Der Dritte
„Hast du was zu rauchen?“, fragte Chris mich. „Komm schon, lass teilen, ich hab kein Bock alleine zu Alex zu gehen, nur um mir ein verdammtes Gramm zu holen.“ Siebzehn Jahre alt und schon ein Drogenabhängiger. Unglaublich! Ich sah ihn an und dachte nach: Hey, du bist doch genauso. Das war die Wahrheit.
„Ja, hab ich“, antwortete mein Mund, ohne dass ich es selbst wollte. Hä? Was ist bloß los mit dir? Ich hatte keine Ahnung, aber zwei Dinge wusste ich hundertprozentig: Ich wollte etwas rauchen und ich wollte wissen wo zum Teufel Bianca steckte. Nummer eins konnte ich problemlos erledigen, Nummer zwei allerdings nicht.
Was willst du machen, wenn sie bei Julius ist? fragte eine Stimme, die mich schon plagte, seit ich mit ihr zusammengekommen war. Sie war wunderschön und beschwor, mir treu zu sein, aber dieses Gefühl, dass dem nicht so war, war unglaublich stark. Bis jetzt hatte ich sie aber noch nicht mit einem anderen Jungen erwischt oder gesehen, wie sie jemanden küsste, aber in ihren Hosentaschen und ihrem Federmäppchen fand ich oft Zettelchen auf denen stand, dass sie ihn süß fände und ihn fragte, was er heute mache. Ich fragte sie oft, mit wem sie sie schrieb, aber nie bekam ich eine Antwort.
„Dennis?“, fragte Chris mit hochgezogenen Augenbrauen. „Dennis? Können wir jetzt mal losrauchen, ich möchte einen dampfen, turnen, stoned werden, verdammt, ich will high sein!“
„Wheed oder Peace?“
„Du willst mich verarschen, oder? Hast du beides?!“
„Ja, was willst du?“
„Peace – nein – warte – Wheed!“
„Wheed?“
„Ja, gib her.“ Er wusste verdammt gut, dass ich nicht drehen konnte. Deshalb trug auch immer er die OCB’s bei sich. Bei mir sahen die Joints aus wie verkrüppelte Äste.
Ich sah die Straße entlang. Sie kam wie ein Model auf einem Laufsteg näher. Ihr Haar wehte zurück im schwachen Wind, es wirkte fantastisch. Das Gras hatte meine Sinne schon etwas betäubt und ich musste einfach loslachen, ohne ersichtlichen Grund. Erst als meine Kiefermuskeln schmerzten, musste ich mich beherrschen und eine Pause machen.
„Schatzilein!“, rief ich. „Schatzi, Schatzi!“
Wo warst du? Warst du bei Julius? Bist du ihm begegnet? Was hat er gesagt? Hast du mit ihm gebumst? Hat’s Spaß gemacht? Willst du noch eine Runde? Lust? Bekommst auch einen Gutschein für einmal fremdgehen, den Rest musst du auf dein Karmakonto nehmen, sorry. All das wollte ich zu ihr sagen, aber ich wusste, dass es nicht so war, sie würde mich nicht betrügen, da war ich mir ziemlich sicher. Aber diese Stimme in mir versuchte mich vom Gegenteil zu überzeugen und hin und wieder zwang sie mich, Sachen zu sagen, die ich eigentlich für mich behalten wollte.
„Wo warst du?“, fragte ich.
„Zuhause“, antwortete sie mit ihrer lieblichen Stimme. Bianca war wunderschön. Chris wollte es nicht zugeben, aber es war so. Der pure Neid sprach aus ihm, wenn er mich fragte, wie ich nur mit so einer zusammen sein konnte. „Sei nicht immer so eifersüchtig.“
„Ich bin nicht eifersüchtig“, sagte ich, doch dabei sagte mir mein Verstand, dass dem nicht so war.
„Doch bist du“, widersprach sie.
„Ach was.“
Ich lag in meinem Bett. Die Rollläden waren noch oben, der Himmel sternenklar und der Fernseher zeigte mir einen Film mit Michael Douglas. Um halb acht waren wir alle nachhause gegangen. Nachdem wir den Joint geraucht hatten war ich ziemlich platt, aber danach war alles wieder so, als wäre nie etwas gewesen.
An diesem Abend geschah es.
Michael Douglas verwüstete gerade ein kleines Geschäft mit einem Baseballschläger, als ein lautes Dröhnen den Raum erfüllte.
„Dennis!“, schrie mein Vater, der auf dem Balkon saß und eine Zigarette rauchte. „Dennis! Unter deine Decke!“
„Was?!“, schrie ich. Angst übernahm mein Denken.
