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Der Dichter

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14.07.2007
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Der Dichter

Als ich Leah ansprach und ihr meine tiefe Achtung offenbarte, war ich kurz davor die Schwelle zum Verlust der Selbstkontrolle zu übertreten. Ich sah sie im Bus, vorletzte Reihe, rechts der Fahrtrichtung, den Blick dorthin gerichtet, wo das Dunkel die Felder verschluckte. Natürlich kannte ich sie, sie war in meiner Selbsthilfegruppe, ich erkannte sie an den kurzen welligen braunen Haaren, an der blassen Augenfarbe, deren Intensität aber durch ein stetiges Funkeln ihrer Pupillen gesteigert wurde und an den schmalen Lippen, welche ständig leicht zu lächeln schienen. Ich gab ihr sehr höflich die Hand und sagte: "Ich bin das leblose, träge Etwas!"
Sie hob die rechte Braue und ließ die Augen verzweifelt nach Möglichkeiten der Rettung kreisen.
"Kennen sie micht nicht mehr, hübsches funkelndes Licht..."
Ich setzte mich. Sie brachte ihre Hände in Sicherheit, lächelte jetzt aber ein wenig verzweifelt.
"...Sie erhellen jeden Mittwoch die Selbsthilfegruppe!"
Sie schüttelte lächelnd den Kopf und hatte schon die Lippen zum Sprechen leicht geöffnet, als ich sie dann doch unterbrach, um Alles loszuwerden, was sich seit ihrer Anwesenheit in der Gruppe in mir angestaut hatte:
"Ich weiß, was sie denken. Sie riechen die Fahne und denken, wie so einer labilen und schwächlichen Gestalt noch geholfen werden kann. Was macht er überhaupt in der Selbsthilfegruppe... Ich erkläre es ihnen... Ich möchte geheilt werden, aber ich weiß gleichwohl, das es für mich keine Heilung gibt..."
Ich hielt inne.
Eigentlich war die Trunkenheit ja längst Teil von mir geworden und ich konnte gekonnt gegensteuern wie Kapitäne im Sturm, doch als ich so die Umrisse ihres Gaumens in der Tiefe des vor Erstaunen oder Entzücken geöffneten Mundes sah, verlor ich die Fassung; mir wurde schwindelig und ich glaubte fast, das mir die Wort entglitten, welche ich schon so schön bereit gelegt hatte. Also schnell weiter:
"Warten sie noch!... Sehen sie mich an... Ich weiß meine dicke rote Nase erinnert an Nilpferde, ich weiß ja, ich weiß... und meine Wangen sind wie Schluchten... ja, sagen sie nichts, auch meine Lippen sind nicht voll... und ich hab gar nicht so ein Leuchten in den Augen wie sie, aber... schauen sie mich an... bitte, ertragen sie nur zwei Sekunden die Qual, mich anzuschauen. Danke... Für mich ist es eine Rätsel, wieso eine solche Schönheit wie sie, angefangen hat zu trinken. Aber sicherlich, mich geht es gar nichts an, warum sie trinken, warum sie in die Gruppe gehen... vielleicht sind sie ja gar nicht süchtig... Ich will hier nicht wild vermuten... Wollen sie nicht mit mir einen Wein trinken gehen?... Oh Verzeihung, ich sehe es an ihrem Blick... das ist so unpassend, nein, kein Wein, nichts Alkoholisches... Nur... jeden Mittwoch treten sie in den Raum und es scheint mir, als würde sich dieser Nebel des Unbehagens daraufhin auflösen... und wie Pflanzen dem Licht der Sonne neigen sich meine Augen ihren Blicken zu... ich verliere meine Konzentration, unbemerkt schaue ich zu ihnen hinüber: Sie streichen immer ihr Haar so sorgfältig zurück, ungefähr so." Und ich bewegte meine Hand entlang der Stirn, um zur Demonstration meine eigenen Haare hinfort zu streichen. "Da wird es in mir ganz kribbelig und wenn die anderen Mitglieder etwas von mir hören wollen, weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Sie verstehen? Bitte, machen sie mich glücklich, lassen sie uns irgendwo etwas trinken, nichts Alkoholisches, auf keinen Fall... Ich kann ihnen meine Gedichte vorlesen..." Ich zückte ein handtellergroßes grünes Büchlein aus meiner Jackentasche und blätterte ein wenig darin, während ich weiter sprach: "Früher nämlich hab ich Gedichte und ein wenig Prosa verfasst. Hier sind einige und Fragmente niedergeschrieben; meist sogar in nüchternem Zustand. Früher steckten sogar Lehrer und Eltern gewisse Erwartungen in mich. Ich muss wohl wirklich Talent gehabt haben, wirklich, aber mit der Zeit wurden meine Gedichte zu diffus und undeutlich. Ich konzentrierte mich nicht mehr auf eine prägnante Aussage, sondern wollte scheinbar in tausende Richtungen. Manchmal rede ich auch so... Leah, schauen sie mich an, soll ich ihnen eines meiner Gedichte vortragen?"
Zum ersten Mal stoppte mein Schwall von Wörtern und ich sah sie gespannt an. Sie hatte noch immer die Brauen leicht verzogen und schüttelte gleichwohl den Kopf, derweil die Lippen noch leicht oval geöffnet waren. Danach strich sie sich die Haare von der Stirn; aber anders als sonst, viel zu elegant, fast mondän. Sie kramte in ihrer Handtasche eine Packung Kaugummis hervor, schmiss sich eins in den Mund und meinte kauend:
"Hören sie mal? Ich habe nie getrunken, ich gehe und würde in keine Selbsthilfegruppe gehen und ich habe sie noch nie gesehen. Ich bitte sie jetzt, sich woanders hinzusetzen, sonst werde ich dem Busfahrer sagen, das sie mich belästigen!"
Mein Atem stockte kurz und ich glaubte das Herz würde aufhören zu pulsieren, aber es war bloß das Bewußtsein, das kurze Zeit in einen traumatischen Schlummer fiel. Der Schwindel wurde schlimmer. Ich erhob mich, der Bus hielt und ich stieg aus. Ich taumelte einige Meter voran, bis zu dem Geländer einer Brücke und übergab mich ein, zwei Mal, sodass meine Kotze ins Wasser platschte. Dann zückte ich wieder mein kleines grünes Büchlein, las zwei, drei Gedichte, spürte kurzzeitig die übliche Befriedigung des lyrischen Ergusses, daraufhin jedoch eine starke Enttäuschung und schmiss es in den Fluß, in dem auch meine Kotze hinfort trieb. Letztlich kauerte ich mich weinend auf das Trottoir.

 

Hallo Nizzel, gefaellt mir gut, deine Geschichte. Da leidet man ja richtig mit!
Ich habe jetzt nur nicht verstanden ob er sie verwechselt, oder ob sie nicht erkannt werden will. Aber vielleicht soll das ja auch gerade offen bleiben?
Deine Beschreibungen lassen mich die Gefuehle des Prots gut nachvollziehen, so plastisch und eklig und unbarmherzig.
gern gelesen
sammamish

 

Guten Morgen, Nizzel

Tja, harter Stoff so früh am Morgen :D

Nee, mal ernsthaft: Liest sich flüssig, auch wenn der ein oder andere Absatz gerade im Mittelteil vielleicht nicht schaden könnte. Aber ich kann nur zustimmen: Man leidet doch etwas mit, und ich persönlich habe nicht mit diesem Schluß gerechnet.
Kurz & Knackig!
Gern gelesen,Gruß
Elric

 

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