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Der Bursche
Jana ließ ihre Finger über seinen Nacken gleiten.
"Sag, mußt du wirklich schon gehn?" fragte sie verschlafen. "Es ist doch noch finster... Um diese Zeit stehen noch nicht mal Straßenkehrer oder Müllmänner auf!" Sie schmunzelte und beugte sich zu ihm herab, küßte ihn sachte.
"Ich bin nun mal weder Straßenkehrer noch Müllmann," murmelte er, "leider." Er stand auf, streckte sich genußvoll und fing an sich anzuziehen.
"Und wer bist du denn?" fragte Jana neugierig. Sie wickelte sich ins Leintuch. So unausgeschlafen wie sie war, wirkte sie so fürchterlich klein und schutzlos. Doch ihre grünen Augen funkelten spitzbübig. Nein, dieses Mädchen war alles andere als schutzlos. Er grinste sie bewundernd an und antwortete: "Ich bin derjenige, den du nie von deiner Türschwelle verjagen wirst können." Er küßte ihre Nasenspitze und ging lachend zur Tür.
Jana machte ein schmollendes Gesicht. Ihr Lachen klang vergnügt und ein wenig verärgert. "Ach," flüsterte sie der sich lautlos schließenden Tür zu, "das Schlimmste ist, dass er recht hat... Ich werde es nie schaffen, ihm nein zu sagen." Jana ließ sich seufzend aufs Kissen zurück fallen. Streckte die Hand zur Lampe aus und schaltete das Licht aus.
Der erste Schnee fiel in kleinen weichen Flocken zur Erde. In Licht der Straßenlaternen sah dieses gewöhnliche Schauspiel überaus eindrucksvoll aus.
Frank fing einige Schneeflocken mit der Zunge auf und fühlte sich kindisch. Mensch, dachte er belustigt, gut, daß ihn niemand sah. Wäre doch zu lächerlich - ein erwachsener Mann streckt dem Schnee die Zunge entgegen... Nicht, daß es ihm tatsächlich peinlich wäre, nein, bloß ein klein bißchen ungemütlich... Frank schüttelte den Kopf. Zeitweise kamen ihm die dümmsten Gedanken.
Er überquerte die menschenleere Straße, lief an den noch geschloßenen Läden vorbei, an den schlafenden Wohnblöcken und dem leeren dunklen Parkplatz eines Supermarktes.
Der Schnee fiel schon die ganze Nacht über und auf allen mehr oder weniger ebenen Flächen lag nun schon eine zentimeterdicke weiße Schicht. Frank wandte sich um und überzeugte sich zufrieden, daß der Schnee hinter ihm genauso unberührt war, wie der vor ihm. Nicht, daß das so wichtig wäre, aber es gefiel ihm keine Spuren zu hinterlassen.
Es war nicht kalt und der Spaziergang bereitete Frank wahre Freude. Er dachte an Jana, dieses lustige Mädchen, das im hintersten Winkel ihrer Seele die Sehnsucht nach Wundern vergraben hatte. Jedes Mal wenn er in der Stadt war, sah er bei ihr vorbei. Irgendwann wird sie die richtige Frage stellen, wenn die Zeit dazu kommt. Und dann wird er ihr den Schlüssel zu den Wundern, nach denen sie sich so sehnt, geben.
Frank blieb vor einem unbewohnten Gebäude stehen. Einige Fenster waren vernagelt, andere glozten scheibenlos in die Nacht. An der Eingangstür hing ein altes verrostetes Schloss. Frank holte aus seiner Hosentasche einen unglaubwürdig großen Schlüsselbund, sah die gut zwei dutzend verschiedener Schlüssel durch, wählte schließlich einen aus, nickte zustimmend und riß ihn geschickt aus dem Bund. Er drehte den kleinen, ebenfalls angerosteten Schlüssel im Schloß um. Die Tür schwang auf. Frank machte sich nicht einmal die Mühe sich im dunklen Vorzimmer umzusehen, denn er wußte, daß das nicht der Ort war, den er betreten wollte. Er trat in die Dunkleheit und schloß die Tür hinter sich.
Seine Schritte hallten in der engen Gasse wider. Die bläulichen Pflastersteine sogen gierig seine Fußspuren ein. Der ewig abendliche Himmel spiegelte sich in den Dächern der hohen, schlanken Häusern, die sich an beiden Seiten der Gassen an einander drängten.
Frank spazierte, wie so oft, gelassen durch das verwirrende Labirynth der Dunklen Stadt. Er wußte, daß er ziellos vor sich hin schreiten konnte, denn das Schicksal würde ihn selbst aufsuchen. Bis jetzt tat es das immer.
Schade, daß es hier nicht schneite, dachte er, doch dieser Gedanke verschwand schnell. Er wich der wortlosen Begeisterung, die Frank stets für diesen Ort empfand. Er genoß die einzigartige Atmosphäre, die hier herrschte, die Atmosphäre von Freiheit und grenzenlosen Möglichkeiten. Frank wußte, dass die Dunkle Stadt Gefahren für unerfahrene Reisende barg. Doch er gehörte nicht zu ihnen. Und es war nicht seine Art sich über etwas Gedanken zu machen, das ihn gerade nicht betraf...
