Was ist neu

Der Dichter und das Leben

Mitglied
Beitritt
10.11.2001
Beiträge
12

Der Dichter und das Leben

Vor Zeiten, deren jahresmäßige Ausdehnung mir weder bekannt ist, noch auch irgendwie das im Folgenden dargestellte Geschehen tangiert, da gab es einen etwas verrückten Dichter, der von der Wohlfahrt des Staates finanziert zwei Räume im obersten Stockwerk eines hässlichen Hochhauses bewohnte und dort nicht vielmehr tat, als seinem Berufe zu entsprechen, indem er eben von früh bis spät, von Montag bis Sonntag und von Januar bis Dezember - schrieb.
Er stand am Morgen zu regelmäßiger Zeit auf, erfrischte sich mit weckenden Wasserspritzern, trieb peinlich gründliche Hygiene, nahm eine kleine Mahlzeit zu sich und begann dann die erste Tageshälfte schreibend zu füllen. Es folgte der Mittag mit einer weiteren kleinen Mahlzeit und schliesslich die zweite schreibend verbrachte Tageshälfte, die einzig durch eine pünktliche Viertelstunde des Genusses von leider sehr billigem Kaffee unterbrochen wurde. Bis zum Abend wurde dann wieder geschrieben. Wenn ich sage, dass er schrieb, so heisst dies nun nicht, dass seine Feder (in der Wirklichkeit war es ein schlechter Bleistift) unermüdlich Buchstaben zeichnend über das Papier fuhr; nein, es gab durchaus Unterbrechungen, die mitunter Stunden füllen konnten, doch unser Dichter verliess auch dann seinen Schreibtisch (der in der Wirklichkeit auch ein Esstisch war) keinesfalls, sondern harrte tapfer der Dinge, die ihm in den suchenden Dichterkopf kommen mochten. Ja, was waren dies eigentlich für Dinge? Das wollen wir nun untersuchen.
Hass und Verzweiflung und Selbstmitleid waren die Dinge von denen seine Feder klagend sang, und all der Hass wandte sich ganz ausschliesslich gegen die seltsame Erscheinung, die man das Leben nennt; überall dort, wo der Dichter sich Leben und Lebendigkeit offenbaren sah, überall dort, wo es besonders deutlich, kräftig und fröhlich und unbesonnen geschah, dort war auch zugleich sein Hass. So hasste er tollende Hundewelpen und tollende Menschenkinder, so hasste er karnevalistische Umzüge und Frühlingserwachen; im Grunde – und er wusste es ja selbst – hasste er an Leben und Lebendigkeit vor allem dieses, dass sie an ihm und seinem Dasein so arrogant vorübergegangen waren, dass unser Herr Dichter im Text der Welt nicht vielmehr als eine weisse Auslassung war, die weder sich noch anderen von Bedeutung, geschweige denn eine Freude oder Lust hätte sein können.
Das war der Antrieb seines Schreibens, diesen Ekel wollüstig aufs Blatt zu speien, und indem er Tag für Tag ausspeite, wuchs der Ekel Stück für Stück an. Sagen wir es nur geradewegs heraus: all die Pamphlete gegen die Menschen, all die metaphysischen Abhandlungen, die den Unwert allen Lebens auf insgesamt wohl tausend Seiten postulierten und bewiesen, all die dunkel-düsteren Gedichte, sämtliche Erzählungen und Romane, die er um jenes Nichts flocht, um jene Auslassung im Welttext, jenen unhörbar ärmlich quietschende Ton im mächtig schwellenden Weltgetöne – sein ganzes literarisch-philosophisches Gesamtwerk, es war nichts, es war nichts und hätte ebenso gut ausgelassen werden können.
Wäre unser Dichter doch in seiner Jugend konsequent gewesen, hätte er sich doch frühzeitig genug erschlagen! Denn so will und fordert es das Prinzip namens Leben, dass nämlich der Stoff, der nichts taugt und sich weder erhalten noch fortpflanzen kann, dass er sich in die Nichtexistenz zurückverflüchtigt – ach, wir Menschen sind so anders, so seltsam und vermögen auch dort noch zu leben, wo uns das Leben längst nicht mehr haben will! Und es rächt sich ja, nichts unter Gottes grossem Auge bleibt ungesühnt, unzählige Millionen auf dem Erdball spüren das und vielleicht tausend von ihnen wissen ganz genau weshalb sie leiden und was sich da an ihnen mit Leid und Elend rächt... sie hören die hässliche Forderung Tag und Nacht: „Du bist dort, wo du nicht sein solltest – mach Platz! Geh!“ Und doch bleiben die meisten von ihnen. Ach, ihr armen Elenden!
Doch darum haben wir uns ja nicht hauptsächlich versammelt, uns über mancher Menschen Schicksal zu beklagen, sondern die letzte Handlung eines einzelnen dieser Menschen zu betrachten – Handlung, kann man es Tun und Handeln nennen? Wir werden sehen, und ein jeder urteile dann selbst.
Es war nämlich im Frühjahr, dass der seltsame Dichter unwillkürlich von seinen Papieren aufblickte und einen breiten Lichtstrahl wahrnahm, der blitzend durch die halbgeschlossenen Jalousien unter den raummittig stehenden Schreibtisch taumelte und dort, zu des Dichters Füßen als eine scharf gezeichnete, helle Linie erstarrte. Staub waberte sichtbar geworden in der Luft. Der Dichter blickte herab, besah sich die äusserst scharfe Linie von Licht und verspürte den Wunsch, die Quelle dieses plötzlichen Lichteinfalls zu betrachten. Zwei schmale Finger spreizten die Lamellen der Jalousie auseinander, zwei müde Augen blickten zum Himmel; es war, und konnte ja gar nichts anderes sein, die Sonne, die hinter Wolken hervorgekommen war und den gleißenden Fluss, die gelb erleuchtende Stadt und ihre lachenden Menschen ganz verschwenderisch mit Wärme und Licht übergossen hatte... Überall, so schien es dem ängstlich und neugierig durch die Lamellen äugenden Dichter, blitzten Spiegelungen, von den Wellen des Flusses, von aufgerissenen Fenstern, glänzend lackierten Autodächern, ja sogar von Brillen zu ihm hinauf gelenkt...
Wie war ihm da? Die Angst fiel ab, der Hass auf Frühling und Leben war vergessen, Licht ergoss sich in das dunkle Vakuum seiner Seele, gleißend, wonnevoll erwärmend und liess den Dichter sich und seine Vergangenheit, dies trocken-vergebliche Gestern, das sein totes Leben war, liess es ihn einfach vergessen, liess ihn leichtfüßig darüber hinweggehen... hinein ins warme, warme Leben zog es ihn! Teil wollte er nehmen, teil wollte er haben an diesem Frühlingstag, wollte am Ufer auf und ab spazieren wie es all die anderen Menschen dort taten, Steine übermütig ins Wasser schleudern, ein Eis verzehren, Kindern ein Eis spenden, mit Spaziergängern eine Unterhaltung über das herrliche Wetter beginnen, einen „Guten Tag!“ wünschen und einen „Guten Tag!“ empfangen...
Hinfort mit den Jalousien! Auf das Fenster! Hastig, durstig, hungrig, besessen arbeiteten schlanke Hände die Lamellen zu Boden und rissen das Fenster auf – die schmale Brust drohte zu bersten, so tief und innig sog der Dichter die laue Luft ein. Erinnerungen, Kindheit, Frühling, Unbewusstheit, Gesundheit, alles das!
Da stand er schon auf dem Fenstersims und machte einen Schritt nach vorne.

