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Der Bleistift

cpo

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24.09.2001
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Der Bleistift

O, Nacht ! Ich nahm schon Kokain,
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das Haar wird grau, die Jahre flieh’n,
Ich muß, ich muß im Überschwange
Noch einmal vorm Vergängnis blühn.

O,Nacht - Gottfried Benn 1916


Es war weit nach Mitternacht. Claudius Premins rollte nervös mit seinem Schreibtischstuhl und stützte den Kopf mit seinen Händen; seine Ellenbogen stemmten gegen den Schreibblock. Seit mehreren Stunden wartete er auf ein Ergebnis. Er kaute auf dem Stift, starrte auf das leere Papier und zerbiss seine Lippe.
Er ging zum Heizkörper, drei Schritte von seinem Schreibtisch entfernt, lehnte sich rücklings dran und rutsche langsam in die Hocke. Bis morgen früh musste das Manuskript endgültig fertig sein, erklärte ihm der Verleger und alles was Claudius im Laufe des Abends blieb, war die nackenprügelnde Gewissheit auf den Verlust seiner schöpferischen Möglichkeiten. Die Schreibtischkante in Augenhöhe, konnte er den Block vor der langen Bücherreihe, die er zum Arbeiten benötigte, schimmern sehen. Claudius sprang auf, lief zum Schreibtisch, starrte aufs Papier.
„Leer. Immer noch gottverdammt leer!“

Er schlurfte zum Fenster und starrte hinaus in die Nacht. Der Mond versteckte sich hinter Wolken, dennoch stach das Restlicht in die Augen. Plötzlich riss er sich los, als hätte er einen Einfall, ging zum Schreibtisch, denn er wollte den Augenblick nicht verpassen, wenn ein, zwei verschlafene Gedanken sich zeigten und der Bleistift verlor sogar ein wenig seine Widerspenstigkeit und lies sich durch seine Hand beinahe geschmeidig führen. Claudius vertraute seinen Augen diesen einen Augenblick – denn wer kann sicher sein, dass nicht die Wut vorgaukelte, was er am meisten zu erwarten fürchtete ? – und war im nächsten um so ungehaltener über den Trugschluss. Er schmiss den Bleistift, der dann in Richtung Tischkante tänzelte, als wollte er rufen, du kriegst mich nicht.
Claudius erhob sich ruckartig ,fing den Bleistift, zerbrach und schmetterte ihn in die Ecke und schrie
„Doch!“.

Ein Schluck Wein sollte helfen, doch das Glas war leer. Seine geröteten Augen tasteten über die Wand und nahmen die Veränderung nicht im selben Moment wahr. Das Bild war weg, das von Goya, die Erschießung der Rebellen, mit den Getöteten und dem Blut am Boden. Es hat ihm immer Halt gegeben, gerade wegen dem Anführer im weißen Hemd und seinem, im Angesicht des Todes, trotzig erhobenen Hauptes gegenüber seinen Peinigern.
Seinen Augen mochte er so leicht keine Chance mehr zur Täuschung überlassen, so ging er näher zur Wand wo das Bild hing und merkte, dass die Schritte von den Wänden widerhallten.

