- Beitritt
- 02.02.2004
- Beiträge
- 3.961
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 4
Der Fischer und seine Frau
"He, was soll das denn?"
Werner Kuster lief nichts ahnend durch die Bahnhofpassage von Grünwil, als er von einem Lasso eingefangen wurde.
"Kenne ich Sie?" Werner versuchte verzweifelt das Gleichgewicht zu halten.
"Mein Name ist Georg Jenatsch und ich fessle sie jetzt."
Die Wäscheleine schlang sich bereits fest um Werners Brust und Arme. Andere Passanten schauten im Vorbeigehen belustigt herüber, ordneten das ganze wohl als billiges Strassentheater ein.
"Ja, aber wieso?"
Werner sah sich um, und hoffte irgendwo Kurt Felix zu entdecken, da zog Georg die Schnur etwas fester an.
"Aua, das tut weh."
Ein Mann mit Stock schüttelte den Kopf, setzte aber seinen Gang fort. Niemanden schien das wirklich zu interessieren, dass der in Anzug und Krawatte gekleidete Werner Kuster am hellichten Tag mitten im Bahnhof von Grünwil von einem anderen Mann in Kordhose und Tweedjacke überwältigt und gefesselt wurde. Es gab eben viele Verrückte in dieser Stadt.
Die Wäscheleine presste die Arme fest an Werners Körper. In der einen Hand hielt er immer noch seine schwarze Aktentasche. Mit der anderen versuchte er vergeblich die Leine zu erhaschen.
"Ganz einfach", antwortete Georg, während er Werners Beine zusammenband.
"Mein Verleger sagte mir, meine Geschichten sind einfach nicht fesselnd genug."
"Ach, sie sind Schriftsteller?".
"Romanautor. Ich schreibe Romane."
Georg verknotete die Leine und betrachtete zufrieden sein Werk.
"Ok, sie haben mich gefesselt." Werner musste unwillkürlich grinsen. "Jetzt binden sie mich aber wieder los, ja?"
"Nein, sie hören sich jetzt erst Mal mein neues Buch an." Georg zog aus seiner Ledertasche ein Manuskript von der Dicke eines Telefonbuchs heraus.
"Hören sie mal", Werner wurde jetzt ärgerlich. "Ich habe gleich einen verdammt wichtigen Termin und den werde ich sicher nicht wegen ihren Albernheiten versäumen. Binden sie mich sofort los."
"Aber mein Verleger..."
"Mann, das meinte der doch nicht wörtlich."
"Ja wie?"
"Na, sie sollen die Leute mit der Geschichte fesseln."
"Ha, klar. Wie soll ich denn in das Skript hier einen Knoten machen. Können sie mir das mal verraten?"
Wo war die verdammte Kamera? Der Kiosk da vorne sah irgendwie nicht echt aus. Er könnte schwören, der war gestern noch nicht so breit.
Ausserdem hasste er es, wenn man ungefragt unbescholtene Leute verarschte.
"Binden sie mich endlich los. Den Scherz mit der versteckten Kamera können sie mit jemand anderem..."
"Versteckte Kamera?"
Toll, keine Kamera. Der Mann war einfach verrückt. Und dann sprach Werner es aus.
"Sie sind ja verrückt."
Das war wohl das falsche Stichwort.
"Verrückt? Sie meinen ich wäre verrückt, ja? Dann schauen sie sich mal diesen Wisch hier an. DAS ist verrückt."
Der Fesslungskünstler zauberte ein zerknittertes Papier aus der Tasche und hielt es Werner vor die Nase.
Es handelte sich um irgend eine Absage eines Verlagshauses, aber so genau konnte er das auf die schnelle nicht erkennen.
"Oh, das tut mir Leid", sagte er, um den Mann nicht noch mehr zu reizen.
Schliesslich hatte der im Moment die Fäden in der Hand, aber mit der richtigen Argumentation konnte Werner vielleicht noch rechtzeitig an der alles entscheidenden Geschäftsleitungssitzung teilnehmen. Sollte er doch heute zum neuen Marketingchef ernannt werden.
"Ich mache ihnen einen Vorschlag. Sie überlassen mir ihr Manuskript und ihre Karte. Wenn ich es gelesen habe, werde ich mich bei ihnen melden und..."
"Ja, klar. Sie werden sich bei mir melden. Einen Scheissdreck werden sie. Das habe ich schon von so vielen Verlegern gehört. Und dann landet mein Werk, für das ich mein halbes Leben gearbeitet habe auf einem Haufen im Keller, achtlos weggeworfen vergammelt es fortan zwischen Schund und Trivialliteratur."