 

hallo Chrysanth,

um das tote Leben des Dichters geht es in dieser Geschichte. Das ist ein altes Thema. Man lese von Thomas Mann "Tonio Kröger" und man wird eingeführt in den alten Gegensatz von Kunst und Leben.
Warum fängt ein Mensch an zu schreiben? Doch nur deshalb, weil er Notwendigkeit verspürt zu reflektieren über all das, was das tätige Leben ihm versagt oder ihm an Problemen bereitet. Ein Mensch, der kraftvoll hineingreift in das Leben und es in allen Zügen verkostet, die Situationen, die volles Leben bieten kann, in üppiger Form durchlebt und genießt, ja ein solcher wird kaum den Federkiel in die Hand nehmen. Er hat nämlich Wichtigeres zu tun. Nur die vom Leben Enttäuschten oder die unter den Problemen des Lebens Leidenden greifen zum Federkiel. Aber, was sie schreiben, ist gereift unter dem Diktat des Schmerzes und der Enttäuschung und kann heilsame Lehre sein für all die, welche ebenfalls mit dem Leben nicht problemlos zurechtkommen.
Man glaube ja nicht, dass der Künstler sich freiwillig vom Leben distanziert hat. Aber kaum einer weiß die Freuden des Lebens zu schmecken wie er.

