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Der erste Tod
“Nein!!!”
Sie ließ ihren Bogen fallen und sprang nach vorn.
Mit einem hässlichen Geräusch bohrte sich Stahl durch Leder tief ins Fleisch. Der Mann, dessen Rücken sie geschützt hatte, fuhr herum und seine wirbelnde Klinge köpfte den Ghul mit einem einzigen Hieb. Es war der Letzte.
Sie sank am Schwert ihres Gegners herab, der schwarzhaarige Mann ließ seine Waffe fallen und fing sie auf, bevor sie ganz zu Boden stürzen konnte. Seine tiefblauen Augen waren vor Entsetzen geweitet. Ausgerechnet ER, das Steingesicht.
Sie wusste, dass es so kommen würde. Sie hatte es schon seit einigen Tagen gewusst. Sie hatte diese Szene unzählige Male in ihren Träumen gesehen. Aber nie hatte sie die Zeit gefunden, es ihm zu sagen. Sich richtig von ihm zu verabschieden. Außerdem hatte sie ihn nicht beunruhigen wollen.
Turon ging in die Knie, ließ sie sanft zu Boden gleiten. Er presste eine Hand auf die tiefe Wunde in ihrem Leib, aus dem unaufhörlich ein heller Strom Blut quoll. Sein gehetzter Blick ruckte nach hinten, heftete sich auf eine junge Frau mit langen, roten Haaren. Die Hexe.
„Tut doch etwas! Sie stirbt!“ Hörbare Panik schwang in der Stimme des sonst so beherrschten Mannes mit.
Sie hob schwach eine Hand und schüttelte den Kopf. Ihr Gefährte ergriff sie und drückte sie fest. „Du musst durchhalten.“
Die Rothaarige schüttelte ebenso den Kopf. „Ich kann nicht. Ich kann nur zerstören, nicht heilen.“
Sie hatte mit Mara darüber gesprochen. Die von Sheila berührte. Jene, die erwachen musste, damit die Zukunft so aussehen konnte, wie sie es kannten.
Die Panik in den so schönen Augen des Mannes, für den sie jedes Mal aufs Neue ihr Leben gegeben hätte, verwandelte sich in pure Verzweiflung. Sie hätte es nicht ertragen können, ihn zu verlieren. Eher wollte sie selbst sterben.
„Turon“, krächzte sie. Sie hustete und spuckte Blut.
„Shhh, Du sollst nicht sprechen. Wir... Du kommst schon wieder auf die Beine.“ Aber sie wussten beide, das es eine Lüge war, und so ignorierte sie die Worte.
Sie sammelte sich kurz, um noch einmal zu sprechen. „Gib .. gut auf Uleva acht. Werde glücklich mit ihr.“ Voller Liebe versank sie in seinen Augen. Wenn sie schon sterben musste, wollte sie wenigstens diesen Anblick in Erinnerung haben. Dann schlossen sich ihre Lider und ihr Körper erschlaffte.
Ihre Seele verließ die tote Hülle und stieg über der Szenerie auf.
Sie waren in einer Höhle. Etwa ein halbes Dutzend Frauen standen in der Grotte, zusammen mit Turon. Er schloss die Augen und eine Träne lief sein Steingesicht herab. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen. Um ihn herum, in einem lockeren Kreis sechs Kriegerinnen. Eine von ihnen war besagte Uleva. Sie war annähernd so groß wie die Tote, mit dem gleichen, frechen Funkeln in den Augen und dem nahezu ewigem Grinsen auf den Lippen. In diesem Augenblick grinste Uleva nicht. Möglicherweise hätte manch einer sie für Verwandte gehalten, wenn er die beiden Frauen zusammen erlebte. Die Ähnlichkeiten des Charakters und ihres Aussehens waren schon beinahe unheimlich. Aber das Wichtigste war, ihre frühere Rivalin liebte Turon aufrichtig. Sie wünschte ihnen von ganzem Herzen, dass sie zusammen fanden.
