Der Dichter und das Leben
Vor Zeiten, deren jahresmäßige Ausdehnung mir weder bekannt ist, noch auch irgendwie das im Folgenden dargestellte Geschehen tangiert, da gab es einen etwas verrückten Dichter, der von der Wohlfahrt des Staates finanziert zwei Räume im obersten Stockwerk eines hässlichen Hochhauses bewohnte und dort nicht vielmehr tat, als seinem Berufe zu entsprechen, indem er eben von früh bis spät, von Montag bis Sonntag und von Januar bis Dezember - schrieb.
Er stand am Morgen zu regelmäßiger Zeit auf, erfrischte sich mit weckenden Wasserspritzern, trieb peinlich gründliche Hygiene, nahm eine kleine Mahlzeit zu sich und begann dann die erste Tageshälfte schreibend zu füllen. Es folgte der Mittag mit einer weiteren kleinen Mahlzeit und schliesslich die zweite schreibend verbrachte Tageshälfte, die einzig durch eine pünktliche Viertelstunde des Genusses von leider sehr billigem Kaffee unterbrochen wurde. Bis zum Abend wurde dann wieder geschrieben. Wenn ich sage, dass er schrieb, so heisst dies nun nicht, dass seine Feder (in der Wirklichkeit war es ein schlechter Bleistift) unermüdlich Buchstaben zeichnend über das Papier fuhr; nein, es gab durchaus Unterbrechungen, die mitunter Stunden füllen konnten, doch unser Dichter verliess auch dann seinen Schreibtisch (der in der Wirklichkeit auch ein Esstisch war) keinesfalls, sondern harrte tapfer der Dinge, die ihm in den suchenden Dichterkopf kommen mochten. Ja, was waren dies eigentlich für Dinge? Das wollen wir nun untersuchen.
Hass und Verzweiflung und Selbstmitleid waren die Dinge von denen seine Feder klagend sang, und all der Hass wandte sich ganz ausschliesslich gegen die seltsame Erscheinung, die man das Leben nennt; überall dort, wo der Dichter sich Leben und Lebendigkeit offenbaren sah, überall dort, wo es besonders deutlich, kräftig und fröhlich und unbesonnen geschah, dort war auch zugleich sein Hass. So hasste er tollende Hundewelpen und tollende Menschenkinder, so hasste er karnevalistische Umzüge und Frühlingserwachen; im Grunde – und er wusste es ja selbst – hasste er an Leben und Lebendigkeit vor allem dieses, dass sie an ihm und seinem Dasein so arrogant vorübergegangen waren, dass unser Herr Dichter im Text der Welt nicht vielmehr als eine weisse Auslassung war, die weder sich noch anderen von Bedeutung, geschweige denn eine Freude oder Lust hätte sein können.
Das war der Antrieb seines Schreibens, diesen Ekel wollüstig aufs Blatt zu speien, und indem er Tag für Tag ausspeite, wuchs der Ekel Stück für Stück an. Sagen wir es nur geradewegs heraus: all die Pamphlete gegen die Menschen, all die metaphysischen Abhandlungen, die den Unwert allen Lebens auf insgesamt wohl tausend Seiten postulierten und bewiesen, all die dunkel-düsteren Gedichte, sämtliche Erzählungen und Romane, die er um jenes Nichts flocht, um jene Auslassung im Welttext, jenen unhörbar ärmlich quietschende Ton im mächtig schwellenden Weltgetöne – sein ganzes literarisch-philosophisches Gesamtwerk, es war nichts, es war nichts und hätte ebenso gut ausgelassen werden können.
Wäre unser Dichter doch in seiner Jugend konsequent gewesen, hätte er sich doch frühzeitig genug erschlagen! Denn so will und fordert es das Prinzip namens Leben, dass nämlich der Stoff, der nichts taugt und sich weder erhalten noch fortpflanzen kann, dass er sich in die Nichtexistenz zurückverflüchtigt – ach, wir Menschen sind so anders, so seltsam und vermögen auch dort noch zu leben, wo uns das Leben längst nicht mehr haben will! Und es rächt sich ja, nichts unter Gottes grossem Auge bleibt ungesühnt, unzählige Millionen auf dem Erdball spüren das und vielleicht tausend von ihnen wissen ganz genau weshalb sie leiden und was sich da an ihnen mit Leid und Elend rächt... sie hören die hässliche Forderung Tag und Nacht: „Du bist dort, wo du nicht sein solltest – mach Platz! Geh!“ Und doch bleiben die meisten von ihnen. Ach, ihr armen Elenden!
Doch darum haben wir uns ja nicht hauptsächlich versammelt, uns über mancher Menschen Schicksal zu beklagen, sondern die letzte Handlung eines einzelnen dieser Menschen zu betrachten – Handlung, kann man es Tun und Handeln nennen? Wir werden sehen, und ein jeder urteile dann selbst.
Es war nämlich im Frühjahr, dass der seltsame Dichter unwillkürlich von seinen Papieren aufblickte und einen breiten Lichtstrahl wahrnahm, der blitzend durch die halbgeschlossenen Jalousien unter den raummittig stehenden Schreibtisch taumelte und dort, zu des Dichters Füßen als eine scharf gezeichnete, helle Linie erstarrte. Staub waberte sichtbar geworden in der Luft. Der Dichter blickte herab, besah sich die äusserst scharfe Linie von Licht und verspürte den Wunsch, die Quelle dieses plötzlichen Lichteinfalls zu betrachten. Zwei schmale Finger spreizten die Lamellen der Jalousie auseinander, zwei müde Augen blickten zum Himmel; es war, und konnte ja gar nichts anderes sein, die Sonne, die hinter Wolken hervorgekommen war und den gleißenden Fluss, die gelb erleuchtende Stadt und ihre lachenden Menschen ganz verschwenderisch mit Wärme und Licht übergossen hatte... Überall, so schien es dem ängstlich und neugierig durch die Lamellen äugenden Dichter, blitzten Spiegelungen, von den Wellen des Flusses, von aufgerissenen Fenstern, glänzend lackierten Autodächern, ja sogar von Brillen zu ihm hinauf gelenkt...
Wie war ihm da? Die Angst fiel ab, der Hass auf Frühling und Leben war vergessen, Licht ergoss sich in das dunkle Vakuum seiner Seele, gleißend, wonnevoll erwärmend und liess den Dichter sich und seine Vergangenheit, dies trocken-vergebliche Gestern, das sein totes Leben war, liess es ihn einfach vergessen, liess ihn leichtfüßig darüber hinweggehen... hinein ins warme, warme Leben zog es ihn! Teil wollte er nehmen, teil wollte er haben an diesem Frühlingstag, wollte am Ufer auf und ab spazieren wie es all die anderen Menschen dort taten, Steine übermütig ins Wasser schleudern, ein Eis verzehren, Kindern ein Eis spenden, mit Spaziergängern eine Unterhaltung über das herrliche Wetter beginnen, einen „Guten Tag!“ wünschen und einen „Guten Tag!“ empfangen...
Hinfort mit den Jalousien! Auf das Fenster! Hastig, durstig, hungrig, besessen arbeiteten schlanke Hände die Lamellen zu Boden und rissen das Fenster auf – die schmale Brust drohte zu bersten, so tief und innig sog der Dichter die laue Luft ein. Erinnerungen, Kindheit, Frühling, Unbewusstheit, Gesundheit, alles das!
Da stand er schon auf dem Fenstersims und machte einen Schritt nach vorne.