Der Direktor und sein Anzug
"Und damit, meine Damen und Herren, erkläre ich dieses Bankett für eröffnet!"
Mit einem Lächeln trat er vom Podium zurück und ging mit schnellen Schritten zu dem für ihn reservierten Platz, während der nächste Redner vor die versammelte Menge trat.
Als er sich an den Tisch setzte, wurde er auch schon angesprochen.
"Sagen Sie, Herr Direktor, was sollte das jetzt gerade?"
Er sah sich um. Der Mann der ihn angesprochen hatte war der Vorsitzende des Forums für Benachteiligte, sein Gastgeber. Ein ernsthafter Mann, der den Job aus zwei Gründen gekriegt hatte: Weil er ihn gerne machte und weil er schon seit seiner Geburt nur eine Hand hatte.
"Was denn, hat Ihnen meine Rede nicht gefallen? Ich habe doch extra betont, wie wichtig es in unserer heutigen Welt ist, Behinderte zu integrieren und zu fördern."
"Das meine ich nicht. Sehen Sie sich doch mal an. Was ist das für ein lächerlicher Aufzug in dem Sie da angekommen sind?"
"Genau, was sollen denn die Leute von Ihnen denken? Was sollen Sie von uns denken?"
Das war der Vizepräsident des Gremiums für körperlich und geistig Behinderte. Er hatte seine Stellung ebenso verdient. Nicht nur wegen seiner Gewissenhaftigkeit und herausragenden Kompetenz, sondern weil er sowohl körperlich als auch geistig behindert war.
"Wieso, was ist denn damit?"
"Ihr Anzug. Falls Sie diese Ansammlung von zusammengenähten Fetzen überhaupt noch als solches bezeichnen wollen. Wir laden Sie zu einer feierlichen Rede ein und Sie kommen daher wie ein Penner, frisch von der Gosse."
Er lachte.
"Was denn, das war mal mein bester Anzug. Vor einer Woche ist er mir aus Versehen in den Rasenmäher gekommen. Ist eine längere Geschichte, die ich Ihnen an anderer Stelle sehr gerne erzählen kann."
Während er in die Runde blickte, in die ungläubigen Gesichter, fuhr er fort.
"Nach diesem kleinen Unfall wollte ich das gute Stück eigentlich wegwerfen, aber dann kam die Einladung zu diesem Bankett und mir ein seltsamer Gedanke. Der Anzug, dieses durch unglückliche Umstände malätrierte Kleidungsstück, hat mich zu sehr an ein behindertes Kind erinnert das ich mal im Fernsehen gesehen habe. Es ist damals auch unter einen Rasenmäher gekommen. Schweren Herzens ging ich also zu meinem Schneider und sagte zu ihm, er solle alles in seiner Macht stehende tun um dieses gequälte Stück zerfetzen Stoffs, dazu bestimmt von der Gesellschaft ausgestoßen zu sein, wieder zu Ehre und Anerkennung zu verhelfen. Und das ist das Ergebnis. Sie verstehen natürlich, dass ich zu diesem Anlass unmöglich meinen anderen Anzug tragen konnte, den mit den gesunden Hosenbeinen, der in seinem Leben noch nie erfahren hat, was es heißt, plötzlich alles zu verlieren, nur um dann von allen schief angesehen zu werden, ein Gebrauchsgegenstand der nie wieder so nützlich ist wie er früher mal war, nur wegen eines kleinen Moments der Unachtsamkeit. Sie haben sich vielleicht gedacht, der Mann ist verrückt, als ich da vorne stand und meine Rede hielt. Das ist nicht normal, der trägt Abfall, das ist nicht angemessen. Aber darum geht es doch, meine Damen und Herren, den Abfall am Leben zu lassen, ihn an der Gesellschaft teilhaben zu lassen, auch wenn sein Nutzen nur noch begrenzt ist."
Er ließ seinen Blick noch einmal durch die Versammlung schweifen, zum Vorsitzenden, der nur über fünf Finger verfügte. Zu der Schüssel Brei des Verwalters, der leider noch nie Zähne besessen hatte. Keiner sagte etwas, alle starrten ihn an. Es war nicht was er gesagt hatte, es war die Tatsache, wie er es gesagt hatte und sein unverhohlenes Lächeln, später sein Grinsen und dann sein Blick, der das Wesen der Botschaft ausmachte, es deutlich machte und immer stärker anklingen ließ.
Für den Direktor ging dieser Tag schnell zu Ende, er wachte in einem Bett auf das er sich nicht ausgesucht hatte, in einem Krankenhaus. Wenn ich vormittags aus dem Fenster sehe, dann fährt er mit seinem Rollstuhl die Straße entlang, zu dem Zeitungsstand um sich eine Schachtel Zigaretten zu besorgen. Das ist irgendwie schon zu beneiden: Nur eine einzige Rede und schon hat ihn das Forum in seinen Kreis aufgenommen.