Viele Grüße

Hans Werner

 

Klasse!

Tristan Harzen könnte sich ne Scheibe abschneiden, hehe. Ausgeklügelt und in einem Fluß. Der arme Poet ... ist halt doch ne Berufung, das Schreiben.

Heiko

 

hallo,
...also, um auf den letzten beitrag einzugehen: ich vermute eine verbindung zwischen chrysanth und tristan harzen...

 

Jetzt wirds aber kompliziert ...

Tristan Student aus Köln, chrysanth aus Bergisch Gladbach, data ist Student aus Köln ... und data ist plötzlich ganz neu, einen Beitrag und der direkt zum Thema?

Was soll ich davon nun halten?

[Beitrag editiert von: Morphin am 28.11.2001 um 08:45]

 

bei uns in der kölner uni gibt es mehr als einen studenten - glaub mir. falls man hier als neues mitglied allerdings nichts mitteilen darf, was man als auffälligkeit beobachtet hat - bzw. meint beobachtet zu haben - ohne direkt in irgendwelche verdachtsmomente zu geraten, ist das schon ärmlich. falls ich die anspielung richtig verstehe, setzt du mich als drittes oder zweites pseudonym fest. toll, dann hoffe ich, dass sich nicht noch ein paar neulige zu dieser geschichte äussern, sonst bin ich hier bald wohl 20fach vertreten. aber lassen wir das, es soll ja um die geschichten gehen. ich meine lediglich eine artverwandtschaft zwischen den texten erkannt zu haben, sprachlich und inhaltlich, wobei mir 'unterm baume' noch besser gefällt als der 'dichter und das leben'. ich hab im moment ziemlich viel unikram zu erledigen, deshalb entschuldigt dieses vorerst oberflächliche anreissen meiner meinung, später werde ich mich mal genauer mit der geschichte auseinandersetzen wollen. bis dahin!

[Beitrag editiert von: data am 28.11.2001 um 14:28]

 

Morphin: was ist los, Paranoia? Ich denke, wir sollten nicht bei jedem Verdachtsmoment (wobei Uni Köln ja wirklich etwas grob gefasst ist ;) ) gleich in Panik verfallen. Wenn sich ein Mitglied als Psycho herausstellt, kann man das ja immernoch ausdikutieren, aber so machst Du den Neuen doch nur Angst! :eek:

 

Ja, Paranoia, möglich ... na, da sach ich mal 'Entschuldigung' zu Lt. Com. Data und wünsche: Friede und langes Leben.

Heiko

 

Liebe Leute,

da ich während der Woche nicht zu Hause bin, kann ich gegen das Entstehen von Gerüchten wie den obigen wenig ausrichten; das Beste wird sein, ich belasse sie unkommentiert; es würde ohnehin wenig zur Sache beitragen. Lasst mich auf eure Kommentare antworten.

Sighard:
Dir danke ich für das Lob meiner sprachlichen Fähigkeiten. Ich lebe seit längerem bereits in einer geistig-seelischen Isolation, in der man jedes Maß verliert - man glaubt bisweilen, dass alles, mit dem man sich so innig beschäftigt bloßer, irrer Wahnsinn ist; man beginnt selbst an Grundsätzlichem zu zweifeln, und zu diesem Grundsätzlichen zählt die bloße Fähigkeit, einen Satz geradeaus zu schreiben.

Anna:
Ich würde mich über eine weitere Ausführung Deiner Gedanken freuen. Läuterung - in wie fern?

Hans Werner:
Was mich an ihrer Antwort stört, das ist weniger der Inhalt, als der Klang, in dem er vorgetragen wird. Inhaltlich stimme ich ihnen gähnend zu, sie sagen ja nichts neues oder etwas, das mich in irgendeiner Weise vorwärtsbringen oder bewegen könnte. Der Klang aber ist es, bei dem mir schlecht wird. Ich kann hier nur schlecht ausführen, was genau mich daran stört. Nüchtern stehen sie da und reden klug daher. Belassen wir es dabei.

Entschuldigt, wenn ich diesmal so gut wie gar nichts wesentliches gesagt habe. Bin ein wenig müde. November etc.

 

So kann ich das nicht stehen lassen.

Wer bitter spricht - und zwischen den Zeilen tat ich´s ja - hat unrecht. Es gibt Menschen, die bereits durch das bloße Faktum ihrer Geburt - unrecht haben; und dennoch berechtigt sie das nicht dazu, bitter zu sprechen; es ist verständlich, wenn sie verbittern, aber nicht verzeihlich.

