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Der Brief

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15.05.2007
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Der Brief

An einem bitterkalten Morgen erwachte K aus einem Käfertraum und krabbelte aus seiner Koje. Die massige Gestalt des Vaters stand vor dem Fenster und verhinderte das Eindringen der Morgensonne. K erhob sich langsam und begann sofort zu frösteln. Wortlos kleidete er sich so schnell er konnte an, dabei immer wieder zum Vater hinschauend und auf jede noch so kleine Regung achtend.
Dann stand er neben ihm.
Sofort stieg die Hitze in ihm auf und er fieberte mit heißer Stirn den ersten Worte dieses Tages entgegen. K dachte an den Brief unter seinem Kopfkissen und eine klamme Faust bohrte sich in seine Brust und preßte sein Herz. Der wuchtige Haufen Mensch neben ihm schnaufte und räusperte sich, es klang für K wie das Röhren eines urzeitlichen Unterwassertiers. K stützte sich mit einer Hand am Fensterbrett ab, während er die andere hinter seinem Rücken zur wirkungslosen Faust ballte. Der Vater stöhnte wie gehabt. Er seufzte die anschwellende Unzufriedenheit in die gefährliche Stille des Raumes und K schloß die Augen; dahinter konnte er schnell in eine Höhlung unter dem Fensterbrett krabbeln und sich vor allen und allem verstecken. Ein eiskalter Hauch streifte seine linke Wange. Er öffnete die Augen und mußte dem Vater ins kantige Gesicht sehen. Furchterregend hatte der den Mund gerade geöffnet, so, als wolle er K zum Frühstück verspeisen. Eindringlich blickte er K ins Gesicht. Der Blick des Vaters wurde zu einem hellen, brennenden Strahl, der K’s Wangen zum Erglühen brachte. Er nahm sich vor, diesmal diesem Blick standzuhalten, diesmal nicht die Augen nach unten zu schlagen, diesmal den Kopf hoch erhoben zu halten – auch wenn es ihm das Leben selbst kosten würde. Noch stärker preßte er die Faust zusammen, die abgeknabberten Fingernägel drangen ins Fleisch der müde gewordenen Hand.
Die Stimme des Vaters klang rauh, als er sagte: „Mein Sohn!“ Er sagte es fast ohne Betonung, fast glaubte K so etwas wie Mitleid darin zu erkennen, auch eine winzige Spur Anerkennung, einen kurzen Funken Bewunderung.
Der Vater drehte sich um und ging mit kräftigen Schritten zur Tür. „Ich habe da einen Brief für dich“, sagte er dabei und deutete mit der Hand zum Tisch. Dann war er draußen und das Licht des hellen Wintertages erfüllte den Raum. Ein Orkan war vorüber gezogen.
K blieb noch eine Weile stehen und entspannte sich langsam. Er ging zum Tisch und sah einen Umschlag mit der Schrift seines Vaters. Brief an den Sohn, stand da mit fetter Tinte geschrieben. Er war zugeklebt. Und kurz bevor K ihn aufreißen wollte, hielt er inne. Eine Schwäche überkam ihn, plötzlich schien der Brief ein schweres Gewicht zu bekommen, er ließ ihn fallen und legte eins der Hefte darüber, in die er seine Nöte und Träume notierte. Gleich ging es ihm besser.

Später ging er an den Fluß und an einer unbeobachteten Stelle zerriß er den Brief und warf die Schnipsel ins Wasser. Langsam trieben sie dahin und entfernten sich von ihm wie das Licht der Abendsonne sich dem Tag entfernt.

 

Hallo Bernhard,
danke für dein Interesse an meinem Text.

Das mit dem Moment und dem Gift kann ich nicht deuten.
Die Idee zu der Geschichte beruht tatsächlichauf einer spontanen Eingebung: Beim Lesen von Kafkas "Brief an den Vater" hatte ich plötzlich dieses Bild vor Augen und machte mir wenige Notizen dazu. Später kam dann dieser Text heraus.
So gehts manchmal und für mein Gefühl habe ich die dieser Idee angemessene Länge gefunden.
Den Titel lass ich erstmal stehen, einen Namen muß das Kind haben.

Viele Grüße
Hawowi

 

Hej Hawowi,

beim ersten Lesen habe ich mich durch "K" und "Käfertraum" so sehr ablenken lassen, halb der Verwandlung gelauscht, dass ich erst durch

Die Stimme des Vaters klang rauh, als er sagte: „Mein Sohn!“

wieder geweckt wurde und Deiner Geschichte folgen konnte (bin vielleicht auch schon etwas zu müde).

