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Der Brief
An einem bitterkalten Morgen erwachte K aus einem Käfertraum und krabbelte aus seiner Koje. Die massige Gestalt des Vaters stand vor dem Fenster und verhinderte das Eindringen der Morgensonne. K erhob sich langsam und begann sofort zu frösteln. Wortlos kleidete er sich so schnell er konnte an, dabei immer wieder zum Vater hinschauend und auf jede noch so kleine Regung achtend.
Dann stand er neben ihm.
Sofort stieg die Hitze in ihm auf und er fieberte mit heißer Stirn den ersten Worte dieses Tages entgegen. K dachte an den Brief unter seinem Kopfkissen und eine klamme Faust bohrte sich in seine Brust und preßte sein Herz. Der wuchtige Haufen Mensch neben ihm schnaufte und räusperte sich, es klang für K wie das Röhren eines urzeitlichen Unterwassertiers. K stützte sich mit einer Hand am Fensterbrett ab, während er die andere hinter seinem Rücken zur wirkungslosen Faust ballte. Der Vater stöhnte wie gehabt. Er seufzte die anschwellende Unzufriedenheit in die gefährliche Stille des Raumes und K schloß die Augen; dahinter konnte er schnell in eine Höhlung unter dem Fensterbrett krabbeln und sich vor allen und allem verstecken. Ein eiskalter Hauch streifte seine linke Wange. Er öffnete die Augen und mußte dem Vater ins kantige Gesicht sehen. Furchterregend hatte der den Mund gerade geöffnet, so, als wolle er K zum Frühstück verspeisen. Eindringlich blickte er K ins Gesicht. Der Blick des Vaters wurde zu einem hellen, brennenden Strahl, der K’s Wangen zum Erglühen brachte. Er nahm sich vor, diesmal diesem Blick standzuhalten, diesmal nicht die Augen nach unten zu schlagen, diesmal den Kopf hoch erhoben zu halten – auch wenn es ihm das Leben selbst kosten würde. Noch stärker preßte er die Faust zusammen, die abgeknabberten Fingernägel drangen ins Fleisch der müde gewordenen Hand.
Die Stimme des Vaters klang rauh, als er sagte: „Mein Sohn!“ Er sagte es fast ohne Betonung, fast glaubte K so etwas wie Mitleid darin zu erkennen, auch eine winzige Spur Anerkennung, einen kurzen Funken Bewunderung.
Der Vater drehte sich um und ging mit kräftigen Schritten zur Tür. „Ich habe da einen Brief für dich“, sagte er dabei und deutete mit der Hand zum Tisch. Dann war er draußen und das Licht des hellen Wintertages erfüllte den Raum. Ein Orkan war vorüber gezogen.
K blieb noch eine Weile stehen und entspannte sich langsam. Er ging zum Tisch und sah einen Umschlag mit der Schrift seines Vaters. Brief an den Sohn, stand da mit fetter Tinte geschrieben. Er war zugeklebt. Und kurz bevor K ihn aufreißen wollte, hielt er inne. Eine Schwäche überkam ihn, plötzlich schien der Brief ein schweres Gewicht zu bekommen, er ließ ihn fallen und legte eins der Hefte darüber, in die er seine Nöte und Träume notierte. Gleich ging es ihm besser.
Später ging er an den Fluß und an einer unbeobachteten Stelle zerriß er den Brief und warf die Schnipsel ins Wasser. Langsam trieben sie dahin und entfernten sich von ihm wie das Licht der Abendsonne sich dem Tag entfernt.