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Serie Der dunkle Spiegel III

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08.07.2012
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Der dunkle Spiegel III

Six

"Gérôme ist ein sehr harter Mann", sagte Sundberg und schlug seinen Mantelkragen hoch. "Und wenn ich hart sage, dann meine ich, er ist ein Monster."
Lenka zuckte mit keiner Wimper. "Nicht das einzige in diesem Laden."
Sundberg lächelte, drehte sich abrupt um und ging zum Wagen. Bevor er in den Fond des schwarzen Mercedes stieg, schaute er noch einmal zurück und sagte: "Halten Sie durch."
Lenka beobachtete, wie sich die roten Lichter ihren Weg durch die Finsternis bahnten und dort, wo der Waldrand wie eine schwarze Mauer bis in den Himmel aufragte, verschluckt wurden.
Die Stille dieses Ortes war bedrückend. Lenka wusste, dass man sie irgendwo im norddeutschen Flachland abgesetzt hatte, wahrscheinlich in der Nähe der polnischen Grenze. Sie holte tief Luft, ergriff ihre Sporttasche und ging durch das offenstehende Tor.
Das Gehöft bestand, so weit Lenka in der Dunkelheit erkennen konnte, aus drei Gebäuden in u-förmiger Anordnung. Die beiden Nebengebäude, vermutlich Scheune und Werkstatt, wirkten heruntergekommen und baufällig, doch das Haupthaus schien in recht passablem Zustand zu sein. Über der Eingangstür schwamm eine Laterne wie eine Signalboje in windstiller See. Lenka ging über den Hof und betrat das Haus.
Die untere Etage bestand aus einem einzigen, schlicht eingerichteten Raum, dessen Zentrum ein Cafétisch und zwei rustikale Ledersessel bildeten. Im hinteren Bereich, in einem schwach beleuchteten Winkel der Wohnküche, saß Phillipe Gérôme über eine Zeitung gebeugt und las. Auf dem Feuerherd neben ihm brodelte Wasser in einem Kessel.
Lenka schloss die Tür, stellte ihre Tasche ab und sagte: "Guten Abend, Monsieur Gérôme!"
Einen Moment lang schien es, als hätte er sie nicht gehört, doch dann sagte Gérôme, ohne von seiner Lektüre aufzublicken: "Zieh dich aus."
Lenka starrte ihn an. Sein Alter war schwer zu schätzen, er mochte fünfzig sein, vielleicht war er älter.
"Ich glaube, Sie verwechseln mich mit jemandem", sagte Lenka. "Carl Sundberg schickt mich. Ich bin hier wegen des Intensivtrainings."
Gérôme würdigte sie noch immer keines Blickes. Er erhob sich, machte einen Schritt hinüber zum Herd und nahm den Kessel vom Feuer.
Lenka beobachtete ihn. "Haben Sie gehört, was ich …"
Gérôme hatte eine Blechdose aus dem Wandschrank genommen und hantierte jetzt mit einem Thermometer.
"Tja, also diese Scheiße brauche ich nicht", sagte Lenka und zog ihr Telefon aus der Jackentasche. "Ich rufe Sundberg an und kläre das."
Aus den Augenwinkeln verfolgte sie, wie Gérôme das heiße Wasser in eine Kanne mit Seitengriff goss. Er strich den Ärmel seines Pullovers zurück und schaute auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Kein Netz, blinkte es auf dem Display von Lenkas Handy. Sie biss auf ihre Unterlippe. Sekunden vergingen, Gérôme rührte sich nicht.
Lenka drehte sich um und griff ihre Tasche. "Okay, das war's für mich. Schönen Abend noch."
Als sie die Tür öffnete, sagte Gérôme mit leichtem Akzent: "Carl Sundberg hat mir uneingeschränkte Freiheit in der Wahl meiner Methoden zugesichert."
Lenka fuhr herum. "Und das heißt?"
Gérôme starrte noch immer auf seine Uhr. "Das heißt, wenn ich sage Zieh dich aus, dann tust du es und hältst die Fresse."
Er ergriff die Teekanne und schwenkte sie über eine bauchige Schale aus schwarzer Keramik.
"Und wenn nicht?"
In diesem Moment drängte sich die Stille dieses verlassenen Ortes mit Nachdruck in Lenkas Bewusstsein. Für einige Augenblicke schien es nur ein Geräusch zu geben - den Klang des Tees, der in eine Schale floss.
"Wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann bist du raus aus dem Programm."
Drauf geschissen, wollte Lenka sagen. Aber sie schwieg. Vielleicht, weil sie in diesem Programm die einzige Chance sah, ihrer elenden Vergangenheit zu entkommen. Vielleicht, weil die Arbeit für Sundberg versprach, das Rätsel um den Tod ihres Vaters zu lösen. Vielleicht, weil das beachtliche Einkommen, das sie nun verdiente, ihr ermöglichen würde, ein neues, besseres Leben aufzubauen, für sich selbst und für ihre Tochter Lisa.
Gérôme stellte die Teeschale auf ein Tablett. Lenka begann, sich auszuziehen. Es überraschte sie nicht, dass Sundberg einen Psychopathen gewählt hatte, um sie ausbilden zu lassen. Alles in Sundbergs Welt hatte pathologische Züge. Doch dieser Franzose schien ein besonderer Fall zu sein.
Als Lenka ihren Slip auf den Boden fallen ließ, ging Gérôme, das Tablett auf spitzen Fingern, an ihr vorbei und sagte: "Verstaue die Kleidungsstücke in deiner Tasche."
Lenka betrachtete ihn genauer. Mit seinem kurzgeschnittenen, silbern schimmernden Haar, dem Fleece-Pullover und dem sonnengebräunten Teint wirkte Gérôme wie ein rüstiger Pensionär vom Typus Segler – ein Mann, der es gewohnt war, Probleme jeder Art mit den eigenen, harten Händen aus der Welt zu schaffen. Hinter den Gläsern seiner stahlgefassten Brille verhüllte etwas Unbekanntes, ein physisches Leiden oder eine Form des Wahnsinns, den Blick der dunklen Augen.
Während Lenka in ihrer Sporttasche wühlte, um Platz zu schaffen, ließ Gérôme sich in einem der Sessel nieder. Tablett und Teeschale hatte er vor sich auf den Tisch gestellt.
"Okay, was jetzt?" Lenka stand nicht zum ersten Mal nackt vor einem Mann. Doch als Gérôme den Kopf hob und sich ihr zuwandte, spürte sie die Schärfe dieses Blicks so intensiv, dass sie instinktiv zurückwich. Ohne die Augen von ihrer Gestalt zu lassen, ergriff Gérôme die Teeschale, führte sie zu den schmalen Lippen und trank. Lenka spürte, dass dieser Mann nicht von Begehren getrieben wurde. Er betrachtete sie - so, wie ein Schächter das Tier musterte, bevor er sein Messer schwang.
"Bisher haben – einschließlich dir – sieben Personen das Training für Sundbergs Spezialprogramm begonnen", sagte er mit einer ungewöhnlich dunklen Stimme. "Fünf sind gescheitert, und du bist Nummer sechs. Deshalb werde ich dich Six nennen." Er zischte es. Sssiesssss.
"Sie täuschen sich", sagte Lenka. "Sie haben keine Vorstellung davon, was ich aushalten kann."
Gérôme lachte auf. Es war ein raues, böses Lachen.
"Sag mir, Six, weshalb bist du hier?"
Lenka zögerte kurz, dann sagte sie: "Ich werde das Training absolvieren und in Sundbergs Programm kommen. Das ist der Plan."
"Das ist der Plan", wiederholte Gérôme. Er stellt die Schale auf den Tisch, erhob sich und machte ein paar Schritte auf Lenka zu.
"Dreh dich um, Six."
Einem Mann wie Gérôme den Rücken zuzuwenden, kam einer Mutprobe gleich. Lenka erschauerte und spürte, wie ihr Herz gegen die Brust hämmerte, als Gérômes Atem über ihren Nacken strich.
"Du hast keine Vorstellung davon, worauf du dich einlässt", hörte sie seine Stimme direkt an ihrem Ohr.

