
Bei einer Auktion gewesen. Nicht das bekommen, was der Kunde (Uninteressant.) ... Nachlassverkauf ... wertloses Gekritzel ... einige ... teuer ... Autographen ...Geschäfte gehen ... niemand ... Hans ... (Hans? Nein, Haus.) Fernsehen ... ablenken ... gegessen (Belangloses Füllmaterial, das für die Geschichte irrelevant ist.) ... weil ... Abend ... Geld (Geld? Es scheint interessanter zu werden.) Ich hätte das Geld gut gebrauchen können, trotzdem bin ich fast froh darüber, dass es weg ist. Und darüber, dass sie bald weg ist, auch. (Könnte man als Hinweis auf den Mord interpretieren.)
24. März
Ich hole (Oder habe. Kann doch kein Mensch lesen. Warum sollte man auch umblättern, wenn man einen ganzen Roman auf den letzten freien Zentimeter einer Seite quetschen kann?) ... wütend ... Maria ... nicht mehr ... weil (Könnte auch wenn bedeuten.) ... und ... (Mehr kann man nicht entziffern.)
23. März
Ich dachte, man gewöhnt sich irgendwann daran, aber es ist schlimmer geworden. Sie ist eine lebende Tote. Es ist unerträglich. Sie besteht fast nur noch aus Erinnerungen. Ich versuche mir einzureden, dass das für jeden Menschen gilt. Das stimmt vielleicht, aber genauso wichtig, wie das, was war, ist das, was kommen wird. Die einzigen Erinnerungen, die sie noch produziert, sind die an eine Leiche, die nicht verwest, sondern altert. Ist dieses sie immer noch Sarah? Was macht einen Menschen aus? Die Seele? Eine Seele, die aus Gehirnzellen besteht. (Das Geschwafel nimmt kein Ende.) ... Geist ... ist ... Kopf ... Dualismus ... Rollstuhl ... Schuldgefühl ... Schuldgefühl haucht ihr ein wenig Lebendigkeit ein, füllt die Leere mit Menschlichkeit. Es verleiht ihrem Schweigen den Anschein einer bewussten Entscheidung. Als wenn nicht der Schlaganfall die Ursache der Stille wäre, sondern ihre Verachtung. (Dein Schuldgefühl hat ihr keine Lebendigkeit eingehaucht, sondern sie umgebracht, du Bastard.)
22. März
Die Ärzte haben bestätigt, was von Anfang an klar gewesen war. Sie nennen es „permanent vegetative state“. Wachkoma bis ans Ende ihrer Tage. Keine Heilungschancen.
Ich versuche ihr das, was von ihrem Leben noch übrig ist, so angenehm wie möglich zu machen. Das bin ich ihr schuldig. Ich glaube, ich liebe sie immer noch. (Du Heuchler. Du hast sie gehasst, du hast sie betrogen. Dir war sie lästig. Nirgendwo wird soviel gelogen, beschönigt und herumgedruckst, wie in Tagebüchern. Kein Urteil über das, was man ist, fürchtet man so sehr wie das von dem, der man sein wird.)
20. März
Ich habe das Geld abgehoben. Maria kommt heute Abend vorbei, um es sich abzuholen. (Die kleine Hure hat sich dafür also bezahlen lassen.)
19. März
Max hat mich besucht. Er kommt immer seltener, da er den Zustand seiner Mutter nicht ertragen kann. Ich habe Falschen Hasen gemacht. Er war nicht so gut, wie der von Sarah. Ich glaube, es hat ihm nicht geschmeckt.
Maria hat gerade geklingelt, aber ich habe sie nicht reingelassen. Ich bin enttäuscht von ihr. Sie scheint es von Anfang an geplant zu haben. Ich bereue, was ich getan habe.
16. März
Sie will Geld. Ich soll sie für ihr Schweigen bezahlen. (Aha, erpresst hat sie dich also. Daher deine Reue. Wenn es ums Geld geht, wird jeder moralisch. Der Kontostand ist der Maßstab der Ethik.) Ich fürchte, ich habe keine Wahl. Was würde Max von mir denken, wenn er erfahren würde, was ich getan habe? Erst das mit seiner Mutter, und dann ... (Der liebevolle Vater und treusorgende Ehemann fickt mit der Krankenpflegerin seiner wachkomatösen Frau. Ich denke, er wäre stolz auf dich gewesen.)
12. März
Maria hat Sarah gewaschen und den Urinbeutel ausgetauscht. Sie war sehr schweigsam. Irgendetwas scheint sie bedrückt zu haben. Ihr Handy hat wieder geklingelt. Ich weiß nicht mehr, wie oft.
Habe heute zum ersten Mal die Tür abgeschlossen. (Hattest du etwa Angst davor, dass deine Frau plötzlich mit dem Nudelholz in der Hand ins Schlafzimmer rollen könnte?) Als ob das etwas nützen würde.
10. März.
Alle verkauft. Die Kunden scheinen zufrieden zu sein. Ich hoffe, dass sie es bleiben.
7. März
Die Dokumente sind angekommen. Historische Staatsmänner aus aller Welt. Politiker, Könige und Diktatoren. Sehen gut aus, soweit ... beurteilen ... treffe ... Kunden ... geht .. Anspannung ... als ... erwartet ... Fälsch... (Deine Geschäfte interessieren niemanden.)
