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Der dumme August

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30.12.2001
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Der dumme August

Es war ein kalter Winterabend. Das beheizte Zelt fasste an die fünfhundert Besucher.
Fast jeder Platz war besetzt.

Die Scheinwerfer verfolgten die Bewegungen des Clowns. Sein Auftritt neigte sich dem Ende zu. Er verbeugte sich übertrieben tief, verlor sein Gleichgewicht, stolperte einen großen Schritt nach vorn und fiel auf seine rote Plastiknase. Jetzt, dachte er. Jetzt werden sie doch noch lachen. Er riss sich das rote Ding ab, warf es in die Menge und jammerte theatralisch:
"Meine Nase? Wo ist meine Nase?"
Doch niemand lachte, niemand hatte seine rote Nase aufgefangen. Es ist nicht mehr so wie früher, dachte er wehmütig, während er sich wieder aufrappelte. Seit über zwanzig Jahren war sein Gesicht ein bißchen weiß, ein bißchen schwarz und ein bißchen rot. Nein, es ist nicht mehr wie früher. Er verließ die Manege mit gesenktem Blick. Einige Händepaare klatschten brav, er drehte sich um. Er hob noch einmal erwartungsvoll sein Gesicht und schaute in die Menge hinein. Doch seine Augen suchten umsonst strahlende Blicke, fanden keine lachenden Münder und so trottete er zum Artistenausgang.

In der Manege lief das Programm weiter. Bildschöne Orlow-Pferde in stilvoller Aufmachung wurden hereingeführt, dann fiel der Vorhang hinter ihm zu.

"Heh August! Kommste nachher zu uns in den Wagen? Elli hat Erbsensuppe gemacht!" fragte ihn Karl, einer der Teufelsreiter, der an ihm vorbeihetzte.
"Laß man Karl. Ich bin müde und lege mich gleich hin."
"Nimm es dir nicht so zu Herzen, August", rief ihm Karl noch hinterher, bevor auch er hinter dem Vorhang verschwand.

'Der dumme August' - das Schild über seiner Wohnwagentür war verblasst. Die Farben sind mit der Zeit abgeblättert, nur mit Mühe konnte man man gerade noch "D-- dumme Augu-t" entziffern.
Er öffnete die Tür, knipste das Licht an und setzte sich vor seinen Schminktisch. Er betrachtete sich im Spiegel. Ich bin ein dummer August, schimpfte er mit sich selbst. Er öffnete die Schnapsflasche die auf dem Tisch stand. Gut, dachte er, sie ist noch dreiviertel voll. Er setzte sie an seinen rotgeschminkten Mund und nahm gierig ein paar tiefe Schlucke. Wärme breitete sich in seinem Körper aus, er schaute die Flasche wie einen langjährigen Freund an. Der Flaschenhals war von seinem Mund rotgefärbt und der Inhalt sein Leben. Er trank die Flasche leer. Seine Augen ruhten dabei fragend auf seinem Mund. Er versuchte zu lächeln, doch es ging nicht. Mit Hilfe seiner Zeigefinger zog er seine Lippen nach oben. So ist Lachen dachte er, aber er wußte - es war nur eine Grimasse. Wütend schlug er mit der Faust auf den Tisch, die leere Flasche kippte zur Seite, rollte über den Tischrand und fiel klirrend zu Boden. Die Scherben ignorierend langte er nach einer zweiten Schnapsflasche.

Ein zaghaftes Klopfen an der Türe.
"Ja? Wer ist da?", fragte er.
"Ich bin´s, die Marie. Ich habe das hier gefunden", sagte ein kleines Mädchen.
Sie stieg in den Wagen und hielt seine Plastiknase in ihrer vorgestreckten Hand.
"Die gehört dir doch, oder?", fragte sie und sah sich neugierig um.
"Ja", brummte er "dankeschön. Leg sie einfach da hin, ja?"
Das Mädchen kam näher. "Du, hier liegen ja Scherben herum."
Sie hob eine großzackige Scherbe auf und legte sie vor ihm auf den Tisch.
"Das weiß ich - Kind."
"Wenn du barfuß läufst, ist das aber gefährlich."
"Ich laufe aber nicht barfuß."
"Meine Mama sagt immer, Scherben bringen Glück. Stimmt das?"
"Diese hier nicht und nun geh wieder zu deiner Mama."
"Hab keine Lust, ich war nur wegen den Pferden hier. Das andere ist langweilig."
"Findest du Clowns auch langweilig?"
"Ja, die sind doch nicht lustig. Tom und Jerry im Fernsehen - das ist lustig."

Der dumme August sah sie an. Tom und Jerry, sagte er laut und versuchte sich zu erinnern. "Hm, mein Kind. Du findest es also lustig wenn die sich die Köpfe einschlagen?"
"Ja, das ist doch Klasse. Oh... darf ich mal deine Schminktöpfchen ansehen?"
Sie schaute erwartungsvoll auf die vielen kleinen bunten Tiegel.
"Ja, mach ruhig", murmelte er und öffnete die Schnapsflasche, nahm wieder ein paar tiefe Schlucke.
Das Mädchen tauchte ihre Finger in die schwarze Farbe und malte ihr Gesicht an. "Wo ist das Rot?" Sie hielt ihm einen leeren Tiegel hin.
"Rot gibt es nicht mehr. Rot ist für den Mund."
"Weiß ich doch. Ich will meine Lippen rot anmalen."
"Rot ist für das Lachen und das gibt es nicht mehr."
Verwirrt sah sie ihn an. "Doch, es gibt doch Vieles was lustig ist."
"Ja? Findest du mich denn auch lustig?" Er sah sie ernst an, schnitt dann ein paar Grimassen und wartete auf ihr Lächeln. Doch es kam keines. Er nahm noch einen Schluck aus der Flasche und verzog sein Gesicht. Ihr Mund blieb unbewegt und je länger er darauf starrte umso größer kam er ihm vor. Ein lebloser Riesenmund. Nur ein Strich, weiter nichts. Kein Mundwinkel der sich nach oben verzog.

"Komm mal her!", befahl er. Als ihr Mund vor ihm stand, drangen seine Zeigefinger in ihn hinein und zogen die Lippen weit auseinander. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an, doch sie war zu überrascht um sich zu rühren. Er zog ihre Lippen weiter auseinander, die Mundwinkel rissen ein und aus ihrer Kehle drangen Schmerzenlaute.
"Nur ein Lächeln", murmelte er, "nur ein Lächeln, komm schon! Wo ist das rote Lächeln?"
Seine Finger glitten aus ihren Lippen.
Dann nahm er die großzackige Scherbe und benutzte sie wie einen Lippenstift.
Er malte einen großen lachenden Mund in ihr Gesicht.

 

Hallo Alessandra!

Beinahe hätte ich schreiben wollen, dass diese Geschichte sich auch unter Rubrik Kinder möglicherweise zurechtgefunden hätte; langsam aber sicher schlossen sich zum Ende der Geschichte hin meine Augen :dozey: , als mein gedankliches Ausschweifen jäh unterbrochen wurde durch den letzten Absatz :eek: !

Da ist dir in der Tat eine interessante Wendung gelungen zum Schluß, wobei es vollkommen irrelevant ist, dass sich das Mädchen von einem völlig fremden Menschen erst in ihr Mund fassen lässt, anschließend sich auch überhaupt nicht wehrt, als der Clown ihr mit einem Scherbenstück näherkommt... :eek1:

Na ja, gefallen hat mir die Geschichte auf jeden Fall. :engel:


Gruß, Hendek

 

Hallo Hendek,

vielen Dank für deine Kritik.
Tut mir leid, ich wollte dich nicht einschläfern *lach*.
Du mußt auch nicht schreiben, daß dir die Geschichte gefallen hat - wenn es nicht so ist. Ich bin nämlich ernsthaft daran interessiert mich zu verbessern und bin über jede Kritik dankbar. Also: nur zu :-)

Zwei Fragen zu:

...Mädchen von einem völlig fremden Menschen erst in ihr Mund fassen lässt, anschließend sich auch überhaupt nicht wehrt, als der Clown ihr mit einem Scherbenstück näherkommt...

Hätte ich hier noch deutlicher machen sollen, daß das Mädchen starr vor Schreck war und sich nicht rühren könnte?
(Und die Scherbe lag direkt vor ihm - auf dem Tisch. Vermutlich dauerte es 2 Sekunden - diese aufzunehmen.)


Lieber Gruß
Alessandra

 

Danke Heiko...freut mich, wenn dir die kleine Geschichte gefallen hat.

Ich habe nun mehrmals versucht, den Schluss in kürzere Sätze zu packen - bin aber irgendwie gescheitert bzw. war mit dem Ergebnis nicht zufrieden.

Gruß
Alessandra

 

Alessandra,

keine Sorge, wenn mir eine Geschichte nicht gefällt, dann schreibe ich das am Ende meiner Kritik auch entsprechend hin; ich schmiere hier keinem Honig ums Maul, bloß um ihn bzw. sie aufzupeppen.

Mit dem Satz "langsam aber sicher schlossen sich zum Ende der Geschichte hin meine Augen" meinte ich eben nur, dass bis dahin eine ruhige und sanfte Handlung vollzogen wurde; den ich an meine vorangegangenen Sätze angefügt habe.

 

Wobei ich mich frage, ob ich da mal ausnahmsweise etwas missverstanden habe... :dozey: <img src="confused.gif" border="0">

 

Schließe mich meinen Vorrednern gerne an: Sehr interessante Geschichte mit, äh, gewagtem Schluss. In der Mitte der Story befürchtete ich ein Abgleiten in völlige Sentimentalität - Clown greift zur Flasche, um den Frust in Alk zu ertränken - aber du hast es dir zum Glück nicht einfach gemacht und auf billige Klischees verzichtet (so was wie: Er sieht im Suff lachende Kindergesichter, erleidet einen Herzinfarkt, wird am nächsten Morgen mit einem Lächeln aufgefunden. Würg!).
Dass dein Stil sehr ausgereift und sicher ist, muss ich wohl nicht mehr erwähnten.

Eine Anmerkung hätte ich aber doch:

Als der Mund vor ihm stand, drangen seine Zeigefinger in ihn hinein und zogen die Lippen weit auseinander.

Ich musste da ehrlich gesagt zweimal drüberlesen, um den Sinn zu erkennen. Klarer wäre es, wenn du "Als ihr Mund" schreiben würdest. Liegt aber vielleicht auch an meinem durch schreckliche Genexperimente deformierten Verstand.

 

Puh, diese alte Kamelle?

Hallo Rainer,

dieser Text war die erste Kurzgeschichte meines Lebens. Von daher freue ich mich natürlich, auch im nachhinein, über Lob.
Heute allerdings, würde ich sie etwas anderes schreiben. Hier und dort straffen und abstrakte Redewendungen umformulieren.

Der Satz, den du beantstandest, gefällt mir auch nicht.
"Als ihr Mund" werde ich jetzt einfach mal von dir übernehmen. :)

Danke und Gruß


Alessa

 

Alessandra schrieb:
dieser Text war die erste Kurzgeschichte meines Lebens.

:eek2: Waaa...? Soll wohl ein Witz sein, oder? Ich bringe so was nicht mal nach über 10 Jahren des Schreibens hin.
Vielen Dank - jetzt hast du mich deprimiert! :heul: :D

 

:sealed: Doch, das war so:
Als Internetneuling las ich per Zufall eine Schreibaufgabe/Wettbewerb und schrieb die Geschichte so runter, (von nix eine Ahnung gehabt) und gewann per Leserwahl den ersten Preis. (Ein Buch :D )

Spaß beiseite, ich muss dich jetzt wohl trösten, hm? :D

Ganz im ernst, ich muss/will auch noch viel lernen.
Im Genre Thriller ist mein Vorbild Thomas Harris. Seine Bücher "studiere" ich richtiggehend, seziere seine Sätze, streiche mir Stellen im Buch an. Selbst wenn ich "Roter Drache" zum x-ten Mal lese, gehe ich nur mit angehaltenem Atem und mit einem Messer bewaffnet in den Keller. *lach*
Sorry, ich rede zuviel. :sealed:

 

Hallo Alessa,

na gut, dann wühle ich auch mal in dem alten Zeugs, auch wenn ich nicht mehr viel Erhellendes beitragen kann. Einen Vertipper habe ich noch gefunden:

"Das weiß ich Kind."
Vor Kind entweder Komma oder Bindestrich. :klug:

Ansonsten möchte ich mich meinen Vorrednern anschließen und Dir zu dieser wirklich gelungenen Kurzgeschichte gratulieren. Eine der besten Geschichten, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Kein Wunder, dass Du damals den ersten Preis gewonnen hast. Brr-was für ein Ende...

Neidische Grüße
George

P.S. Roter Drache habe ich erst einmal gelesen, aber damals habe ich bestimmt alle zehn Minuten kontrolliert, ob alle Fenster geschlossen, die Rolläden unten und die Haustür verriegelt ist.
Das muss ich mir nicht nochmal geben :eek1:

 

Hallo George.

Einen Vertipper habe ich noch gefunden:
Zitat:
"Das weiß ich Kind."
Vor Kind entweder Komma oder Bindestrich.
Ja dann, ... nehme ich den Bindestrich. Danke, auch für das Lob.

P.S. Roter Drache habe ich erst einmal gelesen, aber damals habe ich bestimmt alle zehn Minuten kontrolliert, ob alle Fenster geschlossen, die Rolläden unten und die Haustür verriegelt ist.
Jetzt mal abgesehen vom Plot, interessiert mich bei Harris der Spannungsaufbau, die Satzelemente, wie er Charaktere einführt, eben "seine" Sprache. (Nicht um ihn zu kopieren, sondern um zu "verstehen" und das Gelernte umzusetzen.)

Ich werde mir deine Geschichten auch noch zu Gemüte führen und bestimmt finde ich Gründe um dir zu sagen, dass du keinen Grund hast, neidisch zu sein.

Noch ein Gruß von

Alessa

 

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