"Steh auf! Hoch mir dir, Six! Hoch, hoch, hoch!" Lenka fühlte, wie jemand ihr Handgelenk packte und zog. Einen Moment lang drehte sich die Welt, rollte und schaukelte, bis Lenka begriff, dass Gérôme sie auf dem Rücken über den Boden schleifte. Es war dunkel, stockfinster, sicher mitten in der Nacht. Noch bevor sie ganz wach war, hatte sie sich herumgedreht, kam auf die Knie und sprang auf.
Gérôme zog sie vorwärts, schleuderte sie durch die konturlose Schwärze und stieß ihr in den Rücken. Achtung! Hier musste die Treppe kommen. Lenkas nackter Fuß trat ins Leere, und schon stolperte sie ein paar Stufen hinab.
"Geh weiter! Geh weiter!", schrie Gérôme und trieb sie mit Schlägen und Tritten vor sich her. Auch in der unteren Etage herrschte undurchdringliche Finsternis. Lenkas Erinnerungen kamen zurück. Gérôme hatte ihre Tasche weggeschlossen und ihr dann das kleine Zimmer im zweiten Stock gezeigt, in dem sie in den nächsten Wochen leben würde. Der winzige Raum enthielt nicht mehr als eine Futton-Matte, auf der Unterwäsche und Trainingssachen bereit lagen.
Gérôme zog sie aus dem Haus. Lenka spürte die Kühle des feuchten Bodens unter ihren Füssen. Sie taumelte durch die Nacht, unfähig zu denken, nur darauf aus, nicht wieder zu stürzen. Doch das war unmöglich. Sie strauchelte und schlug der Länge nach hin. Gérôme trat nach ihr. "Weiter! Weiter!"
Und so begann Lenkas Training mit einem Marsch durch die Finsternis, der ahnen ließ, was sie hier erwartete. Während Gérôme sie als Fotze, Versagerin und Pétasse beschimpfte, ihr zwischen die Schulterblätter boxte und in ihre Beine trat, während sie stürzte, sich die Hände und Knie zerschrammte, während sie sich das Kinn anschlug und von Gérôme an den Haaren gezogen wurde, bis sie winselte, wurde ihr klar, dass dieser Mann tatsächlich eine Bestie war.
Als über den Feldern das erste Licht des Tages schimmerte, kehrten sie zum Haus zurück. Lenka sank auf die morgenfeuchte Erde und weinte. "Wasch dich. Wechsle deine Kleidung. Wir essen in zehn Minuten", sagte Gérôme.

Die Lektion des Vormittags bestand in einer zermürbenden geistigen Ausdauerübung. Gérôme hatte sie, eine Decke und ein dickes Kissen unter dem Arm, in den Garten hinter dem Haus geführt. Er wählte einen Platz nahe einer Hecken-Wicke, breitete die Decke aus und sagte: "Das Kissen dient nicht deiner Bequemlichkeit. Es richtet dein Becken beim Sitzen auf. Schau her, dies ist die korrekte Technik."
Dann ließ er Lenka auf dem Kissen Platz nehmen. Er verbesserte ihre Haltung, korrigierte sie mit schmerzhaften Griffen.
"Konzentriere dich auf die richtige Sitzposition, und beobachte das Kommen und Gehen des Atems." Lenka hörte den Kies des Gartenweges unter seinen Schritten knirschen, und dann wurde es still.
Anfänglich entspannte sie das Sitzen. Den Blick auf die Ranken, Blätter und Blüten der Wicken gerichtet, erholte sich ihr Körper von den Torturen der Nacht. Doch dieser Friede währte nicht lange. Lenka wurde unruhig. Die Meditation begann, sie anzustrengen. Die Pflanzen verschwammen vor ihren Augen, und bald war es mit der Konzentration vorbei: Lenka verbrauchte ihre Kräfte im Kampf gegen die erzwungene Versteinerung – sie wollte aufspringen, sich schütteln und die Arme strecken. Sekunden dehnten sich zu Minuten, die Schmerzen in Schulter und Rücken wurden unerträglich. Sie wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte. Es mochte eine Stunde gewesen sein, vielleicht waren es zwei.
Als ihr Widerstand zusammenbrach und sie vornüber sank, um ihre Schultern zu entspannen, fuhr ein Schlag wie ein Peitschenhieb auf sie nieder. Lenka schrie auf und warf sich herum. Gérôme starrte sie mit einem irren Funkeln hinter den Gläsern seiner Brille an. In seiner Hand schwang das Seil, mit dem er zugeschlagen hatte. "Du kannst nicht laufen, kannst nicht sitzen", sagte er mit einem Ausdruck äußerster Verachtung. "Sag mir, Six, wozu bist du gut?"

Am Nachmittag dieses Tages folgte Lenka Gérôme in das verfallene Gebäude zur Linken des Haupthauses. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, begriff sie, dass das heruntergekommene Äußere der ehemaligen Scheune die Tarnung einer geräumigen Trainingshalle darstellte: Das kakaofarbene Holz des Bodens bestand aus Dielen, die man mit großer Sorgfalt abgeschliffen, versiegelt und poliert hatte.
Lenka sagte staunend: "Was ist das hier? So eine Art Kungfu-Dōjō?"
Gérôme ignorierte ihre Fragen, zog seine Schuhe aus und durchquerte die Halle, während Lenka sich weiter umschaute. Auch Stützpfeiler und Wandverkleidungen waren mit Holz in dunklen Tönen konstruiert worden. Außer einigen Waffenständern mit Übungsgeräten aus roter Eiche gab es keine sichtbaren Ausrüstungsutensilien.
"Worauf wartest du, Six? Komm her, aber putz dir vorher die Füße ab!"
Die Methode, die Gérôme in der Trainingshalle anwendete, basierte auf einem simplen Drei-Schritte-Programm, das aus Demonstration, Korrektur und Praxis bestand. Alle Übungen, die Lenka an diesem Nachmittag erlernte, waren Variationen eines einzigen Themas.
"Es gibt nur ein wahres Maß", sagte Gérôme. "Wie effizient kann ein Mann oder eine Frau das eigene Körpergewicht stützen und bewegen."
Dann sah er an Lenka herab. "Für dich stehen die Chancen diesbezüglich schlecht, denn du bist schwach und fett."
In den drei Stunden dieser Trainingseinheit trieb Gérôme Lenka an die Grenzen des Zusammenbruchs. Während sich vor der Scheune der Tag dem Abend entgegen neigte, durchlebte sie ein Martyrium aus Liegestützen, Kniebeugen und Bauchpressen. Lenka keuchte, stöhnte, schrie und wimmerte. Gérôme überwachte ihre Bewegungen, schrie ihr ins Gesicht und schlug sie mit dem Seil. Als sie beim Abendessen Mühe hatte, die Teeschale zum Mund zu führen, sagte Gérôme erneut: "Weshalb bist du hier, Six?"

