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Der Dank
Der Dank
Mika hielt den Atem an.
Wenige Zentimeter unter seinen zitternden Fingern, inmitten eines wüsten Schlachtfeldes aus buntem Kabelgewirr, kupferblitzenden Drähten und Anschlüssen, filigranen Schriftzeichen und rätselhaften Zahlenkolonnen konnte er das von unzähligen Löchern durchsiebte Rechteck kaum ausmachen.
Doch er wusste: es war da. Er konnte es beinahe spüren.
Das unbändige Verlangen. Die Gier nach genau dem unscheinbaren Gegenstück, das er beinahe zärtlich in seiner schweissnassen Hand barg, behutsam, wie die kostbare, und doch so empfindliche Blüte einer seltenen Blume. Den Hunger nach Leben-
"Mika!"
Sein Herz schien für einge ewig dauernde Augenblicke still zu stehen.
"Den blöden Computer kannst du später noch reparieren", tönte es von unten.
"Dein Essen wird gleich kalt!"
Er legte den Prozessor vorsichtig zurück auf die Schutzfolie, hob den linken Arm und wischte sich am Ärmel seines Pullovers den Schweiss von der Stirn. Ein leises Seufzen drang aus seiner Kehle, und der Blick seiner schmerzenden Augen suchte das kleine Fenster in der Dachschräge seines Zimmers, glitt über weisse Wände und Regale voller Bücher über Elektronik, Physik, Science Fiction, und fand ein schwarzes Loch.
Draussen war es bereits dunkle Nacht.
Aber er war ja auch so gut wie fertig.
"Ja, Mama, gleich!", rief er zurück, so leise, dass seine Mutter ihn selbst dann kaum verstanden hätte, hätte sie direkt neben ihm gestanden.
Leise gähnend rieb er sich die Augen, schüttelte die Hände aus und griff dann vorsichtig zu dem mit goldenen Stacheln bewehrten Stück Technik. Er hatte es bei seinem Onkel aus der Mülltonne geklaubt. Verfluchtes Ding, hatte der gesagt.
Verfluchtes Mistding.
Aber was wusste der schon. Alt und verkalkt.
Seine Gelenke gaben ein protestierendes Knacksen von sich als er sich streckte.
Das hier musste er noch zu Ende bringen. Konnte er dieses kunstvoll künstliche Wesen auch nur eine Minute länger in diesem Zustand belassen? Auch nur eine Sekunde mehr ohne Leben?
"Nein", flüsterte er kaum hörbar zu sich selbst, "Nein, nicht ohne ein neues Herz..."
Seine Hand tastete sich ein weiteres Mal gefühlvoll durch den Urwald ineinander verschlungener, grauer und roter und gelber Stränge, und fast hatte er das Gefühl, sie wichen vor ihm zurück, als geleiteten sie ihren neuen Herrscher auf dem Weg zum Thron. Lebendig, und voller Erwartungen...
Als die CPU schliesslich ungehindert in ihre Fassung glitt, glaubte er für einen winzigen Moment, ein unmerkliches Raunen zu vernehmen...doch da war nichts.
Er schüttelte den Kopf. "Du bist echt ein Spinner. So unrecht haben sie in der Schule wohl doch nicht."
Routiniert schraubte er den Kühler fest und kroch dann unter den Schreibtisch zum Netzstecker für einen ersten Probelauf. Das Gehäuse und die restlichen Kabel konnten noch warten.
Er steckte ein.
Und mit einem leisen Knistern ging das Licht aus.
Es wurde stockfinster.
Beinahe.
Je mehr sich seine Augen auf die überstürzte Flucht des Lichtes einstellten, desto besser konnte er auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers ein gedämpftes Leuchten ausmachen, das unter der Zimmertür hervorquoll und den Raum in ein zwielichtiges Dunkel tauchte, hart an der Grenze zu undurchdringlichem Schwarz.
Ein schmerzhaft lautes Summen und Piepsen drängte sich in seine Gehörgänge, und ein Gedanke flammte hinter seiner Stirn auf.
Es funktioniert! Er funktioniert!
Beinahe wäre er vor Aufregung aufgesprungen, doch angesichts der massiven Holzplatte irgendwo dort über seinem Kopf konnte er sich im letzten Moment bremsen. Weniger vernünftig als zwangsläufig gebremst kroch er vorsichtig unter dem Tisch hervor, als er plötzlich direkt neben seinem Gesicht einen Luftzug spürte.
Ein wuchtiger Schlag traf seine rechte Schulter, und schleuderte ihn zu Boden.
Einem Geysir gleich fauchte eine Woge des Schreckens durch seinen Körper, raubte ihm den Atem und wirbelte seine Gedanken durcheinander wie der Sturm einen Haufen welker Blätter.
Er konnte sich nicht bewegen.
Er konnte nicht denken. Nicht sehen. Hören.
Schrilles Piepsen. Wie höhnisches Gelächter.
Dann kam der Schmerz. Kurz und heftig. Ein Strohfeuer.
Wimmernd sah Mika nach oben. Und begann zu schreien. Er hätte es getan.
Wäre nicht in diesem Augenblick einer der viel zu langen Kabelstränge vorgeschossen und hätte sich um seinen Hals gewickelt. Messerscharf schnitt er in die weiche Haut. Das schwarze Kabel färbte sich rot. Ein ersticktes Gurgeln drang aus Mikas Kehle.
Verzweifelt versuchte er sich zu befreien, doch der dünne Strang war stärker als jedes Stahlseil. Und es flogen immer mehr heran. Sie umschlungen seine Beine und liessen ihn stolpern. Schlangen sich um seine Arme und hefteten sie an seinen Körper. Schnürten ihn zusammen wie einen Rollbraten.
„Hilfe!“, wollte er rufen, doch er brachte nur ein schwaches „hchrch“ zustande.
Er verlor den Boden unter den Füssen, und vernahm bald ein allzu vertrautes Sirren, das schnell lauter wurde. In einem von diabolisch flackernden Lämpchen erhellten Kasten auf seinem Schreibtisch, zwischen sich zuckend windender Kabelleiber und gleissend aufblitzender Lichtbögen, wirbelte ein schwarzer Mahlstrom aus rasenden Klingen und trug den beissenden Geruch verschmorter Elektronik in seine Nase. Blanke Panik erfasste den Jungen, und er warf sich mit aller Kraft herum. Doch die fehlgeleitenden Leitungen hielten ihn unerbittlich gepackt, und zerrten seine Nase genau auf den wild rotierenden Lüfter zu.
Mika schloss die Augen.
Die Tür öffnete sich ein kleines Stück weit. Licht fiel herein.
„Hast du gehört, Mika?“ sagte jemand.
„Lass das Mistding bis Morgen warten. Abendessen.“
Das Piepsen und Sirren verstummte. Er hätte gerne geantwortet. Aber es ging nicht.
„Schläfst du schon?“
„Hchrch!“
„Dann gute Nacht.“
„MHMMH HCHRCH!“
Die Tür ging zu.
Es wurde wieder
dunkel.