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Der Endruhevertrag
"Mister Plie! Sagen Sie mir bitte, wie alt Sie sind!"
Mister Plie stutzte.
"Aber das wissen Sie doch, Euer Ehren..."
"Ich weiß, dass ich es weiß, Mister Plie; ich möchte aber, dass Sie mir auf meine Fragen antworten, ja!?"
"Letzten Monat wurde ich Einhundertundeinundfünzig, Sir."
"Einhundertundeinundfünzig?!",wiederholte Richter Bloom gedehnt.
"Das heißt, dass Sie sich der Verpflichtung gegenüber dem Endruhevertrag entzogen haben, indem Sie vor einem Jahr, bei Bekannten im Ausland untertauchten; und erst, als Sie versuchten, Ihre Frau und Sohn nachzuholen, wurden Sie gefasst."
Ich wollte nicht ermordet werden, Euer Ehren."
"Aber niemand will Sie ermorden, mein lieber Mister Plie", entgegnete der Richter mit einer fahrigen Handbewegung.
"Sie haben lediglich Ihren Vertrag zu erfüllen, den Sie bei Ihrer Geburt mit der vereinten Weltregierung abgeschlossen haben."
"Als das passierte, war ich ein unmündiges Baby. Auch wurde ich zu einem späteren Zeitpunkt, niemals darüber befragt. Man bestimmte es einfach."
"So ist nun mal das Gesetz. Niemand kann davon ausgenommen werden. Oder sind Sie der Meinung, unsere Gesetze sind nicht für alle gleich?"
"Doch, Sir, schon. Trotzdem ist es nicht richtig, mich gegen meinen Willen zu töten."
"Das ist doch der springende Punkt, Mister Plie: Sie alleine, müssen diese Entscheidung treffen, wir sind nur ausführendes Organ. Es geht hier schließlich nicht nur um Sie; es geht um unser komplettes soziale System."
"Für mich bleibt es aber Mord", antwortete Mister Plie trotzig.
"Und überhaupt: was machen Sie soviel Aufhebens um das Ganze. Warum hat man mich nicht schon längst gegen meinen Willen einfach umgebracht?"
"Von einem Mann mit Ihrer Bildung, habe ich ein bißchen mehr erwartet, Mister Plie. Sicherlich ist es Ihnen bekannt, dass wir Sie nur dem Endruhevertrag zuführen können, wenn Sie das notwendige Formular unterzeichnet haben und Ihre Iris, für eine Bestätigung Ihrer Identität, gescant wurde", erklärte Richter Bloom ruhig.
"Somit ist ein Missbrauch der Vertragsbestimmungen ausgeschlossen."
"Das ist doch nichts als Juristenscheiss..." bemerkte Mister Plie unwirsch.
Ein Raunen ging durch die Reihen der anwesenden Zuschauer, die im hinteren Teil des Saals Platz genommen hatten.
Mit einem lauten Knall, schlug der Richter mit der flachen Hand auf den edlen Mahagonipult, hinter dem er saß.
Irgend eine Frau im Publikum, japste erschrocken auf.
"Mein lieber Mister Plie. Sie strapazieren hier eben im erheblichen Maße meine Geduld", knurrte Richter Bloom gereizt.
"Sie wissen doch sicherlich, dass ich Sie, Alternativ zu der Erfüllung des Endruhevertrages, zu einer Beugehaft, nicht unter fünzig Jahren verurteilen kann..."
"Lieber im Gefängnis , als ...", begann Mister Plie stur.
"In verschärfter Isolationshaft!" schrie Richter Bloom dazwischen.
"Das heißt im Klartext: Keine Besuche der Familie! Keine psychologische Betreuung! Sie werden schlimmer dahinvegetieren wie ein Tier. Ein Tier kann nicht denken. Ein Mensch schon."
Mister Plie, ein mittelgroßer, hagerer Mann, mit ebenso hagerem Gesicht und streng zurück gekämmten Haar, schaute eingeschüchtert zu Boden.
Er saß auf einem einfachen Stuhl, in der Mitte des Gerichtssaals, während seine Hände, mit den schlanken, länglichen Fingern, - die für ihn als Pianist geradezu ideal waren - krampfhaft die Knie umklammerten.
"Aber ich will nicht sterben, Euer Ehren!" jammerte er verzweifelt.
"Ich liebe das Leben, meine Frau und meinen Sohn. Ich liebe meine Musik. Ich kann das doch nicht alles so einfach aufgeben. Ich hab ein Recht auf mein Leben."
Richter Bloom war nun schon seit achtzig Jahren Richter, hier in New Hollywood, im sonnigen Kalifornien; und Fälle, wie dieser Jonathan Plie, hatte er zu Hunderten erlebt.