In dieser Nacht träumte sie von ihrer Tochter. Sie sah Lisa vor sich, streichelte ihr blondes Haar und … fuhr in die Höhe, als ein glühender Schmerz über ihren Rücken jagte. "Hoch mit dir, Garce! Los, los!" Wäre ihr in dem Moment, als sie am Abend zuvor todmüde und zerschlagen auf die Futton-Matte gesunken war, der Gedanke gekommen, gegen einen zweiten Nachtmarsch zumindest psychologisch gewappnet zu sein – immerhin wusste sie, was ihr auf den mondlosen Feldern blühte – sie hätte sich nicht mehr täuschen können.
Gérôme hetzte sie über rissige Äcker, prügelte sie durch Dickicht und Dornengestrüpp. Er schien darauf versessen, sie winseln zu hören. "Weshalb bist du hier?", schrie er wieder und wieder. "Wozu bist du gut, Six?" Doch in Lenka war etwas erwacht, dass sich immer dann in ihrem Leben zeigte, wenn die Welt verschworen schien, sie zu demütigen. Es mochte Stolz sein oder eine Art sinnlosen Trotzes.
Und so konnte sie zwar nicht verhindern, dass sich Gérôme an ihren Qualen weidete – sie spürte seine Erregung, wenn er den Stiefel in ihren Rücken stieß – aber sie versagte ihm die Genugtuung ihrer Kapitulation.
Das morgendliche Sitzen verbrachte Lenka im Zustand tiefer Agonie. Weder die blühenden Wicken noch die Sonnenstrahlen auf ihrer Haut konnten sie trösten. Es fehlte ihr die Kraft, den Schmerzen in den Kniegelenken mehr entgegenzusetzen als ein leises Wimmern. Und obwohl sie Gérôme weder hörte noch spürte, wusste sie, dass er hinter ihr stand und darauf lauerte, das Seil zu schwingen. Schließlich kam der Moment, in dem ihr Gérômes Prügel als das geringere Übel erschien. Doch das war ein Irrtum.
Ingrimm und Ekel verzerrten Gérômes Gesicht, als er Lenka mit wütenden Hieben durch den Garten peitschte. "Du verschwendest meine Zeit", brüllte er, heiser vor Zorn. "Du verschwendest meine Zeit!"

In den ersten Wochen schrumpfte Lenkas Leben zu einer Lektion im Aushalten und Überdauern. Sie lernte, Gérômes Raserei zu ertragen, wenn er sie nachts durch die Wildnis jagte. Sie entwickelte die Technik, in Gedanken an ferne, friedvolle Orte zu reisen, während Gérômes Seil schwirrte und er ihre Arme und Schenkel schlug, bis sie sich dunkel färbten. Eine morbide Sehnsucht nach Verausgabung trieb sie in die Trainingshalle, und so seltsam es ihr selbst erschien – das von Gérôme verordnete Krafttraining erfüllte sie mit Befriedigung, denn sie verbesserte sich von Tag zu Tag, und sie spürte, wie sie allmählich stärker wurde.
Sie sprachen nur selten miteinander. Wenn er sie nicht beschimpfte, erteilte Gérôme Anweisungen, die knapp und präzise ausfielen. Neben dem täglichen Training bestanden Lenkas Verpflichtungen darin, ihre Kleider zu reinigen, Haus und Trainingshalle zu putzen sowie bei der Zubereitung der Mahlzeiten zu helfen. Hin und wieder befahl ihr Gérôme, die Trockentoilette zu säubern. Lenka hasste diese Arbeit und betrachtete sie als Demütigung, denn sie erforderte das Ausleeren des Fäkalienkübels in eine übelriechende Sickergrube weitab vom Haus.
Drei Mal am Tag - vor dem Frühstück, während der Mittagspause und nach dem Abendessen - widmete sich Lenka ihren Verletzungen. Gérôme zeigte ihr, wie man Abschürfungen reinigte und mit einer Salbe auf Aloe Vera-Basis behandelte. Blutende Wunden wurden mit Pflastern oder Mullkompressen versorgt. Am meisten setzten ihr Prellungen und Zerrungen zu, die von Gérômes Misshandlungen, aber auch von Stürzen und von den Überlastungen des Krafttrainings herrührten. Lenka lernte, wie sie die Schmerzen durch Massagen und Einreibungen aus Kampferöl lindern konnte. Eines Tages lag ein gerupftes Huhn auf dem Tisch im Garten. Gérôme hielt eine ledernes Futteral in der Hand. "Das ist ein chirurgisches Besteck", sagte er. "Heute üben wir das Vernähen von Wunden."
Irgendwann begann Lenka, sich auf Gérômes nächtliche Überfälle vorzubereiten. In der zehnten Nacht erwartete sie ihren Peiniger und rannte so schnell vor ihm durch die Dunkelheit, dass es schien, als hätte Gérôme Mühe, mit ihr schrittzuhalten. Erst als sie schon beinahe den Hof erreicht hatten, brachte er sie wütend mit einem Seilwurf zu Fall. Er trat nach ihr, doch sie rappelte sich auf und lief weiter.
Während des morgendlichen Sitzens im Garten kämpfte sie gegen die Schmerzen, mit denen ihr Körper sie quälte. Sie fand heraus, wie sie durch tiefes Atmen die Verkrampfungen in Rücken und Schultern lösen konnte, und bald bemerkte sie auch, dass es einen Zusammenhang zwischen Atmung und Gefühl gab: Nichts erleichterte so sehr wie ein Seufzen, und all die seelischen Torturen, denen sie hier ausgesetzt war, wurden erträglicher, wenn es ihr gelang, sich so sehr in das Kommen und Gehen des Atems zu versenken, dass der Rest der Welt für einige Augenblicke verschwand.
Doch Gérôme ließ die Anpassungsbemühungen seiner Schülerin nicht unbeantwortet. Eines Nachts änderte er seine Taktik. Lenka hatte geahnt, dass dieser Moment kommen würde, aber als es soweit war, kostete es sie fast das Leben.
Während ihres irrwitzigen Nachtlaufs trieb Gérôme sie auf unbekanntes Terrain. Der Untergrund wurde feucht und dann morastig. Lenka glitt aus und rutschte in den Schlamm. Sumpfland, schoss es durch ihren Kopf.
"Hoch mit dir, Con!", schrie Gérôme. "Lauf, lauf!"
Doch das Laufen im Morast kostete Kraft, und da sie nicht über Gérômes unheimliche Nachtsichtfähigkeiten verfügte, stürzte sie häufiger als bisher. Jedes Straucheln wurde mit Prügel bestraft. Lenka stolperte, rutschte, glitt und taumelte durch den nächtlichen Sumpf, und erst, als sie durchnässt vor Kälte schlotterte, hustete und nach Luft rang; erst, als der Moder zwischen ihren Zähnen knirschte, begriff sie, dass Gérôme es darauf anlegte, sie im Moor zu ertränken. Wieder und wieder stieß er sie ins Wasser, drückte ihren Kopf in die schwarze, eiskalte Brühe, trat ihr seitlich in die Beine, bis sie röchelnd vor Schmerz und Entsetzen im Schlamm versank.
Doch gegen ihren Wunsch, loszulassen, um endlich und endgültig frei zu sein, um zu versickern und in der schwarzen Erde davon zu rinnen, bäumte sich ein Wille in ihr auf, drückte den zerschlagenen Körper aus dem Moor und ließ sie weiterlaufen, ohne Denken, ohne Fühlen. Zurück im Hof, strauchelte sie mit den letzten Schritten, stürzte und prallte gegen die Mauer der Scheune.
Als sie erwachte, rann warmes klares Wasser ihren Leib hinab. Sie kauerte auf den Fliesen des Duschraumes, und Gérôme stand über ihr, ein Medic-Päckchen in der Hand. Er stellte das Wasser ab und sagte: "Trockne dich ab, und versorge deine Verletzungen. Dann geh schlafen. Du hast den Rest des Tages frei."

Nacht für Nacht träumte Lenka jetzt von ihrer Tochter. Die Sehnsucht nach Lisa wurde unerträglich. "Kann ich sie besuchen?", fragte sie Gérôme eines Morgens beim Essen.
"Sicher. Du kannst jederzeit gehen, Six. Aber dann komm nie wieder!"
Die Härte dieses Mannes irritierte sie. Lenka begann daran zu zweifeln, dass er ein Mensch war. Sicher, er besaß einen menschlichen Leib, ein menschliches Erscheinungsbild. Aber selbst das änderte sich eines Tages: Es mochte am permanenten Schlafmangel liegen, an dem durch Beschimpfungen und Schmerzen ausgeübten Druck, doch Lenka hielt jene plötzliche, furchteinflößende Wahrnehmungsstörung für Klarsicht: Tauchte Gérôme am Rand ihres Blickfeldes auf, dann setzten all die Grausamkeiten, die er Lenka angetan hatte – all das Schlagen, Schreien und Peitschen, selbst der Blick aus seinen schmalen Augen, das Fauchen und das Zähnefletschen - das Bild eines Höllengeistes zusammen, so wie Lenka es aus den Fabelbüchern ihrer Kindheit kannte. Erst wenn sie ihn direkt anblickte, verflüchtigte sich die Schreckensvision.
Nach zwanzig Tagen erweiterte Gérôme das Ausbildungsprogramm. Neben Nachtlauf, morgendlichem Sitzen und dem Krafttraining am Nachmittag hatte Lenka jetzt Abend für Abend eine Einführung in Gérômes Kampftraining zu absolvieren. Er behauptete, die Techniken, die er lehrte, gingen auf ein altes System zurück - die Palast-Faust.
"Jeder ausgebildete Kämpfer kennt drei Distanzen", sagte er und schob sie in der Trainingshalle in eine Ecke. "Fuß, Faust und Ellbogen." Lenkas Atem ging schnell und stoßweise, als Gérôme sich an sie presste und in ihr Ohr flüsterte: "Aber es gibt noch eine vierte Distanz." Falls sich Lenka noch hin und wieder gefragt hatte, ob Gérôme tatsächlich das Reptil war, dass er zu sein schien, dann wurde diese Frage jetzt geklärt. Ohne die Hände, den Kopf oder die Knie zu benutzen, brachte er sie mit einer Serie abrupter Schulter-, Brust- und Beckenstöße unter seine Kontrolle. Lenka ballte die Fäuste, schlug, trat, biss und kratzte, aber der Gewalt, die von Gérômes zerstörerischem Körper ausging, hatte sie nichts entgegen zu setzen. Sie war in eine Schrotmühle geraten - Gérôme schüttelte sie, rammte, walzte und zerschredderte ihren Leib.
Hin und wieder verließ Gérôme das Gehöft. In einem Kombi, den er im Gebäude zur Rechten des Hauses geparkt hatte, fuhr er nach dem Frühstück davon und kehrte – den Kofferraum voller Lebensmittel - erst zurück, wenn es bereits dunkel wurde. Lenka widmete sich auch an diesen Tagen ihrem Training - ein Verhalten, von dem sie selbst nicht wusste, ob es als Gehorsam oder Fleiß zu deuten war.
"Weshalb bist du hier, Six?" Diese Frage hörte sie nun immer häufiger, und da es schien, als erwarte Gérôme wirklich eine Antwort, sagte sie eines Abends in der Trainingshalle: "Ich will raus aus meinem alten Leben. Ich will Geld verdienen und meiner Tochter das geben, was sie verdient." Gérôme hatte ihr zugehört. Er sah sie an, schüttelte den Kopf und sagte: "Trainiere weiter."
Bei einer anderen Gelegenheit sagte Lenka: "Sundberg hat die Möglichkeiten, den Tod meines Vaters aufzuklären. Wenn ich für ihn arbeite, werde ich erfahren, was damals geschah." Gérôme spuckte in Sand. "Kümmere dich um den Abwasch, Six."
Lenka ließ nicht locker. "Ich will mir beweisen, dass ich mehr kann, als ich bisher zustande gebracht habe."
"Nein, nein, nein!", schrie Gérôme und schlug ihr auf den Kopf. "Weshalb bist du hier?"

Als Basisübungen der Palast-Faust entwickelte Gérôme für Lenka ein Programm, das – wie er sagte - darauf abzielte, die Struktur ihres Körpers neu zu organisieren: "Du hast deine Wirbelsäule durch das Tragen von High Heels ruiniert. Titten und Arsch zu zeigen, wird dich aber nicht retten."
Er stellte sie auf ein Wackelbrett und ließ sie über Balken balancieren. Nach und nach reduzierte er Lenkas Krafttraining und ersetzte es durch immer umfangreichere und komplexere Gleichgewichtsübungen.
Allmählich durchschaute Lenka das System. Gérôme handelte keineswegs rein impulsiv. Er folgte einem Muster, hatte einen Plan. So wie er das Balancetraining auf den Körperkraftübungen aufbaute, so bereitete er nun die nächste Stufe vor.
Als sie am Ende der vierten Woche die Halle betrat, pendelte ein leichter Sandsack unter einem Galgen.
"Schlage nicht mit der Faust", sagte Gérôme. "Schlage mit dem ganzen Körper." Mit dem Finger zeichnete er an ihr eine Linie nach, die im Fußballen ihren Ursprung hatte und dann über Bein, Becken, Rumpf, Schulter und Arm bis zu den Knöcheln ihrer Hand verlief.
"Schlage mit dem ganzen Körper", sagte er noch einmal.
Während Lenka jetzt allabendlich gegen die Lederhaut des Sandsacks schlug und das Blut ihrer Knöchel durch die Bandagen sickerte, wurde ihr selbst bewusst, wie stark sie sich bereits verändert hatte. Das Erdulden körperlicher Qualen war ihr beinahe zur Routine geworden. Schmerz, das war nun eine Übung. Gérôme hetzte sie nachts noch immer über die Felder und durch den Wald. Er stieß sie in den Sumpf, er warf sie zu Boden. Doch die aufgerissenen Hände, das angeschlagene Kinn und die geprellte Schulter – das alles war jetzt nicht mehr als ein natürlicher Bestandteil des Trainings. Lenka blutete, schrie, weinte, stöhnte. Dann ging sie in den Duschraum, versorgte ihre Wunden und bereitete anschließend für Gérôme und sich das Frühstück zu, als sei dies der normale Lauf der Dinge.
Auf Gérômes Frage, weshalb sie hier sei, wusste sie keine vernünftige Antwort mehr. Sie versuchte es mit: "Ich habe ein Talent für diesen Job." Gérôme nannte sie Idiote und ging davon. Lenka probierte: "Weil ich skrupellos bin, also genau das, was Sundberg braucht." Gérôme winkte ab. "Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll!" "Débile!"

Schließlich begann Gérôme, Lenka in die Taktik des Zweikampfes einzuweisen. Er lehrte sie einfache Bewegungskombinationen, die Schrittmanöver, Körperdrehungen und Finten sowie verschiedene Schläge, Stöße, Blöcke und Griffe umfassten.
"Es geht nicht darum, möglichst viele Varianten zu kennen", erklärte er. "Suche oder provoziere die Situation, in der die Techniken funktionieren, die du perfekt beherrschst."
Mit dem Beginn des Zweikampftrainings geriet Lenka erneut in die Krise. Gérômes Übergriffe besaßen bislang einen scheinbar beliebigen Charakter, doch nun nahm er sie aus der Perspektive des Kämpfers gezielt aufs Korn. Er wich ihren Schlägen durch Pendelbewegungen aus und rammte sie mit seiner Schulter. Er blockierte ihre Kniestöße und schmetterte sie zu Boden. Lenka setzte alles daran, ihren teuflischen Feind und Meister zumindest ein einziges Mal im Kampf zu treffen. Doch es war aussichtslos.
Im Verlauf der ersten Wochen dieser neuen Trainingsphase schmolzen Lenkas Rundungen dahin. Ihr Körper wurde schwer und hart. Sie bearbeitete den Sandsack mit Fäusten, Knie und Ellbogen. Sie lernte, ihre Füße einzusetzen, trat und hämmerte gegen das Leder, bis Gérôme den leichten Sandsack gegen einen schwereren ersetzte.
Das abendliche Zweikampftraining beschäftigte Lenkas Gedanken Tag und Nacht. Im Duschraum starrte sie minutenlang mit offenen Augen in den Strahl des Wassers, um das Blinzeln zu überwinden. In der Mittagspause schlich sie in die Trainingshalle und färbte Sandsäcke und lederumwickelte Holzpfosten mit ihrem Blut. Während sie nachts auf Gérôme wartete, übte sie die Schrittarbeit der Palast-Faust.
Sie begann, Gérômes Kampfweise genauer zu beobachten. Sie bemerkte, dass er die Linksauslage bevorzugte und stellte ihre eigene Kampfstellung auf die rechte Seite um. Sie entschlüsselte sein Primärverfahren, das aus Abwehr, Konter und einem Körperrammstoß bestand, den er gewöhnlich beendete, indem er sie an den Haaren packte und gegen einen Sandsack, eine Wand oder einen Pfosten stieß. Deshalb lernte sie, mit Finten anzugreifen, gegen die es keine sinnvolle Abwehr gab. Sie entwickelte einen wirkungsvollen Gegenkonter, und als sie eines Tages im Ausrüstungsraum eine Pflanzenschere entdeckte, schnitt sie ihr Haar bis auf die Kopfhaut ab. Und obwohl all diese Bemühungen ihr eigentliches Ziel verfehlten – es gelang Lenka niemals, weder jetzt noch später, Gérôme hart im Kampf zu treffen – so halfen sie doch, die Demütigungen ihres Lehrers zu ertragen.

Gegen Ende ihres zweiten Trainingsmonats, sie hatte jetzt sechzig Tage bei Gérôme verbracht, unterlief Lenka ein katastrophaler Fehler. Beim morgendlichen Essen bemerkte sie, dass Gérômes Blick auf ihren Brüsten ruhte, über die sich straff ihr T-Shirt spannte. Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn einen Moment lang. Dann zog sie sich das Shirt über den Kopf, schleuderte es ihm ins Gesicht und sagte: "Ist Glotzen alles, was du fertigbringst?"
Als sie sah, wie Gérôme seine Brille abnahm und die stählernen Bügel zusammenklappte, lief ein Schauer über ihren Rücken. Noch viele Jahre später verfolgte diese Geste sie in ihren Träumen. In Lenkas Vorstellung verdichtete sie sich zum Symbol des Terrors, zu einer Chiffre namenlosen Schreckens.
Stunden nach diesem Versuch, Gérôme zu manipulieren, zu provozieren, Widerstand zu üben oder was auch immer es gewesen sein mochte, kam Lenka im Morast der Sickergrube zu sich - nackt, blutend und mit Kot beschmiert; ein vor Schmerzen bebendes Bündel aus Fleisch und Knochen. Vielleicht war der Umstand, dass sie noch lebte, ein Hinweis auf einen Rest an Skrupel, den Gérôme bewahrt hatte. Doch Lenka hätte nicht darauf gewettet: Als sie im Duschraum in den Spiegel blickte, erkannte sie ihr Gesicht nicht mehr.
Tage- und nächtelang litt sie unter Qualen, gegen die ihre Atemtechniken machtlos blieben. Sie versorgte die Blutergüsse, Platzwunden und das eingerissene Augenlid. Sie bandagierte ihre gebrochenen Rippen. Sie vernähte den großen Riss auf der Innenseites ihres Schenkels; von welcher Waffe er stammte, fand sie nie heraus. Doch der Schmerz wollte ihren Körper nicht verlassen. Er durchdrang und umhüllte sie. Er folgte ihr bei jedem Schritt, er wurde zum Teil ihrer Persönlichkeit, und eines Tages, als ihr Blick erneut ihr Spiegelbild traf und sie ihren elenden, gepeinigten Leib betrachtete, wusste sie es: Das ist es. Was ich bin. Und schon immer war. Schmerz.

Im August kam Sundberg zu Besuch. Als Lenka ihm auf dem Hof entgegenging, blieb er stehen und sagte: "Oh, mein Gott."
Lenka hatte ihr Training wegen der gebrochenen Rippen und ihres allgemein katastrophalen Zustandes für eine Woche unterbrechen müssen. In dieser Zeit verzichtete Gérôme darauf, sie zu quälen und stellte sie sogar von ihren häuslichen Verpflichtungen frei. Während der gemeinsamen Mahlzeiten streifte er sie gelegentlich mit einem prüfenden Blick, sagte aber nie etwas. Lenka wusste, dass er ihre Genesung überwachte. Als er sie eines Morgens beim Sitzen im Garten antraf, sagte er nur: "Heute Abend machen wir mit dem Training weiter."
In den Wochen vor Sundbergs Besuch stellte Gérôme die Module der Ausbildung um. Statt des Wildnislaufes stand nun Schwimmen auf dem Programm. In der ersten Nacht dieser neuen Trainingsphase führte Gérôme Lenka zu einem im Wald verborgenen See, und während dieser kurzen Wanderung geschah etwas Seltsames.
"Du solltest nicht allzu viele Hoffnungen in Sundbergs Projekt setzen", bemerkte Gérôme und schaute vom Weg hinauf zu den Sternen.
"Warum sagen Sie das?"
"In Sundbergs Welt ist nichts so, wie es scheint."
Darauf wusste Lenka nichts zu antworten, und auch für Gérôme schien die Angelegenheit erledigt. Lenka brauchte einige Minuten, bis sie begriff, dass dies der erste Wortwechsel zwischen ihnen war, der einem echten Gespräch nahe kam.
Das Schwimmtraining würde ihr vor allem in einer Hinsicht wertvolle Dienste leisten, erklärte Gérôme. "Du lernst das Atmen."
Lenka schaute auf den im Sternenlicht glänzenden Spiegel des Waldsees, zog ihre Kleider aus und folgte Gérôme in das Wasser. Diesen Mann nackt zu sehen, löste ein merkwürdiges und unbegründetes Gefühl der Vertrautheit aus. Sein Körper trug die Zeichen eines gewaltsamen Lebens. Das schwache Leuchten der reflektierenden Wasserfläche ließ Narben und schlecht verheilte Verletzungen erahnen.
"Es gibt nur einen Schwimmstil, der sich für dieses Training eignet", sagte Gérôme, schöpfte Wasser und ließ es über seinen Körper rinnen. "Du wirst diese Technik nicht kennen. Schau her."
Gérôme schob sich flach ins Wasser und glitt geräuschlos dahin. Er drehte sich auf die linke Seite und zog erst den rechten und dann den linken Arm gestreckt an den Körper heran. In der letzten Phase rollte er wieder herum, führte beide Arme nach vorn, und der Zyklus begann von Neuem.
"Jetzt versuche es, Six", sagte Gérôme, und Lenka tauchte in den See.
Während Gérôme ihre Bewegungen korrigierte, fühlte sie, wie das Leben in ihren Körper zurückkehrte. In den vergangenen Wochen hatte sie sich, ohne es zu bemerken, in Stasis begeben – der Stillstand ihrer vitalen Energien, Gefühle und Empfindungen mochte eine Konsequenz der tödlichen Bedrohung durch ihren dämonischen Lehrmeister sein; jetzt strömte das Leben zurück in ihren Leib, und sie konnte nicht anders, als zu lachen.
"Atme unter Wasser aus, Six, und in der Seitenlage ein. Hey, was ist so lustig? Ach, ich verschwende meine Zeit mit dir!"
Das Schwimmtraining blieb nicht die einzige Neuerung. Gérôme begann, Lenka in ein umfangreiches Programm von Dehnungsübungen einzuweisen, die er mit Atemtechniken kombinierte. "Du bist zu steif", sagte er. "Nimm das Wasser als Vorbild. Sei, wie Wasser."
Die Auswirkungen dieser Trainingsumstellungen waren bemerkenswert. Schwimmen, Meditation, Yoga und Zweikampf bildeten jetzt die vier Himmelsrichtungen in Lenkas Welt, und Wasser wurde zwischen diesen Polen zum verbindenden Element. Das Mysterium des Fließens und Strömens und der Wunsch, die Qualitäten des Wassers ganz in sich aufzunehmen, beschäftigten Lenka nun Tag und Nacht.
Diese Entwicklung hatte einen heilenden Effekt. Lenka begann, ihre Schmerzhülle abzustreifen. Das Trauma ihres Zusammenstoßes mit Gérôme verblasste. Noch immer setzte er ihr während des Kampftrainings übel zu. Noch immer war sie gezwungen, Tag für Tag ihre blutenden Wunden und Prellungen zu versorgen. Doch das alles erschien jetzt in einem anderen, milderen Licht, und Lenka gab sich der Täuschung hin, sie hätte das Tal des Schreckens endgültig hinter sich gelassen.
"Sie sehen schlimm aus", sagte Sundberg. "Entschuldigen Sie, aber …" Er schien wirklich erschüttert. Lenka winkte ab. "Naja, das Gröbste habe ich wohl hinter mir."
Mit einer Bewegung des Kinns zum Haus hin fragte Sundberg: "Ist er da?"
"Nein, er ist heute früh weggefahren, um ein paar Angelegenheiten zu regeln. Kommt erst heute Abend zurück."
"Okay, dann …" Sundberg drehte sich um und gab ein Zeichen in Richtung des schwarzen Mercedes, der vor dem Hof auf dem Schotterweg parkte. Lenka spürte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, als sich die Tür des Fonds öffnete und ihre Tochter aus dem Wagen sprang.
Mit dem hellen, klaren Gesicht von Lisa kehrte die Welt zurück zu Lenka. Es war, als hätte sie drei Monate lang auf einem fremden Planeten gelebt, in einer Welt jenseits des Styx, doch als sie das Lächeln ihrer Tochter sah, erinnerte sie sich daran, dass Leben auch Freude war, Liebe, Lachen, Zärtlichkeit und Hoffnung.
"Komm her, meine …" Lenka versagte die Stimme. Sie sank auf die Knie, streckte die Hände aus und konnte es nicht erwarten, ihre Tochter zu umarmen. Lisa rannte über den Hof, zögernd erst, dann im vollen Spurt. Sie rief etwas, aber Lenka hörte sie nicht. In ihrem Bewusstsein war nur Platz für diese eine Wahrnehmung, dieses eine Bild und Symbol des Glücks – der Blick ihrer Tochter, ihr lächelnder Mund, ihr blondes in der Sommerluft fliegendes Haar. Lisa warf sich in die Arme ihrer Mutter. "Wo sind deine Haare, Mami? Was ist mit deinem Gesicht?"
"Ist alles okay, meine Kleine, alles okay."
Sundberg stand dabei und betrachtete schweigend das Lachen und das Weinen, die Küsse und die Tränen.
Es war ein Tag, der verging wie ein Traum. Lisa verlangte, alles zu sehen, und Lenka zeigte ihr das kleine Zimmer mit der Futton-Matte, den Trainingsraum und die Sandsäcke, den Meditationsplatz an der Wicken-Hecke. Lisa staunte, wusste nicht, was sie davon halten sollte und schaute an ihrer Mutter hoch, die sich so sehr verändert hatte. "Fährst du mit uns nach Haus, Mami?", fragte sie immer wieder, und an Lenkas Wangen flossen die Tränen herab.
Später, es war bereits Nachmittag und Lisa spielte zwischen Blumen und Apfelbäumen, saßen Lenka und Sundberg am Gartentisch und tranken Tee.
"Ich weiß, wie schwer das hier ist", sagte Sundberg.
Lenka beobachtete lächelnd ihre Tochter und sagte: "Wirklich? Ich glaube nicht."
Sundberg griff in seine Sakko-Tasche und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. "Wollen Sie?", sagte er, und hielt Lenka das Päckchen hin.
Lenka starrte auf die Packung und sagte: "Ich hatte nicht mal die Kraft, das Rauchen zu vermissen."
"Nehmen Sie eine", forderte Sundberg sie auf.
Während er Lenka Feuer gab sagte er: "Haben Sie mit dem Schwimmtraining begonnen?"
Lenka schaute wieder zu ihrer Tochter und nickte.
"Dann dauert es nicht mehr lange", sagte Sundberg. "Ich kenne Gérômes Programm. Es folgt noch ein letztes Modul."
"Und kennen Sie ihn selbst auch?", fragte Lenka und inhalierte mit geschlossenen Augen.
"Sie meinen, ob ich ihn …"
"Ich meine, ob Sie wirklich wissen, wer dieser Mann ist!"
Sundberg zögerte einen Moment lang. Dann sagte er: "Man kann es sich leicht machen und ihn als einen Verrückten betrachten, als einen Wahnsinnigen mit einer Methode, die funktioniert."
Lenka schlug die Hände vor das Gesicht. "Sundberg, ich kann es nicht mehr hören – eine Methode, die funktioniert. Ist das Ihr heiliges Mantra?"
Sundberg schwieg.
"Und was ist, wenn ich es mir nicht leicht machen will?", fragte Lenka. "Was ist, wenn ich ihn nicht als Verrückten betrachten will? Als was sehen Sie ihn?"
Sundberg setzte die Teeschale an die Lippen und trank.
"Was ist er?", fragte Lenka noch einmal.
"Fragen Sie nach meiner persönlichen Meinung, Lenka?"
"Ja. Ja."
Sundberg stellte die Schale zurück und sagte: "Ich betrachte ihn als das ganz Andere, als das Fremde."
"Das Fremde", wiederholte Lenka und schüttelte den Kopf. "Ist ja eine Wahnsinns-Erklärung."
Sundberg zuckte mit den Schultern. "Sie haben mich gefragt", sagte er. "Ich möchte Ihnen aber dringend raten, nicht über Phillipe Gérôme nachzudenken. Das ist nicht Ihre Aufgabe. Konzentrieren Sie sich auf das Training, Lenka."
Lisa kam herbeigelaufen. In ihrer kleinen Hand hielt sie ein paar Blumen, Gräser und Zweige, die sie gesammelt hatte. Sie schmiegte sich an Lenkas Knie und hielt ihr den Strauß entgegen. "Sei nicht mehr traurig, Mami", sagte sie. Es war die Geste eines fünfjährigen Mädchens, das die Qualen ihrer Mutter instinktiv verstand.
Der Abschied war bitter, aber Lenka passte einen günstigen Moment ab. Als Lisa am frühen Abend in ihren Armen schlief, sagte sie: "Sie sollten jetzt fahren. Sie wird nicht aufwachen."
Sundberg nickte.
Und wieder drehte er sich noch einmal um, bevor er in den Wagen stieg. "Lisa ist in guten Händen", sagte er. "Machen Sie sich keine Sorgen. Achten Sie auf Gérôme", fügte er nach einem Zögern hinzu. "Er hat noch ein As im Ärmel."