Georg zog bei jedem Wort an der Leine, was sich schmerzhaft auf Werners Gelenke auswirkte.
"Autsch. Ok, ok. Ich bin zwar kein Verleger, aber was schlagen sie vor?" Werner rollte resigniert die Augen. Die Bahnhofsuhr zeigte jetzt acht Uhr fünfundfünfzig, noch fünfunddreissig Minuten bis zum Beginn der Sitzung. Zum Glück hatte er einen Zug früher genommen. Nein, eigentlich Pech. Hätte er den späteren Zug genommen, hätte der Verrückte bereits ein anderes Opfer gefangen. Werner stöhnte leise.
"Ich lese ihnen den Prolog vor und sie sagen mir, ob sie das Buch kaufen würden."
Georgs Augen leuchteten.
"Einverstanden."
Werner war inzwischen soweit, dass er zu allem ja gesagt hätte, wenn ihn der Verrückte nur endlich losbinden würde.
Georg strahlte und schlug die erste Seite auf.
"Der Fischer und seine Frau, von Georg J.Jenatsch.", hob Georg feierlich an und Werner sah seinen Job langsam im Meer versinken.
Drei Seiten weiter, senkte Georg das Manuskript. Werner schaute zur Uhr hoch. Ein paar Leute waren stehen geblieben und hatten zugehört, wie der Fischer seiner todkranken Frau ein Dutzend Forellen heimbrachte. Der Prolog war echt langweilig, Werner ahnte böses.
"Und? Wie finden sie es?"
"Oh, äh, ja, ganz toll. Verstehe nicht, warum das noch kein Verleger verlegen wollte?"
Werner versuchte zu Lächeln.
"Quatsch", sagte ein junger Mann mit Sportsack und einer Bierflasche in der Hand.
Werners Lächeln gefrohr.
"Das is‘ echt langweilig, Mann." Er nahm einen Schluck aus der Flasche, warf eine Münze in Georgs Tasche und schlenderte in Richtung Bahnhofshalle davon.
Werner wurde weiss und fing an zu schwitzen. Neun Uhr zehn. Jetzt wurde es aber knapp.
"Nein, hören sie nicht auf diesen Ignoranten, was versteht der denn schon von guter Literatur. Sie haben die Stimmung des verzweifelten Fischers, das weite Meer, die Einöde auf der unwirklichen Insel sehr gut rüber gebracht. Da riecht man ja förmlich das Wasser und fühlt die Schmerzen der Frau..."
"Ach, sie sagen das ja nur, damit ich sie losmache."
Werner starrte dem verkannten Hemingway geradewegs in die Augen. Darin spiegelte sich Niedergeschlagenheit und eine gewisse Resignation.
"Hei, warum gehen sie nicht zu ihrem Verleger, fesseln ihn an den Stuhl und lesen ihm das Manuskript vor. Dann werden wir ja sehen, wer recht hat."
Werner hob herausfordernd den Kopf und wartete gespannt auf die Reaktion.
"Sie meinen..."
"Na?"
Georgs Augen strahlten.
"Genau, das ist es!"
Er stopfte sein Manuskript in die Tasche und Werner schöpfte Hoffnung. Zehn Minuten bis zum Kongresshaus, das war mit einem sportlichen Spurt zu schaffen.
"Sie haben recht, ich präsentiere dem Sesselfurzer im Verlag seinen gefesselten Leser."
"Was?"
Werner wurde unsanft herumgerissen und fiel mangels Beinfreiheit der Länge nach hin. Georg spannte die Leine über die Schultern und zog Werner in Richtung Ausgang.
Werner konnte sich später während der Gerichtsverhandlung nur noch dunkel an den Vorfall erinnern, da er beim finalen Sturz ein schlimmes Schädeltrauma erlitten hatte.
Georg Jenatsch wurde der körperlichen Gewalt und Freiheitsberaubung angeklagt und in eine geschlossene Abteilung der Psychiatrie eingewiesen. Dort verfasste er drei Romane, von denen einer zum Bestseller mutierte.
Als Ideenliferant für einen witzigen Werbespot, in dem ein Fischer und dessen Frau eine wichtige Rolle spielten, erhielt Werner Kuster doch noch seine Beförderung und arbeitete fortan als Produktmanager für Wäscheleinen.