Mara, die Hexe, stand etwas abseits und sah auf den Mann herunter, mit einer Mimik, die eine Mischung aus Bedauern und Resignation zeigte. Die siebte Frau in dieser Runde war eine kühle Blonde, deren üblicherweise zickige Mine von einem nahezu übermäßigen Ernst gezeichnet war. Jene hatte die Aufgabe der Toten übernommen. Die Wache über Fenlora.
Die steinerne Höhle war ein einziges, blutiges Schlachtfeld. Ein weiteres Dutzend Frauenleichen lag inmitten einer viel größeren Anzahl erschlagener Ghule. Der Angriff hatte kein Ende nehmen wollen, und doch war es ihre Pflicht gewesen, sie aufzuhalten. Genau hier, an dieser Stelle. Schicksal. Bestimmung. Sie konnten den Angriff zurückschlagen, wenn auch unter hohen Verlusten. Die Blonde würde nun, wie es ihre Bestimmung ihr vorschrieb, tiefer in den Höhlenkomplex gehen, und den Urheber des Angriffs vernichten, bevor er noch mehr von diesen Bestien erwecken konnte. Verhindern, dass sie die noch spärlichen Siedlungen der Fenloras, nein der ganzen Welt, überschwemmten. Denn wenn dem kein Einhalt geboten wurde, würde dieses Experiment außer Kontrolle geraten.
Aber damit hatte die sie selbst nichts zu tun. Sie sog noch ein letztes Mal den Anblick ihres Geliebten in sich auf, als ihre Seele auch schon losgelöst höher schwebte. Höher, immer weiter. Durch die Wände und Felsen, auf die Bergkette. Höher. Sie konnte die weiten Ebenen Blektrons überblicken, oder dem, was einst Blektron werden würde. Noch höher. Zwischen die Sterne.
Und dort verharrte sie dann. Tief in der Schwärze, zwischen den Sternen und dem Ozean. Den Sternen, welche die Träume der Menschen waren, und dem Ozean, der die Vergangenheit eines jeden einzelnen Lebewesens dokumentierte. Eine Weile hing sie dort, während ihre Aura nicht wusste, was nun passieren sollte. Sie konnte nicht sterben. Das hatte sie noch nie gekonnt. Seit über 2000 Jahren, und etlichen Parallelen war es ihr verboten. Sie hatte den ersten Mord begangen. Sie war Jik.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort allein war, aber im Grunde war es auch bedeutungslos. Irgendwann spürte sie eine vertraute Aura neben sich. Eine Aura, die noch älter war, als die ihre. Die noch mehr gesehen hatte, und sich im Gegensatz zu ihrer nebelhaften Vergangenheit erinnern konnte.
„Wie fühlst Du Dich?“ fragte Askalon.
„Ich weiß nicht.“
Eine Weile herrschte schweigen. Dann sprach sie wieder, ohne die ewige Stille dieses Ortes zu unterbrechen. „Ich glaube, ich werde ihn sehr vermissen.“ Die Auren hatten keine Lippen, welche die Worte hätten formen können, sie waren einfach da. Gefühlt. Gedacht. Verstanden.
Sie hatte förmlich das Bild vor Augen, wie Askalon weise nickte.
„Ich fürchte, ich muss wieder los, oder?“ Sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Ihre Pflicht. Mit den jüngsten Geschehnissen hatte sie einen weiteren Zyklus geschaffen. Aber das hieß nicht, das ihre eigene Buße abgetan war. Möglicherweise würde sie das nie sein. Sie hatte sich damit abgefunden.
– Und am Ende ist die Jikaila immer allein. –
„Ich bin mir noch nicht sicher. Ich glaube, im Moment brennt es nirgends“, erwiderte Askalon in unverschämt erfreutem Tonfall. Dabei war sie schließlich gerade gestorben. Wie unhöflich. Wenn sie einen Körper gehabt hätte, läge nun ein breites Grinsen auf ihren Lippen.