Das letzte Modul in Gérômes Ausbildungsprogramm begann mit einem Knall. "Eine Feuerwaffe ist ein garstiges Ding", sagte Gérôme, nachdem er die Pistole geholstert und Lenka mit einer Geste aufgefordert hatte, den Gehörschutz abzusetzen. "Eine Feuerwaffe unterscheidet nicht zwischen dir und deinem Feind. Deshalb darfst du niemals unaufmerksam sein. Verstehst du das, Six?"
Zu Lenkas Überraschung hatte sich das dritte Gebäude des Hofes - die vermeintliche Werkstatt und Garage – als Schießanlage mit geräuschgedämmten Splitterschutzwänden und einer mechanischen Fallscheibenkonstruktion entpuppt.
"Wir beginnen mit dem Trockentraining", sagte Gérôme und nahm eine schwarze Pistole von einem Haken an der Wand. "Das ist eine tschechische Armeepistole. Ich zeige dir, wie man sie hält."
"Ich hatte schon eine Einweisung", sagte Lenka.
"Das weiß ich", erwiderte Gérôme. "Ich kenne deine Akte, habe von deinen Einsätzen gelesen – Koljakov und Šimánek, nicht wahr?"
Lenka nickte.
"Was du noch nicht begriffen hast, Six, ist der Sinn dieser Ausbildung", fuhr Gérôme fort. "Das hier ist keine Vorbereitung für den Außendienst als Geheimdienstnutte."
Die Stunden zwischen Mittagspause und Abendessen wurden nun gleichmäßig in fortgeschrittene Nahkampfpraxis und Feuerwaffentraining aufgeteilt. In den Zweikampfübungen plagte Gérôme Lenka erneut mit seinen Drills zur vierten Distanz – Griff- und Hebeltechniken, Zwingen, Würfe und Fixierungen, Bodenkampf. Er ließ sie aus allen erdenklichen Positionen und in dutzenden verschiedener Situationen kämpfen: stehend auf einem Bein, liegend auf dem Bauch, mit den Händen auf dem Rücken, im und unter Wasser, kopfüber hängend, sitzend auf einem Stuhl und hockend unter einem Tisch.
Das Pistolentraining begann mit Übungen zum Halten, Holstern und Ziehen der Waffe. "Was nutzt es, präzise zu schießen, wenn du nicht dazu kommst, deine Pistole zu ziehen", sagte Gérôme. Lenka versuchte es mit Holstern verschiedener Form und Materialen. Im Laufe von hunderten von Wiederholungen bildeten sich Schwielen an ihrer rechten Hand. "Gut so", sagte Gérôme. "Du wirst schneller." Ein Gürtelholster aus Kydex lag ihr besonders, und Gérôme schenkte es ihr. Eine Woche darauf begann das Abzugstraining. In ihren Träumen hörte sie Gérôme: "Drücke das Züngel gerade nach hinten." "Benutze das erste Glied, nicht den ganzen Finger!" "Nach dem Schuss geh zurück zum Trigger-Reset. Nein, nicht so. Das ist zu weit. Von vorn, Six, von vorn."
Noch immer schwammen sie jede Nacht. Noch immer setzte sich Lenka nach dem Frühstück auf das Meditationskissen, beobachtete das Kommen und Gehen des Atems, lauschte dem Summen der Insekten, betrachtete die Blattadern der Pflanzen zu ihren Füßen. Noch immer absolvierte Lenka ihr Yoga-Programm. Noch immer lieferte sie sich mit Gérôme verbissene Zweikämpfe in der Trainingshalle. Und da sie glaubte, dass sie das Prinzip dieser Ausbildung jetzt verstanden hatte, wurde sie unaufmerksam und vergaß Sundbergs Warnung.
Gérôme hatte angekündigt, dass sie an diesem Abend mit dem Schießtraining beginnen würde. Das monotone Trockentraining war vorbei. Als sie wie üblich nach dem Schwimmen in der Küche stand, um das Frühstück zuzubereiten, griff Gérôme ihr in den Arm. "Wir beginnen heute mit etwas anderem", sagte er und führte sie in den Garten.
Der Tag war noch jung, die ersten Strahlen der Septembersonne tanzten zwischen den Bäumen. Lenka sah Gérôme erwartungsvoll an. Er erwiderte ihren Blick, und dann sagte er leise: "Je suis désolée, Six." Mit einer Geste wies er in Richtung des Feldes. "Geh den Gartenweg entlang, bis du zu diesen Büschen dort am Acker kommst."
Lenka spürte das Hämmern ihres Herzens. "Und was dann?", fragte sie mit belegter Stimme.
"Du wirst es sehen, Six."
Der kurze Spaziergang führte durch den Garten hindurch, Lenka war den Weg zum Feld so oft gelaufen, heute wurde er zu einem Gang in die Dunkelheit. Anfangs hielt Lenka es für einen Trick Gérômes, eines seiner üblichen Manöver der Einschüchterung. Doch mit jedem Schritt spürte sie es deutlicher, dieses Mal war etwas anders: Dort am Feldrand, hinter den Büschen lauerte der Abgrund, lauerte das Entsetzen. Es war ein Angriff ihres Lehrers, so zwingend und unerbittlich, dass selbst ihm - dem Teufel Gérôme – davor graute; Je suis désolée. Es tut mir leid, Six.
Als sie den Klang schwärmender Fliegen hörte, wurden ihre Knie weich. Als der Geruch der Verwesung in ihre Nase stach, verdunkelte sich die Sonne. Als sie den kleinen Menschenkörper sah, der zwischen Blumen und wildem Roggen auf der rissigen Erde lag, sank sie auf die Knie. "Nein", sagte sie tonlos.
Ein Pochen in den Schläfen kroch sie noch ein Stück. Ihre Finger krallten sich in die Erde, ihre Zähne gruben sich in die Lippe, bis sie blutete. Weiter konnte sie nicht.
"Du musst es dir ansehen", hörte sie Gérômes Stimme direkt hinter sich. Aber Lenka bewegte sich nicht mehr. Sie starrte in den Abgrund. Vor ihren unbewegten Augen weitete sich der Blick in ein Land aus Asche. In der Ferne stiegen Flammen vor einem glühenden Horizont empor.
"Sieh es dir an", sagte Gérôme und packte sie an den Handgelenken. Er schleifte sie hinüber zum Feld. "Nein", flüsterte Lenka mit letzter Kraft. "Bitte, bitte nicht."
Gérôme nahm ihren Kopf zwischen seine Hände. "Du kannst mich nicht zwingen, das anzusehen", wollte Lenka sagen, aber es quälte sich nur ein animalischer Laut aus ihrer Brust.
Sie schloss die Augen, presste die Lider zusammen, entschlossen, niemals wieder einen Lichtstrahl hereinzulassen. Und Gérôme hockte hinter ihr, und er hielt ihren Kopf. Er begann, auf sie zu einzureden. Da er französisch sprach, verstand Lenka ihn nicht. In ihrer Wahrnehmung bewegte sich Gérômes Stimme durch die Finsternis, die sie selbst war. Es war eine angenehme, beinahe schöne Stimme. Sie öffnete Lenkas Augen.
Vor ihr lag der nackte Körper eines etwa achtjährigen Jungen. Sie konnte das Gesicht nicht erkennen, der größte Teil des Schädels war zertrümmert. Und obwohl Lenka unter einem Gedanken der Erleichterung erzitterte – nein, dies hier war nicht ihre Tochter – packte sie nun das Grauen dieses Anblicks: nichts war so tot, wie ein totes Kind.
Sie schlug nach Gérôme, aber er ließ sie nicht los. "Schau es dir an, Six", sagte er, und seine Stimme klang brüchig.
In ihrer Jugend hatte Lenka alles probiert – Alkohol, Kokain, Speed, Ecstasy, Mescalin, Acid, Heroin. Jahrelang hatten Bad Trips sie gegen die Klippen des Horrors geschmettert, und irgendwann glaubte sie, jede Facette von Panik und Wahn zu kennen. Doch erst die kleine Leiche am Feld hinter dem Garten ließ sie die letzte Grenze überschreiten. Es war, als müsse etwas in ihr unter diesem Druck zerplatzen. Es war, als wölbte sich die Erde über ihren Kopf.
"Du wirst jeden Tag hierher kommen und sitzen", sagte Gérôme, doch Lenka verstand den Sinn dieser Worte nicht. Mechanisch folgte sie ihm in die Trainingshalle und führte die Übungen des Yoga-Programms aus. Mechanisch wusch sie sich im Duschraum unter eiskaltem Wasser. Mechanisch war alles, was sie tat: gehen, den Tisch decken, essen, Geschirrspülen, gegen den Sandsack schlagen. Am Abend reichte Gérôme ihr zum ersten Mal eine geladene Pistole – mechanisch schoss sie, mechanisch wechselte sie das Magazin. Als sie in der Nacht durch den Waldsee schwamm, spürte sie nicht die Kälte das Wassers und nicht das Brennen ihrer Muskeln.
Am folgenden Tag führte Gérôme sie wieder zum Feldrand, ließ sie vor der Leiche niedersitzen und sagte: "Schau es dir an, Six, und dann sag mir, weshalb du hier bist."
Lenkas Blick ruhte auf dem toten Kind. Aber er war blind. Unter dem Anprall dieser Erfahrung war Flucht die einzige Option. In ihren Gedanken lief Lenka über morgenfeuchtes Gras. Sie betrachtete den Mond und summte ein Lied aus ihrer Kindheit. Doch sie wusste, dass sie sich hier nicht ewig verstecken konnte.
Am vierten Tag betrachtete Lenka den kleinen toten Körper, und es war ein Massaker. Fliegen hatten ihre Eier abgelegt. Ihre Larven bohrten sich durch die verwesende Haut, die zu kochen schien, so viele mussten es sein. Aaskäfer und Ameisen wimmelten überall. Der die Spätsommerluft verpestende Geruch war unbeschreiblich.
"Das ist obszön", schrie Lenka Gérôme entgegen, als er sie abholte. "Du missbrauchst ihn!" Sie weinte und schlug nach Gérôme. "Du missbrauchst ihn!"
Im Laufe der folgenden Tage trat eine Veränderung ein, die Lenka so irritierte, dass sie glaubte, sie verliere den Verstand. Während ihrer täglichen Übungen begann sie, sich nach dem toten Jungen zu sehnen, und immer wenn sie zu ihm zurückkehrte, hoffte sie, dass ihm in ihrer Abwesenheit nichts zugestoßen war. Sie vermutete, dass Gérôme die Leiche irgendwie vor den Tieren des Waldes schützte. Vielleicht benutzte er eine Plane oder ein Drahtgeflecht.
Tag für Tag kam sie nun zum Gebüsch, unter dem der kleine Körper lag, und nur ein Rest an Vernunft bewahrte sie davor, den Jungen in einer Aufwallung von Kummer und Mitgefühl in die Arme zu nehmen. Sie beobachtete, wie sich das Gewebe von Haut und Muskeln zersetzte, wie die Sekrete des toten Leibes den Boden verseuchten und die Pflanzen ringsum sterben ließen.
Tag für Tag holte Gérôme sie nach dem Sitzen ab und fragte: "Weshalb bist du hier?" Lenka hatte längst begriffen, dass sich diese Frage nicht auf das Gehöft bezog, ja nicht einmal auf ihren Job bei Sundberg. Warum bist du hier?
Und während Lenka im Nahkampftraining lernte, alle möglichen Gegenstände als Waffen einsetzen – Stöcke, Messer, Flaschen, zusammengrollte Zeitungen, Seile, Schraubenzieher -, während sie in der Schießausbildung Kaliber für Kaliber meisterte – von einer zweiundzwanziger Randfeuerpistole bis zum Drei-Null-Acht Sturmgewehr – lebte ein Teil von ihr bei dem toten Kind im Feld.
Längst hatte sie die Frage hinter sich gelassen, was dem Jungen zugestoßen sein mochte und ob Gérôme etwas damit zu hatte. Längst hatte sie ihren Ekel vor dem Zerfließen des Menschenleibes überwunden. Alles was sie jetzt noch wünschte, war bei diesen kümmerlichen Überresten zu sitzen und daran zu denken, dass dies einmal Lachen war und Weinen und Baden im Meer und das Umarmen der Mutter. Und im Zuge dieses Sitzens veränderte sie sich ganz und gar. Vor ihren Augen lösten sich Bänder und Sehnen. Vor ihren Augen dörrten Knorpelfasern und Gelenke. Vor ihren Augen blichen Knochen. Warum bist du hier?
Es überraschte Lenka nicht, als Gérôme eines Morgens sagte: "Der Junge ist fort. Ich habe ihn begraben." Sie hatte ihm längst Lebewohl gesagt. Sie hatte ihm gedankt und versprochen, niemals zu vergessen. Warum bist du hier?
Etwa eine Woche später holte Sundberg sie ab. Als sie sich vor dem Haus von Gérôme verabschiedete, sagte er leise: "Das war nur die Basis-Ausbildung. Mehr konnte ich dir in vier Monaten nicht beibringen."
Lenka nickte, drehte sich um und ging vom Hof.