Auf einem der kleinen Plätze, die gern so unerwartet hinter der nächsten Ecke auftauchten, stieß er auf einen weiteren Wink des Schicksals. In den letzten zwanzig Jahren hatte er gut gelernt seinen Schriftzug zu erkennen und zweifelte nun nicht im Geringsten daran, daß dieses seltsame Wesen das war, wessen wegen er hier war.
Ein junger Mann, Ende zwanzig... Aber Frank wußte, daß Aussehen und Alter nichts bedeuteten, besonders an einem Ort wie diesem. Er trat näher und berührte den jungen Mann an der Schulter. Dieser drehte sich schweigend um. Frank erschrak, als er sein Gesicht sah. Sein Gegenüber war schrecklich verloren. In seinen farblosen Augen war so viel Verstörtheit, Angst und Verwirrung. Es war offensichtlich, dass der Bursche nicht einmal mehr verstand, was vor sich ging.
"Verflucht", Frank grinste hämisch, "Und wieso bin ich nicht Straßenkehrer geworden?! Allenfalls einfacher als das hier!"
Er sprach eine Zeit lang völlig erfolglos auf den verirrten Burschen ein, seufzte und pfiff ihm ins schrill Ohr. Das funktionierte immer und brachte sie unweigerlich zur Besinnung.
"Na, Freund, wie heißt du?" fragte Frank wohlwollend.
Der junge Mann blickte sich verstört um. Er wirkte immer noch gehetzt. Das war auch nicht verwunderlich. Frank mußte seine Frage ein paar Mal wiederholen, bis der Bursche ihn hörte und auf die Idee kam ihm zu antworten: "M-martin..."
"Schön, Martin, das hätten wir nun geklärt", meinte Frank, "Meine nächste Frage ist noch schwieriger: wie bist du hierher gelangt?"
Der Bursche blinzelte ihn verwirrt an.
"OK", fuhr Frank gutgelaunt fort, "Meine Schuld. Steht dir schließlich auf dem Gesicht geschrieben, dass du keine Ahnung hast, wie du hier gelandet bist."
Er betrachtete den jungen Martin nachdenklich und entschied dann: "Zuerst mal bringen wir dich von hier weg. Sobald du ein-zwei Tassen schwarzen Kaffee zu dir genommen hast, sieht das Leben gleich ganz anders aus. Du trinkst doch Kaffee, oder? Würde dir jetzt jedenfalls nicht schaden." Frank deutete dem Burschen mitzukommen und begab sich zum nächstgelegensten Haus. Martin zögerte kurz und folgte ihn dann. An der Schwelle blieb Frank stehen, nahm ihn an die Hand, grinste ihm aufmunternd zu und öffnete die Tür.
Sie traten zwischen zwei laublosen Kastanien in einem Park hervor. Die winterliche Mittagssonne schien heiter von Himmel. In der Nähe des Parkes fand sich ein gemütliches kleines Kaffee.
Frank ließ sich auf einem der Stühle nieder. Martin, immer noch schrecklich nervös, setzte sich ihm gegenüber.
Eine kleine Kellnerin in einem beigefarbenen Kleid materialisierte sich neben ihrem Tisch und erkundigte sich nach ihrer Bestellung. Frank lächelte sie strahlend an und bestellte sich einen Espresso. Sie notierte es in ihrem Heftchen, blickte Martin an. Dieser bestellte zerstreut "irgendeinen Kaffee". Die Kellnerin nickte und eilte in Richtung Tresen davon.
"Na, Martin, wie fühlst du dich nun?" fragte Frank, nachdem sie beide ihre Tassen fast zur Hälfte geleert hatten.
"Besser... ", murmelte der Bursche unsicher und blickte sein Gegenüber erstaunt an.
Frank lächelte ihn strahlend an und meinte: "Na, hast du keine Fragen, die du stellen wolltest?"
Martin nickte langsam, räusperte sich und sagte dann leise: "Wer, zum Teufel, sind Sie? ...Und was ist mit mir geschehen?" Unvorsichtig stellte er die Kaffeetasse auf den Tisch zurück. Das ungewollt laute Geräusch liess ihn dabei selbst zusammenzucken.
Frank musterte ihn aufmerksam und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. "Mein Name ist Frank", antwortete er, "Ich bin ein Schlüsselwart. Ich öffne die Tore zu anderen Welten für diejenigen, die bereit dazu sind." Frank betrachtete den Gesichtsausdruck des Jungen, der sich immer unruhiger wurde. Zuerst war in seinem Gesicht nur Verwirrtheit zu lesen und dann veränderte er sich allmälig - er begann zu verstehen. Als der Sinn der Worte ihm völlig bewusst wurde, spürte Frank die Welle der ansteigenden Aufregung, die Martin empfand.
"Heisst das", der Bursche beugte sich aufgeregt über den Tisch. "Heisst das... auch für mich..? Bin ich bereit? ...Warte, warte mal... Andere Welten? War ich... in einer anderen Welt?" Seine Augen leuchteten. Seine Stimme wurde zu einem heiseren Flüstern: "Diese anderen Welten... wieso weiss niemand über sie?"