Der Teppich, der das Parkett bedeckte, war ihm augenscheinlich unmerklich unter den Füßen entzogen worden. Claudius erkannte die Parkettzelle wieder, derentwegen er den Teppich besorgt hatte; sie hatte pockennarbige Prägungen von einem Kieselstein der sich in der Schuhsohle verklemmte. Er ging in die Hocke und tastete mit seiner Fingerkuppe über die Vertiefungen. Er fühlte sie; fuhr hoch wie ein Apnoetaucher zur Oberfläche und tastete sich zurück zum Schreibtisch, stütze sich ab – und zuckte.
Anstelle der Bücher prangten Staubränder vom Holz. Der Schreibtisch war leer – bis auf den Schreibblock. Jemand hatte ihm auch die Bücher, die er zum täglichen Schaffen brauchte, genommen. Sogar Dantes göttliche Komödie, die er sorgfältig auf die wenig benutzte Seite der Schreibtischplatte gelegt hatte, - die Seite der Kür - und in den Schaffenspausen zur Entspannung las, war nicht mehr da. Nur noch dieser nie zu füllende Block. Es hatte den Anschein, dass dieses quälende Weiß des gebleichten Papiers heller reflektierte als gewöhnlich - oder lumineszierte es gar? Das kann nur die Deckenlampe sein, schlussfolgerte er und fuhr sich mit den Händen durch die schweißnassen Haare. Er massierte seinen Kehlkopf, bevor er widerstrebend seine, nur aus Iris zu bestehen scheinenden, Augen an die Decke richtete. Ein heller Fleck hob sich von der Umgebung ab. Rund wie ein Auge, mit ausgefransten Kabelenden als Pupille.
Claudius wankte zum Fenster. Der Mond versteckte sich noch hinter Wolken. Den Handballen drückte er auf seine Brust, als könnte er so den Herzschlag kontrollieren. Auf dem Schreibtisch gleißte der Schreibblock und erhellte das ganze Zimmer. Er griff einen Bleistift und versuchte auf dem Papier einen Strich zu ziehen; seine Hand zitterte, an seiner Nasenspitze tänzelte eine Schweißperle. Doch die Spitze zerbrach am Holz der Tischplatte. Der Mageninhalt schoss ihm in den Hals, trotz allem konnte er den Reflux aber unterdrücken.

Dann wurde Claudius ruhig und seine Bewegungen schienen von Bestimmtheit gesteuert . Er nahm einen Bleistift aus der Pappschachtel der Aktentasche, spitzte ihn an und schob ihn, mit der Mine voran, fast bis zum ersten Viertel, was ungefähr drei Zentimetern entsprach, in sein rechtes Nasenloch, welches wie gewöhnlich verschnupft war.
Dann platzierte er sich, mit dem Bleistift im Nasenloch, lächelnd vor den Schreibtisch, als wolle er seinem weißbehemdeten Helden auf dem verschwundenen Bild salutieren, beugte seinen Oberkörper ein wenig nach hinten und schnellte dann mit der maximalen Wucht - den Kopf voran und nach hinten gestreckt, damit das Stiftende senkrecht nach unten zeigt - auf die Tischplatte.
Der Bleistift, Faber-Castell, Härte HB, durchbrach die Wände des Sinus frontalis von Claudius Premins und drang durch das Stirnbein über den Neocortex zum Corpus Colossum. Seine Beine knickten im nahezu selben Augenblick ein und das Gewicht des Unterleibes schließlich, zog den Rumpf, der auf der Tischplatte lag, hinab.

Hinab auf den Teppich.

 

Gute Geschichte!!!
Irgendwie fand ich sie witzig!!!

Toll geschrieben... Den Schluß finde ich klasse... <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">
Mehr fällt mir dazu eigentlich nicht ein... :rolleyes:

Weiter so! <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">

Griasle
stephy

 

Erstklassig !

Nur einen guten Rat:
Ein deutschsprachiger Autor sollte Begriffe wie "Reflux" "Sinus frontalis" "Neocortex" und "Corpus Colossum" vermeiden. Veruchen sie diese medizinischen Fachbegriffe zu ersetzten. Die Geschichte lebt nicht von Fremdwörtern. Sie verwirren den Leser nur und machen die Geschichte deswegen nicht besser, nur weil sie vielleicht gebildeter anmuten.
In vielen fremdsprachigen Büchern (und so auch leider in deren Übersetzungen) finden sich unzählige solcher Fremdwörter. Von Prämliminarien, über Konglomerat zu presbyterianisch. Ein deutscher Autor sollte ohne dergleichen auskommen -
Gerade der sehr, sehr gelungene Schluß Ihrer Geschichte wird ei nwenig durch diese medizinischen Fachausdrücke getrübt. Vielleicht ändern Sie es noch ?

Sincerely yours, M.S.

 

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