„Unter die Decke!“
Genau in diesem Moment musste ich an ein Gespräch mit meinem Vater denken.
„Ich hab heut meine Arbeit zurück bekommen“, sagte ich triumphierend, während ich das Wahnzimmer betrat.
„Was hast du?“, fragte mein Vater.
„Eine sagenhafte zwei!“
„Um was ging’s?“
„Wasserstoff und so Zeug“, antwortete ich etwas verunsichert. Das geschah jedes Mal, wenn ich nicht wusste, ob mein Vater Informationen über die jeweiligen Themen hatte.
„Wasserstoff?“
„Ja.“
„Ivy King?“, fragte er.
„Nein, was ist das?“
„Hast du schon Mal was von Joint Task Force hundertzweiunddreißig gehört?“
„Nein.“
„Ich und meine Familie haben Urlaub auf der Nachbarsinsel von Eniwetok – Atoll gemacht. Ich hab den Namen von der Insel vergessen. Verdammt! Egal. Jedenfalls sind wir wohl zur richtigen Zeit dort gewesen. Die Amis haben dort, auf Eniwetok, oft Tests durchgeführt. Im November, ich glaube es war der fünfzehnte, bin mir aber nicht sicher, 1952 wurde Ivy King gezündet, die erste, dort getestete Wasserstoffbombe. Sogar dort auf der Insel war die Druckwelle zu spüren. Der riesige Atompilz … unglaublich. Am einunddreißigsten, jetzt bin ich mir sicher, Oktober wurde noch eine hochgejagt, die Ivy Mike. Im selben Jahr. Es ist krank. Meine Meinung. Menschen bewerfen sich mit nuklearen Todbringern, die irgendwelche Wissenschaftler für wahrscheinlich gute Zwecke entwickelt hatten. Ich weiß nicht, ob das so richtig ist, aber … ich finde es nicht richtig.“
„Unsere Lehrerin wollte uns nicht zeigen, wie man eine baut, aber wir wollten es probieren.“
„Lass bloß die Finger davon!“
Es war nur ein kurzer Moment, aber die Erinnerung waberte in meinem Kopf herum wie Rauch. Das Dröhnen wurde lauter, brachte den Putz in den Wänden zum vibrieren, rüttelte am Gebäude und flaute dann wieder ab.
Vorbei, dachte ich, wälzte mich auf die Seite und flog vom Bett.
Einen Wimpernschlag später bebte der Boden unter mir. Ein lautes Krachen, ein ohrenbetäubendes Rauschen, ein Erdbeben, das drohte unser Haus umzuwerfen. Durch die Rillen im Rollladen griff Licht, grell und gefährlich, doch gleichzeitig wunderschön und wohltuend. Ich wollte hinausgehen, blieb aber an meinem Platz neben dem Bett. Gefährlich! warnte mich mein Verstand. Gefährlich!
Das Rauschen war vorüber, doch das Licht – mitten in der Nacht – war immer noch vorhanden. Ich wollte aufstehen, nach meinem Vater sehen, meine Mutter beschützen, Bianca vor der Bedrohung bewahren, aber ich musste hier bleiben und hoffen, dass es diesen drei Personen gut ging. Das Licht wurde schwächer und flackerte nur noch orangefarben. Vorbei, wirklich.
Langsam stand ich auf. Mir war etwas schwummerig auf den Beinen, aber ich konnte laufen. Der Schock verlangsamte meine Motorik ein wenig, aber ich kam damit klar. Mein Zimmer war, bis auf das schwache Licht, das durch die Rillen im Rollladen eindrang, fast vollkommen dunkel. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass der Fernseher von alleine ausgegangen war.
Unfähig nach ihm zu schreien, öffnete ich die Tür, um nach auf den Flur und dann auf den Balkon zu gehen, um nach meinem Vater zu sehen. Der Flur war dunkel, kein Licht, die Fenster alle geschlossen und diese unheimliche Stille. Keine fahrenden Autos auf den Straßen, keine Fahrradfahrer, keine Fußgänger oder grölenden Penner – niemand. Bis jetzt hatte ich noch nicht realisiert, was geschehen war, aber der Verdacht, der sich in meinem Denken ausbreitete wie ein Lauffeuer, wurde immer stärker und stärker.
Torkelnd erreichte ich das Wohnzimmer. Feuer! Die Couch, die neben der Balkontür stand, brannte lichterloh. Von draußen drang eine unglaubliche Hitze ein. Dicker Rauch waberte über den Straßen, ein Auto lag mit dem Verdeck nach unten auf dem Rasen vor unserem Balkon, ein Fahrrad war gegen die Fassade gekracht, die Rollläden vor unseren Fenstern waren ein wenig geschmolzen und dort auf dem gekachelten Boden lag mein Vater mit ausgestreckten Gliedern, sodass er wie ein menschliches X aussah.