„Muss ich wieder neu geboren werden? Als Kind?“ Um genau zu sein war dies das erste Mal, dass sie starb, seit sie sich erinnern konnte. Und doch hatte sie irgendwo in sich vergraben das Wissen von hunderten, nein tausenden Toden. Jedes Mal aufs Neue. Für ihre Pflicht. Manchmal an Altersschwäche. Selten. Oft im Kampf. Um jene zu schützen, die sie liebte. Denen sie es geschworen hatte.
– Und in der Stunde der Not wird die Jikaila zurück kehren, um ihr Volk zu retten. –
„Und Du willst wieder ganz von vorne anfangen?“
Sie überlegte kurz. „Nein. Aber ich dachte, es müsste so sein.“
„Ich glaube...“, sinnierte Askalon, „Du hast dir eine Pause verdient.“
Aber was war schon ein Urlaub wert, ohne ihren Liebsten an ihrer Seite? Sie sagte nichts darauf.
„Ich werde mich bei Dir melden, wenn ich Deiner Tatkraft bedarf.“
Dann verschwand er.
Sie spürte einen Sog, der sie auf den Ozean zog. Nicht gewalttätig, aber doch mit unwiderstehlicher Kraft. Sie wehrte sich nicht dagegen, sondern ließ sich treiben. Eine Blase raste auf sie zu – oder sie selbst auf die Blase? – und sie wurde hineingezogen.
Ihre Aura schwebte über einem weißen Strand. Azurblaues Meer rauschte in sanften Wellen gegen den Sand. Sie erkannte den Ort sofort. Novo-Zakunthi. Zu Hause. Sie wurde von einem schwarzen Fleck inmitten des strahlenden Weiß des Sandes angezogen. Im Näherkommen stellten er sich als mehrere Menschen heraus.
Als erstes fiel ihr die breitschultrige Gestalt Turons auf. Er kniete neben einem Körper, der haargenau ihrem Eigenen glich, als sie vielleicht in den Anfängen der Vierziger war. Ihr Leib hatte eine ungesund blasse Farbe, und ein rotberobter weiterer Mann kniete neben ihr und murmelte gerade einen Zauberspruch. Neben Turon hockte ein kleines, dunkelhaariges Mädchen im Sand, das gerade das zarte Alter von fünf Jahren erreicht hatte.
Auf ihren nicht vorhandenen Gesichtszügen bildete sich ein breites Lächeln, und an Askalon gerichtet sagte sie: „Du alter Schuft.“ Die gedachten Worte waren voller Zuneigung zu der alten Echse. Dann wehrte sie sich nicht länger gegen den Drang, in ihren Körper zu fahren.
Einen Lidschlag später schlug sie die Augen auf und schnappte nach Luft, sich aufbäumend. Das Mädchen sah sie aus geweiteten, nun aber wieder strahlenden Augen an. „Mama!“ Und weitere zwei Herzschläge später hatte sie den Braunschopf am Hals hängen. Sie lachte auf und drückte die Kleine fest an sich, hauchte ihr ein Küsschen auf den Scheitel. Tränen bildeten sich in ihren Augen, als sie Turon ansah. Sie bemühte sich, ihre Gefühle vor den Anwesenden zu verbergen und blinzelte die Tränen wieder weg.
Der Magier sank erschöpft zurück. „Das war knapp.“
Ihr Gefährte legte dem Heiler eine kräftige Pranke auf die Schulter, in einer Geste der Dankbarkeit, dann hefteten sich diese schönen blauen Augen auf sie. In nahezu gluckenhaftem Ton, und zugleich forsch und militärisch, wie es seine Art war, fragte er sie: „Danja! Bist du in Ordnung? Ist alles noch dran?“
Sie strahlte ihn an, und wischte sich verstohlen eine Träne aus den Augenwinkeln, die doch nicht verschwinden wollte. „Mir geht es Bestens.“
Eine alte Echse beobachtete die Szene mit väterlichem Schmunzeln. Er wusste genau, was dieses Geschenk für seinen Schützling bedeutete. Und er war wirklich der Meinung, dass die Jikaila ein paar Jahrzehnte Urlaub verdient hatte.
Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Dinge, die dringender seiner Einmischung bedurften. Er würde sie rufen, wenn es an der Zeit war.