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Der Bunker
Sie kannten sich erst seit ein paar Tagen und ihr Glück war noch ganz frisch. Nachdem sie sich mehrfach beim Fahrrad fahren begegnet waren, hatte er sie angesprochen und seither fuhren sie zusammen. Sie suchten jetzt die Einsamkeit, ruhige Plätze, wo sie ungestört waren, um herauszufinden, ob sie zueinander passten. Er, der Draufgänger, der immer ein freches Wort auf den Lippen hatte, der Durchblicker, der immer genau wusste, was zu tun war und für jedes Problem eine Lösung hatte. Sie, die Schüchterne, Verklemmte, die oft unsicher war und dann an den Nägeln kaute und die fast immer Probleme hatte, für die sie keine Lösungen sah.
Am Sonntag Nachmittag fuhren sie, ohne jemandem ihr Ziel zu nennen, in das große Waldgebiet, einige Kilometer von ihrem Heimatort entfernt. Auf dem freien Feld war es stickig und heiß, aber nachdem sie den Wald und damit den Schatten erreicht hatten, war es sehr angenehm und sie trafen keinen Menschen. Auf einer Lichtung machten sie Pause, genossen den Duft des Kieferharzes, die Wärme des Sommers, aßen ihr mitgebrachtes Picknick und tranken dazu eine inzwischen lauwarme Cola. Der Wald um sie herum war dicht und schwarz und sie sagte, er sei ihr ein bisschen unheimlich. Nachdem sie sich geküsst und ausgiebig geschmust hatten, wollte sie sich ausruhen und er noch etwas die Umgebung erkunden, bevor sie sich wieder auf den Heimweg machen wollten.
Als er zurückkam, lag sie im Gras und schlief. Sie war sehr schön, in ihrem leichten, roten Sommerkleid, mit den langen blonden Haaren. Sie gefiel ihm, aber er war sich nicht sicher, ob er sie wirklich liebte. Sie war ihm zu naiv, zu unsicher. Er fand sie ziemlich unausgegoren und hätte lieber eine selbstsichere, robuste Freundin gehabt. Aber heute waren sie zusammen und das war gut so. Er setzte sich neben sie und wartete, bis sie aufwachte. Dann teilte er ihr mit, dass er einen versteckt gelegenen, verlassenen Steinbruch entdeckt habe und schlug seine Erkundung vor, ein kleines Abenteuer als Höhepunkt ihres Sonntagsausflugs. Sie zögerte und wollte nicht so recht, aber als er sie als Angsthase verspottete, stimmte sie schließlich zu. Auf einem zugewachsenen Waldweg fuhren sie zu dem Gelände. Ein breites Tor, mehrfach verriegelt und mit Schlössern gesichert, versperrte den Zugang. Das ganze Areal war von einem hohen, stabilen Zaun umgeben, eine zusätzliche Lage Stacheldraht verhinderte sein Überklettern. Sie ließen die Räder stehen und gingen am Zaun entlang, auf der Suche nach einer Lücke. Sie fanden bald eine Stelle, an der ein umgestürzter Baum den Zaun auf den Boden gedrückt hatte und ihnen den Zugang ermöglichte.
Sie fragten sich, wann der Steinbruch wohl aufgegeben worden war. Es musste schon sehr lange her sein und offensichtlich war auch lange niemand mehr hier gewesen. Die Fuß- und Reifenspuren auf dem Platz hinter dem Eingangstor waren vom Wind und Regen eingeebnet und kaum mehr zu erkennen. Eine Straße führte abwärts zu einem großen, halbrunden Platz, der von den Felswänden umgeben war, aus denen die Steine gebrochen worden waren. Der Wald hatte begonnen, das Gelände zurück zu erobern, überall, selbst an den Wänden, wuchsen Büsche und kleine Bäumchen.
An einer Seite der Felswand stand ein Gebäude, besser gesagt, es war der vordere Teil eines Bunkers, der in den Fels hineingebaut war. Auf der Fassade formten eine Stahltür und zwei vergitterte Fenster ein Gesicht, das sie irgendwie böse anstarrte. Sie gingen zu der Tür. Sie hing etwas schief in der Zarge und ließ sich nur einen Spalt weit öffnen. Erst als beide heftig gegen eine starke Spannung zogen, öffnete sie sich soweit, dass sie in den Bunker schlüpfen zu können. Der kleine Flur, den sie betraten, war fensterlos, aber die Türen zu den beiden Räumen mit den vergitterten Fenstern waren offen und ließen Licht herein. Der eine war vermutlich ein Aufenthaltsraum, in ihm waren ein schiefer Tisch, zwei Stühle und ein kleines Wandregal. Auf dem Tisch stand eine elektrische Kochplatte, auf dem Regal sahen sie einen Kochtopf aus Email, eine gusseiserne Pfanne und ein paar Teller und Gläser. Sie spekulierten, wer hier wohl was gekocht haben mochte. Der zweite Raum war vermutlich eine Werkstatt, er schlossen dies aus der alten Werkbank vor dem Fenster, ansonsten war er leer und sie fanden auch keinerlei Werkzeuge. Am Ende des Flurs war eine weitere, verschlossen Tür, auf der ein gelbes Warnschild angebracht war: wegen Explosionsgefahr war der Umgang mit Feuer und offenem Licht verboten. Er sagte, dass dies sicher das Sprengstofflager gewesen sei, das würde auch die Stahltür und die vergitterten Fenster erklären. Dann frage er sie, ob sie glaube, dass da drin noch Dynamit sei. Nachdem sie vergeblich versucht hatten, die Tür zu öffnen, gingen sie zurück in den Aufenthaltsraum und malten sich aus, wie es sein würde, hier ein paar Tage zu verbringen. Es wäre jedenfalls sehr ruhig, meinte sie.