 

Hallo Chrysanth,

es tut mir leid, wenn ich dich mit meinen Sätzen verstimmt haben sollte. Ich habe es gut gemeint.

Mit freundlichen Grüßen

Hans Werner

 

Ist das schon mal jemandem aufgefallen?

chrysanth schreibt:

Sighrad: Dir danke ich für das Lob...

Anna: Ich würde mich über eine weitere Ausführung Deiner Gedanken freuen.

Hans Werner: Was mich an ihrer Antwort stört...

Hans Werner schreibt:
es tut mir leid, wenn ich dich mit meinen Sätzen verstimmt haben sollte.

Jeder duzt auf kg.de jeden - nur nicht unseren Lehrer Hans Werner.
:D ;)

 

@I3en

Vielleicht sind sie alte Freunde und nur Hans Werner weiss es und Chrysanth nicht. Oder: Chrysanth ist ein früherer Schüler von Hans Werner und hat das "Sie" und "Ihnen" immer noch im Kopf, nun ja, ist ja egal... ;)

Zitat Chrysanth: "Ich lebe seit längerem bereits in einer geistig-seelischen Isolation, in der man jedes Maß verliert..."

Ich hoffe doch nicht, dass Du auch in einer räumlich-physischen Isolation lebst? Gefängnis etwa? :D

Da alle unserer schlauesten Leute hier bereits ihre Kommentare abgegeben haben, hat eine unbelesene Neuseeländerin wohl nicht das Recht, noch viel zu sagen, ausser dass auch ich die Geschichte genossen habe und ja, frech bin auch noch, die Schreibweise mich etwas an Aqualung erinnert, aber Ähnlichkeit ist hier sicherlich rein zufällig. ;)

Ich finde es auf jeden Fall toll, Geschichten von solcher Qualität hier vorzufinden. :)
Gibt uns allen doch hin und wieder ein Ansporn...

Bye bye
Heike
:engel:

[Beitrag editiert von: Roswitha am 06.12.2001 um 00:46]

 

Oder: Chrysanth ist ein früherer Schüler von Hans Werner und hat das "Sie" und "Ihnen" immer noch im Kopf

Darauf wollte ich ja eigentlich hinaus. Selbst ausserhalb (und nach Vollendung) der Schule werden Lehrer gesiezt, obwohl man sie gar nicht kennt, und sich hier sonst jeder duzt.
Ich denke das sagt etwas über die Deutsche Gesellschaft/Schulsystem aus...

aber vielleicht auch nicht... :D ;)

[Beitrag editiert von: I3en am 06.12.2001 um 01:53]

 

Sehr verehrter Herr I3en,

ich bin übrigens eine Pferde- und Hundelehrerin. Ich versuche auch, meinen Katzen Manieren beizubringen.

Werde ich jetzt auch gesiezt?
:bounce:

Ihre Roswitha Wenzel
:D

 

Solange Dich Deine Hunde, Katzen und Pferde nicht siezen, werde ich es auch nicht tun.

 

Was mir an der Geschichte fehlt, ist das verzweifelte Lachen, oder laßen wir's ein bitteres Grinsen sein!?

Naja, nur meine Meinung. Vor allen Dingen sprachlich muß und will ich dich loben! Das Lesen treibt mir die Tränen in die Augen und entlockt mir ein verbittertes (vielleicht wissendes!?) Lachen. Wirklich sehr beeindruckend!

Doch aus deinen Kommentaren werde ich nicht schlau. Nur aus reiner Neugierde interessiert es mich, ob du dich mit dem, von dir beschriebenen Dichter identifizierst, oder besser, in wie weit du dies machst. Wie gesagt, nur Neugierde, wenn du das nicht kommentieren magst, dann ist's freilich ok!

 

Ein echter Stein des Denk-Anstosses.
Die Geschichte findet zwanglos zu ihrem logischen Ende, Dichter und AlltagsWelt bleiben letztlich unversoehnt.
Die geweckten Erwartungen des Lesers werden nicht enttaeuscht.

In der Tiefe der Geschichte ahnt man Selbsterfahrung und biographische Parallelen.
Ich wuensche mir als Leser im Realen doch einen anderen Ausgang.
Bleib dabei, solche Ged(sch)ichte(n) braucht KG.DE mehr.

 

Sighard:
Auch ich bin - um deine Formulierung zu übernehmen - kein berufsmäßig Weltvernetzter. Deshalb mein verzögertes Antworten: in einigen Tagen werde ich 24.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom