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Der Farbenseher
Das Heroin meiner Mutter ist immer braun gewesen. Sie hat es mir gesagt. Ich weiß auch, dass es ein schönes Braun gewesen ist. Ich habe nicht gesehen wie es aussah. Ich habe nicht hingeguckt. Ich habe nie hingeguckt. Aber es hat ihr gut gefallen und ich denke, dass es ein schönes Braun war. Es hat mich beruhigt, dass sie die Farbe sehen konnte. Als ich noch zu jung war, um Symbole zu begreifen, hat sie mir erklärt, dass sie nur schwarzweiß sehen kann. Ich war neugierig, wollte wissen wie ein Leben in schwarzweiß aussieht. Sie erklärte mir, dass ich es demnächst sehen werde, weil es erblich ist. Als sie klein war, sei ihre Welt bunt gewesen. Als sie größer wurde, seien die Farben zuerst verblasst und dann fast ganz verschwunden, bis sie nur noch Grautöne sehen konnte.
Mit der Zeit fing ich an, die Welt mit meinen Augen zu fotografieren. Ich mochte die Welt in bunten Farben. Wenn mir die Unterscheidung von unterschiedlichen Pigmenten demnächst verwehrt bleiben sollte, so wollte ich wenigstens die wichtigsten Farben in meinen Kopf einbrennen. Mein Vorhaben ging auf: Schloss ich die Augen, so konnte ich sie schon bald abrufen. Den lila verfärbten Winterhimmel kurz vor Sonnenaufgang am Hafen. Das Grün meiner Sankt Pauli Jacke. Die rotblonden Haare meiner Mutter. Ich dachte, meine Mutter hätte mich besser schon früher kennen gelernt. Sie hätte viel von mir lernen können. Ich hätte ihr erklären können, dass man Farben in seinen Kopf speichern kann. Dann hätte sie es selbst versuchen können. Ich habe versucht ihr zu sagen, dass es funktioniert, aber sie hat mir nicht geglaubt. Nicht einmal hat sie mir geglaubt, als ich die Augen zugekniffen habe und gesagt habe, dass ich wirklich all das, was mir wichtig erscheint, vor meinen verschlossenen Augen sehe. Aber sie hat mich für einen dummen Jungen gehalten. Sie hat gesagt, wenn ich eine lange Zeit nur noch schwarzweiß sehe, dann vergisst mein Gehirn wie ihre Haare ausgesehen haben. Ich konnte ihr nicht widersprechen, weil ich ja keine Erfahrung in langem Schwarzweißsehen hatte. Aber ich war trotzdem überzeugt, dass sich manche Farben so tief im Innern meines Gehirns eingebrannt hatten, dass ich sie nicht vergessen würde.
Eine solche Überzeugung fehlte meiner Mutter. Sie konnte nicht damit leben, fast keine Farben mehr zu sehen. Vielleicht war das Braun ihres Heroins wirklich die einzige Farbe, die sie sehen konnte. Vielleicht hatte es ihr deswegen so gut gefallen. Vielleicht nahm sie deswegen irgendwann eine so große Menge davon, dass sie ihr nicht mehr standhalten konnte. Oder wollte.
Wo sind meine Farben auf einmal? Den Tag, an dem ich Farben nur noch verblasst sehen kann, überspringe ich. Der Tag, an dem auch für mich alles schwarzweiß wird, kommt zu schnell. Zu plötzlich. Meine Mutter hat recht gehabt: Unsere Schwarzweißsicht war genetisch bedingt. Es musste nur das Ereignis kommen, das unsere Farbwahrnehmung löschen konnte. Zwei Ereignisse, die wir beide nicht wegstecken können. Wieso habe ich meine Mutter nie nach ihrem Auslöser gefragt? Und was musste ich ihr angetan haben, damit sie mit eigenem Verhalten zu meinem Auslöser wurde? Fragen, die ich mir mein gesamtes Leben stellen und niemals beantworten werden kann. Seitdem meine Farben weg sind, nimmt mein Leben eine neue Dimension an. Ich versuche mich hiermit abzufinden. Das wird noch eine Weile dauern. Aber ich habe noch Zeit. Ich bin erst fünfzehn Jahre alt.
Nachts überkommt mich manchmal die Sehnsucht nach meinem alten Leben. Dann schließe ich die Augen und kann genau drei Farben sehen: Das Lila des verfärbten Himmels über dem Wasser, meine grüne Sankt Pauli Jacke und die rotblonden Haare meiner Mutter.