Vielleicht lassen sich ein paar Absätze einfügen.

Der letzte Teil der Geschichte gefällt mir besser, die Beziehung der beiden wird ausdrucksvoller als im ersten Abschnitt, wo ich bei Formulierungen wie

dabei immer wieder zum Vater hinschauend und auf jede noch so kleine Regung achtend

oder

Furchterregend hatte er den Mund gerade geöffnet

zwar meine zu verstehen, worauf Du hinaus willst, die Wirkung aber nicht so deutlich spüre.
Sprachlich gefällt mir der Text gut.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir aufgefallen:

Dann stand er neben ihm.
Wer hat sich bewegt, der Vater oder der Sohn?

er fieberte mit heißer Stirn auf die ersten Worte dieses Tages

sagt man nicht eher, man fiebert etwas entgegen?

Furchterregend hatte er den Mund gerade
Vielleicht besser: Furchterregend hatte der

Er sagte es fast ohne Betonung, fast glaubte K so etwas wie Mitleid darin zu erkennen

Viele Grüße
Ane

 

Hallo Ane,
ich danke Dir für Deine hilfreichen Hinweise, einiges davon habe ich benutzt und den Text dahingehend geändert.
"Dann stand er neben ihm" habe ich gelassen, allerdings einen Absatz eingefügt. Ich glaube, daß durch den vorherigen Satz erkennbar ist, daß hier K gemeint ist, der nach dem Aufstehen nun neben dem Vater steht.

Schön, daß Dir der kurze Text gefallen hat, demnächst kommt etwas längeres. Vielleicht hast Du ja auch Lust, das dann zu lesen.

Viele Grüße
Hawowi

 

Hallo Hawowi,

etwas schade finde ich, daß einem gleich nach dem ersten Satz bewußt wird, woran Du Dich beim Schreiben orientiert bzw. inspirieren lassen hast, nämlich von Kafka. Wenn Du dem Herrn K einen Namen geben würdest, das mit dem Käfertraum rauslassen würdest, hätten wir einen indirekten Kafka-Bezug, der dann nicht so sehr von der eigentlichen Geschichte ablenkt.
Du greifst ja das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis von Kafka selbst auf. Aber Du erzählst hierbei leider nur eine kafkaeske Episode. Wie gesagt; Kafkainspiration ist schön und gut, aber ich hätte es besser gefunden, wenn Du diesen etwas verkleidet hättest, sodass er einem nicht sofort ins Auge springt. ;)

Gruß
stephy

 

Bei Herrn K muss ich eigentlich vor allen Dingen an Brecht denken.

Grüße von Rick

 

Auch (im Sinne von: neben anderen bereits hier gelesenen Texten) hier kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren ein Textfragment zu betrachten. Eine agbesplitterte Spiegelscherbe eines größeren Ganzen.
Nichts desto Trotz empfinde ich jenen Ausschnitt als lesenwert. Ein altes (an den Rändern sich aufwerfendes, in gelb-braunen Sepiafarben gehaltenes) Foto. Es müssen nicht immer ganze Geschichten sein um Emotionen zu wecken.

 

Hallo Hawowi,

mir hat deine kleine Eingebung sehr gefallen, hier geht es doch um die Macht und die Furcht vor dem Vater. Das Morgenlicht bleibt draußen, nur Kälte ist spürbar, macht Angst, so dass der Traum vom Käfer, sich klein zu machen und in die Höhlung des Fensterbrettes zu krabbeln, die große Angst vor dem Vater aufzeigt.Diese Stimmung hast du hier sehr gut entstehen lassen.:thumbsup:
Da zeigt sich, das in Kg. de, die kleinen Texte oftmals mehr Wirkung erzielen sollten, als die ständigen Debatten von weniger guten Texten oder die Uneinsichtigkeiten der Autoren.

Herzliche Grüße Weltflucht

 

Hallo allerseits,
schön, daß so ein kleiner Text doch eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich zieht. Vielen Dank an alle, die sich die Mühe machen ihn zu lesen und sogar zu kommentieren.