 
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Liebe Penthesilea, vielen Dank für Deinen Kommentar zu meiner Geschichte. Zunächst einmal zu Deinen Hinweisen, die Stilistik des Textes betreffend. Ich sehe es auch so, dass die Sprache nicht immer geschlossen, also wie aus einem Guss wirkt. Mag sein, dass mir das damals beim Schreiben nicht auffiel oder dass ich besonders in den drastischen Szenen ein bisschen über das Ziel hinausgeschossen bin. Würde ich heute jedenfalls anders machen.

Insbesondere das Problem mit dem Zuviel an Details und dem Überladen von Szenen ist mir aus heutiger Sicht vollkommen klar.

Dann zu der eigenartigen Beziehung zwischen Lenka und Gérôme. Die Ambivalenz dieser Begegnung entwickelt sich recht spät. Zunächst erlebt Lenka ihren Lehrmeister als Monster, so wie Sundberg es angekündigt hat. Doch dann versteht Lenka, dass sie mit den Qualen, die Gérôme ihr zufügt, anders umgehen kann, wenn sie beginnt, ihn anders zu sehen. Gérôme hat etwas merkwürdig Unpersönliches, Sundberg sagt über ihn: "Ich betrachte ihn als das ganz Andere, als das Fremde."

Für mich ist das ein Schlüssel. Gérôme ist brutal, kalt, gnadenlos, aber er handelt nicht aus trivialen Motiven heraus. Er ist nicht einfach nur Sadist. Er bringt Lenka dazu, die Welt mit seinen Augen zu sehen. Er sagt dem Sinn nach: Sieh in dieses dunkle Universum. Hier gibt es keine Überlebenden.

Das Defizitäre in der Sichtweise der normalen Menschen, der »Zivilisten«, wie Gérôme sie vielleicht nennen würde, ist das Verleugnen bitterer Wahrheiten, die Zufluchtnahme zu Häschenwelten, zu Illusion, Projektion und Verdrängung. Es ist aber auch das Sich-Gehen-Lassen in Fatalismus, Depression und Intellektualismus, sprich Rationalisierung. Gérôme zeigt Lenka ein düsteres Universum, der Krieger schaut in dieses Universum, und eiskalt starrt es auf den Krieger zurück. Immer wieder fragt Gérôme Lenka nach dem Sinn ihres Seins, nach dem »Warum bist du hier?«

Dass sie darauf keine Antwort findet, ist nicht nur ihre persönliche Ahnungslosigkeit, es ist wahrscheinlich auch die Ahnungslosigkeit des Lesers und damit ein Hinweis auf die Conditio humana, auf ein Problem, mit dem sich jeder Mensch befassen muss, wenn er reifen will.

Ich denke, eine Grundannahme dieses Textes ist, dass wir bereit sein müssen, uns mit bitteren Tatsachen zu befassen, wenn wir über das hinauswachsen wollen, wozu uns Evolution, Kindheit und Gesellschaft gemacht haben.

Dies in eine Agentengeschichte zu packen war für mich eine große Freude. Ich lese die Geschichte noch immer gern, trotz ihrer Schwächen, die Du klar benannt hast. Vielen Dank für Deine Auseinandersetzung mit diesem düsteren Text.

Lieber Gruß
Achillus

 

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