Franks kurzes Lachen verstörte ihn ein wenig. Martin lehnte sich im Sessel zurück, starrte ihn jedoch weiterhin an.
"Martin", erwiderte der Schlüsselwart belustigt. "Natürlich bist du nicht bereit. Das sieht man dir an." Der Bursche war sichtlich enttäuscht. "Ja, du bist irgendwie, wahrscheinlich vollkommen zufällig, durch ein Tor geschlüpft", fuhr Frank erbarmungslos fort. "Und bist in die Dunklen Stadt gelangt, an einen Platz, wo sich unzählige Welten miteinander treffen, sich berühren und kreuzen. Der ideale Ort, für Reisende." Er lächelte dem immer blasser werdenden Jungen zu. "Aber du warst darauf nicht vorbereitet. Denn du bist ungewollt und unbewusst dorthingelangt. Das geschieht hin und wieder. Mach dir nichts draus." Frank nahm einen grossen Schluck seines Kaffees. Der Geschmack des lauwarmen Kaffee gefiel ihm nicht, er schluckte ihn rasch und verzog das Gesicht.
"Aber", flüsterte Martin, "wieso weiss niemand darüber?"
"Weil es geheim ist", zwinkerte Frank ihm spöttisch zu.
"Und was, wenn ich irgendjemandem über unser Treffen berichte?" fragte der Bursche trotzig. "Wieso erzählen Sie mir das alles, wenn es so geheim sein soll?"
"Oh!", lachte der Schlüsselwart. "Wenn du irgendjemandem erzählst, wie du versehentlich aus dieser Wirklichkeit an eine Welten-Kreuzung gelangt bist und einen Typen getroffen hast, der meint über irgenwelche mystischen Schüssel zu verfügen, die irgendwelche mystischen Tore zu irgendwelchen mystischen Anderen Welten öffnen könnten, und der dich auf einen Kaffee in einem kleinen Strassencafe eingeladen hat, was denkst du, welche Reaktion wird auf deine atemberaubende, wenn auch, meiner Meinung nach, etwas zu fade, Geschichte folgen? Sie werden dich für verrückt oder high halten... Und übrigens, genau so siehst du zur Zeit auch aus."
Martin starrte ihn sprachlos an. Der fiebrige Glanz seiner Augen und das leichte Zittern seiner Hände als er die Tasse zum Mund hob, liessen den Jungen wirklich ein wenig verstört erscheinen. Frank hatte fast Mitleid mit ihm. Sie empfanden stets einen unglaublichen Stress, wenn sie plötzlich in die Dunkle Stadt glieten. Für den, dem der Schlüsselwart das Tor nicht mit dem für ihn bestimmten Schlüssel auftat, war der Aufenthalt in der Stadt einem kurzem Ausflug in die Hölle gleich. Frank wusste nicht, wieso das so war. Eigentlich wusste er selbst nicht viel mehr, als der durchschnittliche Reisende, den er durch liess. Er konnte für sich nicht einmal erklären, wieso zuweilen Menschen aus der für sie gedachten Welt fielen und sich in der Dunklen Stadt wiederfanden.
"Ausserdem wirst du das alles bald vergessen haben", fügte Frank leise hinzu. Der Bursche blinzelte ihn fragend an. Das war das Gute an seinem Job, dass er ihr Gedächtnis redaktieren konnte. Und dieser Vorfall wird für Martin nie stattgefunden haben. Wieso sollte der Junge sich auch an so etwas errinnern wollen? Er hatte das ganze Leben noch vor sich. Er konnte in einigen Jahren sogar ganz offiziell auf einen Schlüssel prätendieren.
Frank winkte die Kellnerin herbei, die die Rechnung brachte, zahlte und erhob sich von Tisch. Martin sah ihn erwartungsvoll an. Er wirkte enttäuscht und müde. Frank nickte dem Burschen wohlwollend zu und sah, wie dieser erschöpft die Augen schloss. Sein Kopf senkte sich auf seine Brust. Er schlief. Die Sonnenstahlen tanzten auf seinen Turnschuhen, der Rest seines Körpers befand sich im Schatten des dunkelbraunen Sonnenschims. Mit geschwinden, gewohnten Bewegungen räumte die kleine Kellnerin die leeren Kaffeetassen weg und wischte den Tisch sauber. Sie warf Frank einen vielsagenden Blick zu, grinste und verschwand. Das Strassencafe war vollkommen leer. Nur an einem der Tische schlief Martin. Frank betrachtete ihn eine Weile. "Zum vierten Mal", dachte er, "Zum vierten Mal wiederholt sich diese idiotische Geschichte. Wann wird der Bursche endlich lernen sein Leben bewusster zu leben?" Frank war es schon Leid ihn immer wieder in die Wirklichkeit zu befördern. Was ging mit diesem Jungen vor? Frank schüttelte den Kopf und drehte dem einsamen Cafe den Rücken zu. Er überquerte den menschenleeren, sonnenüberfluteten Platz und löste sich hinter der nächsten Strassenecke auf.