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Der Fahrgast
Guido riss das Steuer nach links. Der Mann war aus der Dunkelheit des Waldes auf die Straße gelaufen, als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert. Das Quietschen der Reifen übertönte das voll aufgedrehte Radio. Schließlich stand der Wagen, und Guido versicherte sich mit einer Hand, dass sein Kopf noch auf seinem Hals saß, während er mit der anderen das Radio ausschaltete.
Er schrie auf, als der Mann gegen die Scheibe der Beifahrertür hämmerte.
„Lass mich rein!“, rief er. Der Regen draußen hatte seine kinnlangen braunen Haare wie eine dunkele Tapete an sein Gesicht geklebt. Er schlug immer heftiger gegen die Tür und sah dabei mit panisch aufgerissenen Augen über seine Schulter in den Wald, aus dem er gerade gekommen war. Guido starrte den Verzweifelten mit dümmlich offen stehendem Mund an.
„Lass mich rein!“, wiederholte der Mann. „Verdammt, lass mich nicht hier draußen verrecken!“
Tausend Gedanken marterten Guidos Hirn gleichzeitig, so dass er nicht einen einzigen vernünftigen fassen konnte. Wer war der Kerl? Wovor hatte er solche Angst? War es vielleicht eine Falle? Wer läuft um die Uhrzeit hier draußen im Nirgendwo durch den Wald? Ohne Taschenlampe?
„Jetzt verdammt!“, schrie der Mann, und Guido gehorchte endlich. Als er die Zentralverriegelung per Knopfdruck aufhob, war das eher das Resultat einer gedankenfreien Schrecksekunde als einer bewussten Handlung. Der Mann riss die Tür auf und stieg hektisch ein. Ein grauenvollen Augenblick lang war Guido sicher, dass er eine Pistole unter seiner fellgefütterten Jeansjacke hervorziehen würde.
Stattdessen faltete der Einsteiger die Hände wie zum Gebet und sah nach oben.
„Um Gottes Willen, ich danke dir, Mann! Und jetzt gib Gas!“
„Was …“
„FAHR, VERDAMMT!“
In dem Moment, in dem Guido den ersten Gang einlegte und das Pedal durchtrat, kam etwas aus dem Wald, das nur bei sehr genauem Hinsehen als menschliches Wesen zu erkennen war. Das Gesicht der rundlichen Figur war eine Helmut-Kohl-Maske, die man kurz ins Feuer gehalten hatte, eine Sinfonie des Asynchronen unter einer Glatze, die ein Kranz aus viel zu langen Haaren umsäumte, der ihm bis zu den Schultern hing. In ruhigeren Minuten benutzte er ihn vermutlich, um sein kahles Haupt damit zu bedecken.
Der Glatzkopf hatte eine Axt, mit der er jetzt ausholte.
„Scheiße!“, riefen Guido und sein gerade zugestiegener Fahrgast, so kurz hintereinander, dass sie es fast im Chor taten. Vor dem Hieb der Axt zurückweichend, lehnte der zugestiegene Fremde sich so weit rüber, dass er sich quasi auf Guidos Arm setzte. Das Auto fuhr los und es gab einen scheppernden Krach von Metall auf Metall, als die Axt in den Kofferraum hieb.
Im Rückspiegel beobachtete Guido den wutschnaubenden Überkämmer, der noch eine Weile hinter ihnen herlief. Schreiend. Der Mann aus dem Wald drehte sich immer wieder panisch um und flehte: „Schneller! Fahr schneller!“ So oft, bis es Guido auf die ohnehin strapazierten Nerven ging und er ihn anfuhr: „Hey, wir sind in Sicherheit, okay?“
Der Mann aus dem Wald sackte erschöpft im Autositz zusammen und sah Guido einige Sekunden lang schweigend an. Dann blickte er geradeaus auf die Fahrbahn und sagte: „Fick, war das knapp.“
„Was wollte der Irre denn von Ihnen?“
„Mich umbringen, was denkst du?“
„Aber warum?“
„Fick jedenfalls. Diesmal hätte er mich wirklich fast gehabt. Er wird tatsächlich besser mit dem Alter, nicht zu glauben.“
„Was heißt denn diesmal?“
Der Beifahrer wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht. „Jedenfalls danke ich dir für deine Hilfe, Bruder. Und so Leid es mir tut, ich muss auf den Schreck einfach einen Schluck trinken.“
Guido sah, wie sich das grüne Licht der Armaturen auf den dolchartigen Eckzähnen seines Fahrgastes spiegelte.