„Papa!“, schrie ich. Wie lange hatte ich schon nicht mehr Papa zu ihm gesagt? Ich wusste es nicht und momentan war mir das ziemlich scheißegal. „Steh auf!“
Ich rannte zu ihm hinüber, schob einen Arm unter sein Genick, rüttelte ihn, wollte ihn wach bekommen, aber es folgte keine Reaktion. An Stelle seiner Haare war nur noch eine schwarze Fläche übrig. Seine Haut war gerötet wie der Panzer eines Hummers. Er stank nach verbranntem Fleisch. Ich beugte mich über ihn, legte meine Stirn auf seine rauchende Brust, spürte die Wärme … und die Trauer. Alles vorbei. Seine Brust hob und senkte sich nicht mehr. Sein Herzschlag hielt inne.
Ich kniete neben ihm, meine Stirn auf seinem verbrannten Hemd und Tränen rollten meine Wangen hinab, um auf sein Hemd zu tropfen. Keine Sonntagsessen mehr, bei denen ich so tun würde, als würde es mir schmecken, kein Streit mehr, weil ich sein Parfum benutze, kein Gemecker, weil ich soviel rauche und keine altmodischen, unlustigen Witze mehr. Alles weg … vorbei …
Nach einiger Zeit erhob ich mich. Meine Augen brannten, meine Stirn musste schwarz sein. Ich stand auf und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Erst jetzt realisierte ich die Welt um mich herum richtig. Alles stand in Flammen: die Straße, die Häuser, die Bäume und Grasflächen, sogar die Autos und Fahrräder. Keine Menschen, niemand.
Unser Haus brannte nicht. Warum? Diese Frage geisterte in meinem Kopf herum, während ich mich umsah und zu verstehen versuchte.
Eine riesige, pilzförmige Wolke stob von dem Ort hoch, an dem normalerweise Biancas Haus stehen müsste.
„Nein, nein, nein“, murmelte ich und sprang mit einem Satz über das Balkongeländer. Ich landete früher als erwartet Metall. Rohre. Ein auf dem Kopf liegendes Auto. Aus Angst, dass es explodieren würde, schwang ich mich so schnell wie möglich hinunter und rannte über die verkokelte Grasfläche. Alles brannte; nur nicht unser Haus. Flammen züngelten neben und vor mir, doch keine berührte mich, als wäre ich ein heiliger Held; ein Engel.
Das Atmen viel mir schwerer und schwerer, mit jedem Schritt wurde es anstrengender. Immer wieder fragte ich mich, was passiert ist.
Als ich dem Rauchpilz näher kam, sah ich sie die Straße entlang rennen. Ihre roten Augen erkannte ich schon von weitem. Zwischendurch schrie sie nach ihrer Mutter, schrie nach ihrer Schwester, sah mich und schrie nach mir.
Weinend fiel sie in meine Arme und küsste meine Schläfe.
„Was ist passiert?“, fragte ich aufgeregt. „Wo kommst du her?“
„Krieg!“, antwortete sie hysterisch.
„Krieg?“, fragte ich verwirrt.
„Die Iraker. Wir sind im Krieg mit denen!“
„Wo kommst du her?“
„Ich war … Ich … von … Ich … Julius.“
„Julius?!“
Als hätte jemand mit einem Stein auf mein freigelegtes Gehirn geschlagen, traf mich die Erkenntnis, dass meine Freundin, die ich über alles liebte, mich mit diesem Penner betrog.
Die Tatsache, dass wir im Krieg waren, war für mich nicht das Schlimmste, nein, das Schlimmste für mich war, dass mein Traummädchen mich betrog und mein Vater gestorben war. Trauer, Wut und Hass wallten in mir auf, wie chemische Flüssigkeit in einem erhitzten Reagenzglas.
„Geh zu ihm“, sagte ich schließlich, als ich wieder klar denken konnte. „Geh zu ihm und sag ihm, dass er dich mal richtig durchnehmen soll.“
Ich stieß sie kräftig weg und konnte hören, wie sie auf dem Asphalt landete, während ich mich umdrehte, aber es war mir egal. Normalerweise hätte ich mich neben sie gekniet und mir Sorgen gemacht, aber jetzt war es mir egal. Ich ging, ließ sie zurück mit ihren Problemen und kümmerte mich um meine Probleme.
Ein lautes Dröhnen beherrschte die Atmosphäre wieder. Ein Flieger rauschte über unsere Köpfe hinweg und ich sah sie auf uns hernieder fallen, diese große, ellipsenförmige Bombe.