"Sie reden von Ihrem Recht? Das ist doch so typisch, für Menschen wie Sie es einer sind", gab er schroff zurück.
Jeder will von den Vorteilen der Langlebigkeit profitieren, aber den Preis will am Ende keiner bezahlen."
Richter Bloom vermied absichtlich den Begriff der Unsterblichkeit.
Genervt strich er sich über den glattrasierten Schädel.
Die sonnengebräunte, jugendlich gestraffte Haut und seine kantige Kopfform, verliehen dem Richter etwas sportlich-dynamisches.
Seine Einhundertundzwanzig Jahre, sah man ihm beiweitem nicht an.
Auf dem Monitor, der in dem Mahagonipult eingelassen war, überflog er eine kurze Passage aus der Akte dieses Plie. Nichts ungewöhnliches.
Ein normaler Durchnittsbürger, mit einem normalen Lebenslauf.
Aber waren es nicht immer gerade die "Normalen" die einem Schwierigkeiten bereiteten?
Vor seinem geistigen Auge tauchten flüchtig Bilder vom Strand auf, an dem er spät nach Sonnenuntergang, gerne spazieren ging; denn dann herrschte dort nicht mehr solch ein Gedränge, wie tagsüber.
Ja, das würde er heute Abend wieder tun.
Das gab ihm neue Kraft, um mit solchen uneinsichtigen Idioten, wie es dieser Plie war, besser fertig zu werden.
Sein Blick glitt wieder zu dem Angeklagten und wanderte dann weiter zu den Zuschauern, die recht zahlreich erschienen waren, obwohl sieben Kameras, jede öffentliche Verhandlung, in sämtliche Wohnungen, Cafes und Büros sendeten.
Er wusste, dass er heute wieder jede Menge Pluspunkte sammeln konnte, wenn er diesen Kerl überzeugen konnte, endlich seiner Verantwortung Genüge zu tun.
"Wir alle, mich eingeschlossen, haben eine gewährte Lebensdauer von Hundertfünfzig Jahren erhalten", begann Richter Bloom mit versöhnlichem Ton.
"Das ist eine erfüllende Anzahl an Lebenszeit, die uns durch die hervorragenden Erkenntnisse in der medizinischen Forschung, vor vielen hunderten Jahren, ermöglicht wurde. Vielleicht mag es auf den ersten Blick ein Nachteil sein, wenn der Mensch weiß, wann seine Zeit gekommen ist, aber dafür ermöglicht unsere Gesellschaft ihm immerhin eine Doppelt so lange Lebenserwartung, als er früher einmal besaß."
Richter Bloom nahm ein Schluck Wasser, aus einem bereit stehenden Glas.
"Stellen Sie sich das doch mal vor, mein Lieber: Vor dieser Zeit, erreichten die Menschen lediglich ein Durchschnittsalter von sechzig bis siebzig Jahren; je nach Veranlagung. Aber sie blieben nicht, so wie wir es kennen, jung und kerngesund dabei. Nein. Im Gegenteil. Sie wurden körperlich alt, ihr Geist verfiel mit den Jahren immer mehr. Ihre Haut wurde faltig, die Knochen wurden gebrechlich, sie wurden - krank. Die meisten von ihnen, starben unter unsäglichen Qualen."
Ein Stöhnen ging durch die Zuschauer und Richter Bloom machte eine künstliche Pause, bevor er weitersprach, um das Gesagte noch ein wenig nachwirken zu lassen.
"Doch dann kam der Durchbruch. Die Wissenschaftler entdeckten das Gen für die Langlebigkeit. Nun konnten die Menschen endlich einem Millionen Jahre andauerten Diktat der Natur entfliehen und sich einer nie gekannten Unbeschwertheit des Seins hingeben. Doch bereits Generationen später, erwiesen sich die Prophezeiungen einiger kluger Köpfe, über die möglichen fatalen Auswirkungen dieser Langlebigkeit, als bewahrheitet. Die sozialen, wirtschaftlichen, ja selbst die medizinischen Strukturen, gerieten völlig außer Kontrolle. Hinzu kam, die jetzt unabwendbare Überbevölkerung. Also führte man eine weltweite, genormte Geburtenkontrolle ein, die regelte, wie viele Kinder, in welchem Land, wann geboren werden durften, aufgrund der Anzahl von Menschen, die dort durch Unfällen, oder gar Mord, vor Ablauf ihrer vorgegebenen Lebensbefristung, zu Tode kamen. So einigte man sich letztendlich auf den Endruhevertrag, der eine weitere Zunahme der Überbevölkerung ausschließt, sowie natürlich ein Aussterben der Menschheit."
Richter Bloom bedachte Plie mit einem prüfenden Blick, der während der Rede, den Kopf immer weiter auf die Brust hatte sinken lassen.