An Stephy : Für mich war von Anfang an klar, daß es sich um den K handelt und handeln sollte und es gab für mich keine Überlegung hinsichtlich eines anderen Namens. Der eigentliche Clou (wenn man so will) ist ja die Umkehrung der uns bekannten Geschichte vom Brief an den Vater.
Wenn du es als kafkaeske Episode liest - ist ja auch nicht das Schlechteste. Ob ich das noch hätte ausführlicher schreiben können, ist für mich eine eher müßige Überlegung. Ich hatte den Eindruck, mehr gibt’s von mir dazu nicht zu sagen. (Vielleicht hat ja ein anderer Muße und spinnt die Geschichte fort…?)

An Danjl: Du hast genau das Stichwort gebracht, das mir selbst bei meinem Schreiben immer wieder passiert: Fragment. Und bei Kafka faszinieren mich dessen Fragmente und diversen Anfänge von Geschichten sehr. Wer die nicht kennt: Es lohnt sich da mal reinzuschauen!

An Rick: Ich glaube der Herr Keuner ist wohl von einem anderen Kaliber, als die tragische
K- Figur. K kann man bemitleiden. Über Keuner kann man schmunzeln und sich verblüffen lassen.

An Weltflucht: Ich stimme dir zu: Es gibt Texte, die entfalten eine Nachwirkung, ohne daß man das erst richtig bemerkt. Dabei spielt die Länge keine Rolle.

Viele Grüße
Hawowi :read:

 

Also bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass es sich bei Herrn Keuner und Herrn K. um ein und dieselbe literarische Figur von Brecht handelt - deshalb hat sich mir - so war meine Anmerkung gemeint - die Verbindung Herr K/Kafka schon mal grundsätzlich nicht erschlossen. Vielleicht habe ich da irgendwelche Wissenslücken?

Grüße von Herrn R.

 

Also bisher bin ich immer davon ausgegangen, dass es sich bei Herrn Keuner und Herrn K. um ein und dieselbe literarische Figur von Brecht handelt - deshalb hat sich mir - so war meine Anmerkung gemeint - die Verbindung Herr K/Kafka schon mal grundsätzlich nicht erschlossen. Vielleicht habe ich da irgendwelche Wissenslücken?
Hast du nicht, Rick.

 

Rick, Kafkas Prtagonisten heißen manchmal einfach K. Ich kenne jetzt allerdings nur "Der Prozess" als Beispiel, mit Josef K. als Prot.
Und das mit dem Käfer ist aus "Die Verwandlung", von Kafka.

 

Hallo Sim,

vielen Dank für den Link zu der Seite mit den Geschichten vom Herrn Keuner.
Das ist ja eine wahre Fundgrube. Toller Service! :thumbsup:

Grüße
Hawowi

 

Hey Hawowi,

es liest sich tatsächlich auch für mich eher wie eine in Prosa gehüllte Interpretation eines Fremdtextes als eine eigenständige Geschichte. Es geht um etwas, das eigentlich außerhalb dieses Textes liegt, was die Eigenständigkeit des Textes stark vermindert. Schade, finde ich. "Die Angst vor dem Vater", die Kafka geplagt hat, ist ein schönes, starkes Thema. Und auch den Ansatz deiner Geschichte mit dem träumenden Sohn und dem schon wachen, stattlichen Vater hat mir gefallen, aber dann wird es mir zu außer-textlich.

Gruß
Quinn

 

Hallo Quinn,

was meinst du mit außer-textlich?

Und mit "Interpretation eines Fremdtextes" kann ich auch nicht viel anfangen.

Natürlich richtet sich meine Geschichte an Leute, die wissen was es mit Kafkas Brief - also den berühmten an seinen Alten - auf sich hat. Wobei es hier ja nicht um eine Analyse oder literarische Aufarbeitung geht, sondern lediglich um ein Spiel mit der von mir angebotenen Möglichkeit, dass nämlich der Vater seinem Sohn einen Brief geschrieben hat, den der nicht zur Kenntnis nimmt.

Wir kennen ja Kafkas Vater vornehmlich nur aus der subjektiven Sicht des Sohnes und einiger Bemerkungen von Max Brod. Ich kenne aber nicht die ganze Literatur zu Kafka, vielleicht gibts da doch was. Egal. Mir ging es lediglich um - ich wiederhole mich - ein Spiel, das die wahre Begebenheit in diesem Punkt umdreht. Mehr nicht. Der Rest könnte sich dann im Kopf des Lesers abspielen. Möglicherweise ist das für den einen banal, für den anderen vielleicht Anlaß die subjektive Franz-Sicht ein wenig in Frage zu stellen.

Mehr fällt mir dazu im Moment nicht ein.

Grüße
Hawowi

 

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