1. März
Ich habe sie im Wohnzimmer sitzen gesehen, bevor ich das Licht anmachen konnte. Ein diffuses Schimmern neben dem Sofa, eine Lücke in der Dunkelheit. Sie trägt ein weißes Nachthemd. Manchmal erschrecke ich mich, weil ich nicht mit ihrer Anwesenheit rechne. Ihr Schweigen macht sie unsichtbar. Und dann sehe ich sie. Sie ist wie ein Geist, der im Haus spukt. Einfach das Licht anlassen.
23. Januar
(Keine Einträge im Februar? Du warst wohl zu sehr mit dem kleinen Flittchen beschäftigt, hattest keine Zeit zum Schreiben. Keinen Grund, dich in Text aufzulösen. Oder hast du dich für alles, was du hättest schreiben können, zu sehr geschämt, um es tatsächlich in dieses Buch zu schmieren? Das würde zu dir passen, du elender Feigling.)
Maria kümmert sich rührend um meine Frau. Sie wird mir von Tag zu Tag sympathischer. Manchmal erinnert sie mich ein wenig an Sarah, obwohl Sarah ganz anders war. Wir haben Kaffee getrunken und uns unterhalten. Sie hat ihr Handy irgendwann einfach ausgeschaltet. Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war.
20. Januar
Die Ärzte wissen nicht, ob Sarah das, was um sie herum geschieht, bewusst wahrnehmen kann. Sie hat ihre Welt in sich eingeschlossen. Falls ihre Welt überhaupt noch existiert. Sie atmet, sie schläft. Ihre Bewegungen folgen festen Mustern. Arme, Hände, Finger, Kopf. Grimassen. Wie eine Maschine. Ich suche keinen Sinn mehr in ihren Gesten, habe aufgegeben, sie zu interpretieren. Es ist zwecklos. Sie scheinen auf keine inneren Zustände zu verweisen, sondern erschaffen die Zustände, die man in ihnen erkennen will. Fiktionen. Es gibt die Gesten. Und dahinter nichts. (Interessant, aber leider unwichtig. Schon halb neun. Ich sollte endlich hier verschwinden.)
Maria wechselt die Beutel aus, wäscht Sarah, spricht mit ihr. Ich bin froh, dass sie hier ist. Manchmal lacht sie und wenn die lacht, dann
19. Januar
Ich habe Maria die Liste gegeben. Es wird ungefähr zwei Monate dauern. Laut Maria soll er sehr gut sein. Ich hoffe, dass sie Recht hat. (Natürlich hat sie Recht.)
17. Januar.
Max hat angerufen. Ich habe ihn kaum verstanden. Er war betrunken. Ich mache mir Sorgen um ihn. Die Sache mit Sarah hat seine Situation nicht ... (Ich habe keine Zeit mehr für Belanglosigkeiten.)
13. Januar
Maria weiß von meinen Geldsorgen, obwohl ich sie nie erwähnt habe. Anscheinend kann ich es schlechter verbergen, als ich gedacht hatte. Sie hat mir versprochen, mit ihrem Mann zu reden. Vielleicht kann er mir helfen. (Scheint ein nettes und hilfsbereites Kerlchen zu sein.) Ich weiß noch nicht genau, ob ich (Du hast vergessen, den Satz zu beenden. Was verbirgt sich hinter der Abwesenheit der Wörter? Sirenengesang, der dich ins Schlafzimmer gelockt hat? Höchstwahrscheinlich.)
10. Januar
Ich habe den Brief wiedergefunden. Er wurde am 2. November verfasst und ist vermutlich zwei oder drei Tage später hier angekommen. Sie kann ihn also n... nc... noch ... (Oder nicht. Der Rest wurde von einer braunen Flüssigkeit – vermutlich Kaffee – chiffriert.)
5. Januar
Ich habe Maria zum Essen eingeladen. Es war furchtbar. Ihr Telefon hat pausenlos geklingelt. Er lässt ihr einfach keine Ruhe. (Anscheinend hatte er auch einen guten Grund, ihr keine Ruhe zu lassen, du Drecksau.) Nach der Vorspeise ist sie in ein Taxi gestiegen. Sie wollte nicht, dass ich sie nach Hause fahre.
3. Januar
Ich muss immer häufiger an diesen verdammten Brief denken. Vielleicht ist er erst eingetroffen, nachdem. Wenn ich ihn nur finden würde. Ihr Blutdruck. Ich frage mich wirklich, ob
1. Januar
Die Krankenpflegerin hat sich vorgestellt. Sie heißt Maria. Ich finde, dass sie eine sehr attraktive Frau ist, obwohl das Bild, das ich von ihr habe, möglicherweise nur ein Produkt der Relation ist. Sie ist so jung und voller Leben. Sarah dagegen. Ich habe mich lange mit ihr unterhalten. Ab heute wird alles anders.
(Das reicht. Die Geschichte endet hier.)
Hans klappte das Buch zu, ließ es in die Manteltasche gleiten, stand auf, verließ das Haus und streifte auf der Straße seine Handschuhe ab.