Der Dämon in mir
Wenn ich mal wieder im Bett liege, mich erbrechen muss, es nicht mehr bis zur Toilette schaffe und daher den bereitgestellten Eimer benutze, - wenn mein Nasenbluten den Ausmaßen der Niagarafälle entspricht, - wenn ich mich vor Schmerzen krümme und winde, - dann stirbt der Dämon in mir…
Sommer ´86
Es ist ein heißer, trockener Sommer. Ich bin neun. Ein glückliches aktives Kind, dem nichts besser gefällt, als mit seinen Freunden durch den Garten zu tollen. Der Rasensprenger ist unser liebstes Spielgerät. Immer und immer wieder laufen wir in diesen Tagen durch das erfrischende Nass, quietschend und gröhlend vor Vergnügen…
Das sind meine schönen Erinnerungen an den Sommer ´86. Aber es gibt auch andere Erinnerungen. Erinnerungen, die mich nachts plagen…
Besorgt bemerkt meine Mutter eines Tages die vielen blauen Flecken, mit denen mein gesamter Körper übersät ist. Mein Vater, Allgemeinmediziner beruhigt sie: Das sei doch ganz normal in meinem Alter. Beim Toben mit Freunden blieben solche Blessuren nun mal nicht aus. Eine klassische Fehleinschätzung. Diese Fehleinschätzung besiegelt den Tod ihrer Ehe.
Es bleibt nicht bei den Hämatomen. Im Laufe der nächsten Wochen kommen ständiges Nasenbluten, Appetitlosigkeit und Abgeschlagenheit hinzu. Meine Mutter wird langsam hysterisch – auch mein Vater kommt mittlerweile zu einer anderen Einschätzung der Situation: An einem Mittwoch Ende August fahren wir ins Krankenhaus. Alle gemeinsam. Nachdem mein Vater am frühen Vormittag die Ergebnisse meiner Blutuntersuchung erhalten hat. Er lächelt, als er mir erklärt, dass auch andere Ärzte mich noch untersuchen müssten, damit ich wieder gesund werden könnte. Noch heute kann ich das Gesicht meines Vaters vor meinem inneren Auge sehen, als ich ihn damals frage: „Bin ich denn krank? Aber ich hab’ doch gar kein Fieber...“ Anstatt zu antworten, streicht mein Vater mir mit seiner großen, schlanken Hand über das Haar. In diesem Moment ahne ich bereits, dass es sich nicht um einen einfachen Schnupfen handeln kann.
Denn zwischen mir und meinem Vater gibt es sonst nie den Austausch von Zärtlichkeiten. Seine Hand auf meinem Kopf beunruhigt mich mehr, als es irgendeine seiner ärztlichen Erklärungen hätten vermögen können.
Und habe ich in diesem Moment auch noch nicht vollständig begriffen, dass es womöglich um Leben und Tod geht, so wird es mir spätestens bewusst, als ich in das verweinte Gesicht meiner Mutter blicke, die sorgsam jeden Augenkontakt mit mir vermeidet. Stattdessen nimmt sie mich wortlos an die Hand. So fest, dass sie mir dabei fast weh tut.
Aber ich beschwere mich nicht. Der Schmerz in meiner Hand lenkt mich ab. Lenkt mich ab von den Überlegungen und der unbestimmten Angst, dass ich womöglich sterben könnte.
Auch wenn ich in diesem Moment noch nichts über meine Krankheit wusste, konnte ich mit meinen neun Jahren spüren, dass irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war. Im Nachhinein nehme ich meinen Eltern nicht übel, dass sie mir nicht bereits auf dem Weg ins Krankenhaus erklärt haben, was mit mir nicht stimmte – wie sollte man einem Neunjährigen auch erklären, dass er auf einmal Krebs hatte. Leukämie.
Womöglich sterben würde.
Von heute auf morgen aus seinem kindlichen Leben gerissen. Legosteine plötzlich gegen Spritzen und Chemotherapie ausgetauscht. Plötzlich tapfer und erwachsen sein zu müssen auch wenn man sich nichts mehr wünschte als im Schoß der Mutter bitterlich zu weinen.
Auf all’ dies konnten meine Eltern mich nicht vorbereiten – nicht auf dem Weg ins Krankenhaus – aber auch später nicht.
Ihre Ehe, ihre Liebe zerbrach an meiner Krankheit. Beide wurden, über die Angst mich zu verlieren, unfähig miteinander zu kommunizieren. Anstatt sich in ihrer Angst und Sorge um mich gegenseitig beizustehen, sich zu unterstützen, zogen sich beide in ihr eigenes, kleines Schneckenhaus zurück und ließen mich alleine. Draußen. Ausgesperrt. Zwischen den Stühlen, - mit meiner eigenen unbeschreiblichen Angst vor dem Tod.
Ich habe nie, bis heute fast zwanzig Jahre später, mit ihnen darüber geredet. Ich spüre eine gewisse Verbitterung. Und doch weiß ich, dass ich ihnen keinen Vorwurf machen kann. Immer wieder erlebe ich, wie schwierig es für andere Menschen ist, mit meiner Krankheit umzugehen – vor allem für die, die mir nahestehen. Sie haben Angst sich emotional einzulassen. Den unerträglichen Schmerz zu erfahren, wenn ich sterben würde.
Ich verstehe das.
Aber es bedeutet für mich seit zwanzig Jahren ein Leben in Einsamkeit, in emotionaler Isolationshaft. Niemand hat den Mut darauf zu vertrauen, dass ich die Krankheit vielleicht besiegen könnte.
Zweimal galt ich schon fast als geheilt, hatte die magische Grenze von fünf Jahren ohne Rückfall bis auf wenige Wochen erreicht...
In der Zeit war mein Dämon stark.
Aber dann war es doch wieder soweit: Ich bin Profi geworden.
Darin, schlechte Nachrichten in den Gesichtern von Menschen zu lesen. Auch wenn Ärzte immer lächeln. Ich kann bereits bevor sie es aussprechen die Diagnose in ihren Augen lesen.
Er ist zurück. Mein Krebs. Auch jetzt.
Wieder.
Ich bin neunundzwanzig. Wenn es meine Therapie und der Zustand meines Körpers zulassen, studiere ich. Medizin. Ich hatte noch nie eine Freundin, konnte meinen Führerschein bisher nicht machen, werde seit zwanzig Jahren von einer Krankheit beherrscht. Eine Krankheit, die mich offensichtlich weder sterben noch leben lassen will...
Aber an Tagen an denen ich mich so fühle wie heute, ist mein Dämon stark.
Vielleicht schaffe ich es ja doch irgendwann ein normales Leben zu führen...
Doch dann kommen die Tage nach der Chemo – ich weiß nicht einmal, die wievielte es mittlerweile ist – und ich schaffe es nicht alleine aufzustehen. Mein Zimmer, mein Körper, alles stinkt nach Kotze, ist voller Blut. Und ich ekele mich vor dem was ich bin. Ein Wrack. Finde alles sinnlos. Unnütz die Quälerei zu ertragen.
An solchen Tagen kann ich spüren, wie er stirbt – der Dämon in mir.
Meine Hoffnung.