Es beginnt zu wirken, dachte Richter Bloom zufrieden.
"Mit diesem Endruhevertrag, der automatisch bei jeder Geburt in Kraft tritt, verpflichtet sich der Erdenbürger, nach Ablauf der festgelegten Lebensspanne von Einhundertundfünfzig Jahren, sich seiner globalen Verpflichtung zu stellen und dieses Leben, selbstverständlich von entsprechend kompetenten Fachkräften, beenden zu lassen, um so Platz für den Nächsten zu bereiten. Mit Mord, mein lieber Mister Plie, hat das nicht das geringste zu tun. Es ist lediglich eine folgerichtige Notwendigkeit, innerhalb eines fließenden, sich gegenseitig bedingten Systems."
Mister Plie starrte stumm weiterhin zu Boden.
Seine Gegenwehr schien bereits erloschen.
Richter Bloom hatte ihn in der Ecke.
Jetzt hieß es, den Deckel zu zumachen.
"Sehen Sie mal, Mister Plie! Was soll denn Ihre Frau, oder gar Ihr Sohn von Ihnen halten, wenn Sie sich einem Weltgesetz entziehen wollen? Die beiden durften noch nicht mal zu diesem Gerichtstermin erscheinen."
Bei Verhandlungen wie diese, bei denen es um die Einlösung des Endruhevertrages ging, wurden Familienangehörige, aus Bedenken, sie könnten einen negativen Einfluß auf den Angeklagten haben, fern gehalten.
"Hier fängt es doch bereits an. Wie soll Ihre Familie denn erst gefühlsmäßig damit zurecht kommen, wenn Sie für Jahrzehnte im Gefängnis einsitzen und Sie nicht besuchen darf? Denn in einer Beugehaft,dass wissen Sie, ist kein Besuch gestattet. Wie soll Ihre Familie mit dieser Ächtung, mit dieser Schande, ihr soziales Umfeld, ihren, ansonsten guten Leumund, aufrecht erhalten? Sagen Sie mir das bitte, Mister Plie!"
Mister Plie starrte für einige Sekunden betroffen den Richter an, dann schloss er die Augen und begann leise zu schluchzen.
Betroffenheit machte sich in dem Saal breit.
Einige der Zuschauer begannen verlegen zu hüsteln.
Plie richtete sich nach einer Weile langsam auf.
"Ich... halte es immer noch für... Mord, Euer Ehren. Aber ich will nicht, dass meine Familie meinetwegen leidet. Ich will ihnen diese... Schande ersparen.", sagte Plie mit zittriger Stimme.
Spontaner Beifall erklang sofort aus den Zuschauerreihen, als hätte der Angeklagte soeben, eine an ihn gestellte Frage in einer Quizshow, richtig beantwortet.
Über das sonnengebräunte Gesicht von Richter Bloom, huschte ein Lächeln.
Na, also!
"Glauben Sie mir, mein Bester, Sie haben eindeutig die richtige Entscheidung getroffen. Sie werden ein Vorbild für all diejenigen sein, die immer noch glauben, die Weltregierung triebe Willkür mit ihnen."
Richter Bloom erhob sich von seinem Sessel und die Zuschauer taten es ihm gleich.
Nur Jonathan Plie blieb, in sich wieder zusammen gesunken, sitzen.
Doch im Anbetracht seines Erfolges - dem Land Kalifornien, etliche Tausende von Werteinheiten, für die Jahrzehntelange Verpflegung eines weiteren Inhaftierten erspart zu haben - übersah er geflissentlich diese Respektlosigkeit.
"Im Namen der vereinten Weltregierung, ergeht hier und heute folgender Beschluss: Jonathan Plie gibt sein Einverständnis für die Durchführung des Endruhevertrages, indem er das notwendige Formular unterzeichnet und den Iris-Scan absolviert. Die Kosten der Einäscherung, sowie die Kosten des Verfahrens, trägt der Angeklagte. Entsprechende Werteinheiten werden vom Konto abgebucht. Die Sitzung ist hiermit geschlossen."
Willenlos schlurfte Mister Plie zwischen zwei Gerichtsdienern aus dem Saal.
Die Erfüllung des Endruhevertrages, die in der Regel durch Einnahme eines schnell und schmerzlos wirkendem Giftes erfolgte, wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen.
Hier allerdings durften Familienangehörige wieder zugegen sein.
Wenn sie es rechtzeitig beantragt hatten...
Abends, während Richter Bloom seinen geliebten Spaziergang am Menschenleeren Strand tätigte, erfüllte Mister Plie endlich seine Pflicht gegenüber dem Weltgesetz und wurde dem Endruhevertrag zugeführt...