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Der Entwurf
Du zeichnest wirre Linien auf das Papier, bringst inneres nach außen, entwirfst eine Momentaufnahme deines Befindens.
Das Ziel hast du längst verloren, das Bild ist Ausdruck von Resignation, und doch weinst du während des Malens.
Warum nur ... glaubst du etwa, ein paar chaotische Striche machen es besser? Und überhaupt gibt es längst keine Ausstellung mehr, die deinen Werken Mitleid spenden würde, aber das hast du alles selbst verbockt.
Manchmal, wenn es draußen regnet, das Licht im Zimmer gedämpft ist; wenn die Musik deprimierend, der Alkohol am wirken ist, dann steigst du in das Katapult der Erinnerung und schleuderst dich zurück in Bilder, die schon längst verblasst sind. Dort verklärst du, erlebst anders, als es war, während du unaufhörlich Linien zu Papier bringst.
Ein Gemälde des zerstörten Egos, selbstbeklagende Kunst; und in der Trauer ist jeder Mensch ein Nicht-Schwimmer.
"Ich nehme noch einen Wein."
Worte, so selbstverständlich heruntergespult wie das obligatorische Guten Abend. Wie viele waren es bereits? Es ist nicht wichtig.
Der Laden ist angesagt, weil es durchgestylte Hocker statt Stühlen gibt, ein künstlicher Wasserfall hinter einer Scheibe plätschert, und die Preise höher sind als woanders.
Vor ihm liegt der Entwurf, daneben die Fachzeitschrift, am Rand steht der Aschenbecher, auf dessen linker Seite die qualmende Kippe ruht. Die Kellnerin kommt zurück, ein Glas gesellt sich zum Rest hinzu.
Viel zu zaghaft überlegt er, arbeitet nicht auf voller Leistung; seine bisherigen Versuche bloß ein Schatten seines Talents.
Als sie am Tisch neben ihm Platz nimmt, bemerkt er sie gar nicht erst.
Neugierig wird er bei seiner Arbeit beobachtet, während die Musik im Hintergrund etwas leiser gestellt wird, damit er ihre Stimme hören kann.
"Das machen Sie also?"
Er schreckt auf und dreht sich zur Seite.
"Ja", lacht er dann ein wenig schüchtern. - "Langweilig, nicht wahr?"
Sie schüttelt den Kopf, die rote Mähne darauf, und er schüttelt sich unwillkürlich mit. Anschließend steht sie einfach auf und setzt sich auf den Hocker neben ihm.
"Nö, finde ich gar nicht."
Er stellt sich ihr vor, und sie reicht ihm die Hand, ohne einen Namen zu nennen.
Du hast vergessen, wie sich Leben anfühlt, und deshalb gestaltest du Vergangenes neu, um dich an Glück zu erinnern, das es nie gab.
Manchmal solltest du wirklich aufwachen mein Freund, sonst wird dieser Schlaf in bösen Träumen enden.
Jetzt brichst du die Arbeit ab. Die Linien so nichtssagend wie du selbst.
Was treibt dich zum Fenster ... die Sache, die du suchst, wirst du da draußen nicht finden.
Sie hatten sich geküsst und gestreichelt.
Er glaubt noch immer, die feinen Härchen ihrer Arme auf den Fingern zu spüren.
Die namenlose Frau hat sich im Schlaf an ihn geschmiegt. Jetzt bietet sie ein friedliches Bild. Die rote Wildheit zum Zopf gebunden, der Duft nach Vanille vermischt mit dem seines Rasierwassers, und ein solch ruhiges, gleichmäßiges Atmen, das ihn in seiner Befremdung an Ausgeglichenheit erinnert.
Ob sie weiß, dass er sie im Schlaf beobachtet?
Diese Frage stellt sich ihm zuerst.
Dann: Ob sie weiß, dass ich sie nur Träume?
Du isst etwas, lustlos wie immer. Es bekommt dir nicht gut, in alten Zeiten zu ertrinken. Schau dir die durcheinander geratenen Linien doch einmal an, und lasse sie nicht bloß planlos entstehen.
Da stimmt überhaupt nichts mehr. Deine Entwürfe sind schlecht geworden.
Deine Gedanken drehen sich in der Luft, lassen sie wirbeln, und bringen Blasen aus Liebe hervor. Das ist krank!
Und wehe, du kommst mir jetzt damit, dass du es nicht besser könntest. Je mieser du wirst, umso mehr muss ich über dich lachen.
Am nächsten Morgen ist sie verschwunden.
Er zieht sich an, rasiert sich, macht sich frisch.
Dann geht er einen Kaffee trinken, und beginnt mit dem neuen Entwurf.
"Das machen Sie also?"
"Ja, langweilig, oder?"
"Nein, warum?"
Er überlegt.
"Weil ich geweckt werden möchte."
Du wirfst das vollgekritzelte Papier weg.
Nun wach auf!