Dann war ihr Forscherdrang erschöpft und sie wollten wieder ins Freie. Er stemmte sich gegen die Stahltür, um sie weit genug zu öffnen. Die Tür ächzte und er spürte erneut die starke Spannung. Sie sah sich noch einmal in dem kleinen Flur um. Er wurde ungeduldig, weil er mit viel Kraft drücken musste und rief, sie solle endlich kommen. Als sie schon neben ihm stand und hinaus wollte, sah sie, etwas versteckt, an der Wand einen alten Kalender hängen, der ihnen bisher entgangen war. Sie sagte, dass sie nur noch schnell die Jahreszahl nachsehen wollte, dann wüssten sie, wann der Steinbruch aufgegeben worden war. Sie ging wieder zurück und, ohne sich zu überlegen, dass er die Tür nur mit Mühe aufhielt, packte sie ihn am Arm und sagte, er solle doch mit hinsehen. Irritiert von ihrem unerwarteten, heftigen Griff, gab er für einen Moment dem Druck der Tür nach, diese entspannte sich und flog mit lautem Knall zu. Beide erschraken, dann sagte er trocken, jetzt haben wir den Salat und schickten sich an, die Tür wieder zu öffnen. Aber nichts bewegte sich. Der Türgriff ließ sich zwar drehen, aber das Schloss reagierte nicht. Wie er auch drückte und zerrte, nichts geschah. Er wurde wütend und fuhr sie an, sie sei Schuld an dieser Situation und sie solle jetzt ruhig bleiben, obwohl sie kein Wort gesagt hatte, und ihm würde schon etwas einfallen. Als sich weiterhin nichts bewegte, suchte er nach Werkzeugen, um die Tür anzuheben und aus dem Schloss zu drücken. Er fand nichts, außer der Pfanne, was auch nur im Entferntesten zu gebrauchen gewesen wäre. Bei seinen wilden Versuchen, diese als Hebel zu verwenden, brach der Stiel ab. Auch die Fenster boten keine Möglichkeit des Entkommens. Sie ließen sich öffnen, aber die Gitter waren stabil und alles Rütteln half auch hier nichts. Er wurde immer aufgeregter und wütender, sie blieb dagegen weiterhin ruhig. Dann begannen beide zu rufen, laut und ängstlich, obwohl ihnen klar war, dass sie niemand hören würde.
Die Zeit verging, sie waren nun schon ein paar Stunden in ihrem Gefängnis und es war dunkel geworden. Nachdem alle ihre Bemühungen, einen Weg nach draußen zu finden, gescheitert waren und die Dunkelheit ihre Angst noch verstärkte, setzten sie sich auf den Fußboden. Er wiederholte ständig seine Vorwürfe, beschimpfte sie und nannte sie eine dumme Kuh. Sie weinte, entschuldigte sich immer wieder und wollte sich, Trost suchend, an ihn schmiegen, aber er stieß sie wütend von sich. Daraufhin wurde sie auch wütend und ging in den anderen Raum. Irgendwann schliefen sie schließlich ein und wachten auf, als das erste Licht des Tages durch die Fenster drang und die Vögel laut und fröhlich sangen. Erneut versuchten sie die Tür und die Gitter zu bewegen, suchten die Räume nach Werkzeugen ab und schrieen abwechselnd durch die offenen Fenster laut nach Hilfe.
Die Sonne stieg hoch und senkte sich dann wieder zum Horizont. Sie hatten Durst und Hunger und ihre Angst und Verzweiflung, aber auch die Wut aufeinander nahm mit jeder Stunde zu. Zu Hause würde man sie schon seit gestern Abend vermisst haben, aber niemand wusste, wo sie hingefahren waren. Ihre ganze Hoffnung war, dass jemand die Fahrräder vor dem Tor sehen und ihre Hilferufe hören würde. Aber warum sollte ausgerechnet jetzt jemand zu dem versteckten Steinbruch kommen, wo doch schon lange niemand mehr hier gewesen war? Sie hatten jedoch Glück. Ein Förster, der zufällig in diesen abgelegenen Teil des Waldes kam und von dem Verschwinden zweier jungen Leute im Radio gehört hatte, sah ihre Fahrräder am späten Nachmittag und gab der Polizei den entscheidenden Hinweis. Kurze Zeit später wurden sie aus ihrer misslichen Lage befreit. Sie waren überglücklich, aber ihre Liebe war beendet. Sie hatte nie wieder den Wunsch, mit ihm zusammen zu sein und er konnte ihr nicht verzeihen, dass sie ihn in seiner ganzen Schwäche erlebt hatte.