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Der Flügel
Einen schönen guten Abend wünsche ich Ihnen. Es tut mir sehr leid, Sie damit zu behelligen, es ist mir wahrlich unangenehm. Doch ich dachte, jetzt, da Sie doch nichts anderes zu tun zu haben scheinen, könnte ich vielleicht die Gelegenheit nutzen, und bei Ihnen mein Herz ein wenig erleichtern. Mir ist da nämlich heute etwas Ungeheuerliches widerfahren. Sie brauchen sich jetzt nicht zu wundern, wer sich da so ganz unverwandt mit seinem Seelenkummer an Sie wendet. Und ich weiß auch sehr gut, dass Sie allmählich nach Hause wollen, jetzt, wo Sie die Aula wieder aufgeräumt und ausgefegt haben. Aber bleiben Sie doch noch ein paar Minuten und hören mir zu, ja? Ja, genau mir, dem großen schwarzen Flügel auf der hell erleuchteten Bühne mit dem Parkettfußboden und der Holzvertäfelung. Genau der Flügel, den man so vortrefflich in Szene gesetzt hat mit den vielen Scheinwerfern.
Sie waren wahrscheinlich nicht beim Vortrag dieses Redners zugegen, der am heutigen Abend über annähernd zwei Stunden das Publikum auf das Köstlichste unterhalten hat, nicht wahr? Dachte ich es mir doch. Haben Sie ihn vorher schon mal gesehen? Ein Mann Mitte Sechzig, mit ergrautem Haar und Wohlstandsbauch, sehr salopp gekleidet, mit seiner Lederjacke über dem Strickpullover. Hat eine zuweilen recht merkwürdige Art des Vortrags, wenn er über weite Strecken schnell und beinahe monoton spricht – wie zu sich selbst – und dann einzelne Worte plötzlich laut herausschreit, wie um das vor Langeweile eingeschlafene Publikum zu wecken. Dabei hatte alles, was er sagte, Hand und Fuß, und wenn er nicht so ein unerhörter Ignorant wäre, würde ich ihn vielleicht sogar mögen. Wissen Sie, er geht nämlich auf die nachlässigste Weise mit seinen Sachen um. Er wirft Münzen hoch in die Luft und lässt sie dann achtlos auf dem Parkett liegen. Er nimmt sich eines seiner Bücher, die er mitgebracht hat, zitiert daraus eine kurze Passage und lässt es dann auf den Boden fallen. Aber das Unverschämteste von allem hat er mir angetan, ja mir.
Er hat mich als Ablage benutzt!
Mich, einen edlen, teuren Flügel aus gutem Hause, mich degradiert dieser Verbrecher zu einem einfachen Möbelstück mit einer so herrlich großen Fläche!! Mich benutzt dieser Unmensch gerade so, als wäre ich ein Tisch oder eine Kommode!!! Seine Lesebrille hat sicherlich Schrammen in der zuvor makellosen Politur meines Holzes hinterlassen. Und es hätte mich nicht gewundert, hätte er auch noch ein feuchtes Glas Wasser auf mir platziert. Die Wasserränder hätten mich auf ewig entstellt! Können Sie sich überhaupt vorstellen, was diese Demütigung für mich bedeutet? Können Sie überhaupt ermessen, welche tiefen Wunden dieser scheinbar so banale Akt in meinem Inneren geschlagen hat? Fangen Sie nicht an zu lachen, nur weil Sie in Ihrem beschränkten Geist-
Verzeihen Sie, ich werde ausfallend. Ich hätte mich beherrschen müssen, es tut mir so leid. Nein! Bitte, gehen Sie noch nicht!
Danke, dass Sie dageblieben sind. Spielen Sie ein Instrument? Oder singen Sie? Gitarre, so so. Gehören Sie auch zu den Menschen, die ihren Instrumenten und anderen Dingen, die ihnen ans Herz gewachsen sind, einen Namen geben? Dann werden Sie vielleicht doch verstehen, wenn ich Ihnen sage, dass jedes Instrument, jeder Konzertsaal und jede Kirche eine Seele hat. Wie Sie sicherlich schon festgestellt haben werden, gibt es Gotteshäuser und Vorführungsräume, die über eine ausgezeichnete Akustik verfügen. Bei anderen wiederum fragt man sich, welcher Stümper bei der Errichtung des Bauwerks seine Finger im Spiel hatte. Jeder Ton wird dort hässlich verzerrt, so dass selbst die größte Anstrengung des Künstlers vergeblich sein muss. Auch solche Räume haben „das gewisse Etwas“, auch wenn es vom Bauherrn oder wer auch immer dafür verantwortlich zeichnet auf grausame Weise verstümmelt wurde. Ganz ähnlich ist es bei den Musikinstrumenten: Der Erbauer trägt eine große Verantwortung bei der Herstellung, und all jenen, die beispielsweise Gitarren wie eine Massenware produzieren, sollte man auf immerdar ihre Fabrik schließen. Denn so etwas verdirbt den Charakter und die Seele, wenn Sie mich fragen. Aber ich schweife ab. Weil jedes Instrument eine Seele besitzt, instinktiv weiß, wozu es geschaffen wurde und darüber hinaus schon von Anfang an eine Idee von der Virtuosität hat, sammeln sich schnell in ihm eine Vielzahl von Tönen, die danach drängen gespielt zu werden. Sie müssen sich das so wie starke menschliche Gefühle oder auch kreative Ergüsse vorstellen, die einfach herauswollen, und mit denen sich jeder sensitive und schöpferische Mensch erst dann wohlfühlt, wenn er ihnen durch Wort und Tat Raum gegeben hat. Auch in mir haben sich schon eine große Zahl von Tönen aufgestaut, die mir bislang noch niemand zu entlocken vermochte. Immer, wenn diese Aula so wie heute Abend vorbereitet wird, hoffe ich insgeheim, dass endlich der Mensch eingeladen sein wird, der schließlich doch all diese zarten, zerbrechlichen und gewaltigen, zerbrechenden Klänge zu spielen imstande ist, die jeden Tag schwerer auf meinen Saiten lasten. Und letztlich ist es doch nur eine Zeugnisvergabe, ein Konzert vom allenfalls mittelmäßigen Schulchor oder eben ein Gastvortrag wie heute. Fast habe ich alle Hoffnung fahren lassen, so oft, wie man mich nun schon enttäuscht hat. Das ist wohl das Schicksal der allermeisten meiner Verwandten und Kollegen: So jemanden wie Mozart oder Mark Knopfler gibt es eben nur einmal in hundert Jahren. Und Sie glauben gar nicht, wie viele Klaviere, E-Gitarren, Querflöten und Trompeten in einer solchen Zeitspanne die Manufakturen verlassen ...
Ach herrje, jetzt ist es doch schon so spät geworden. Ich wollte eigentlich wirklich nur ein paar Minuten Ihrer Zeit beansprucht haben, entschuldigen Sie bitte. Auf jeden Fall danke fürs Zuhören. Abgesehen von einer jungen Frau aus dem Publikum heute Abend, die nach dem Ende des Vortrags noch eine Weile in meiner Nähe stand und über das Betragen des Redners ähnlich entrüstet gewesen zu sein schien wie ich, hat offenbar niemand bemerkt, wie entwürdigend die ganze Angelegenheit für mich gewesen war. Hätten sie mich doch nur – wie sonst auch, wenn sie mehr Platz auf der Bühne brauchen – in den Nebenraum verbracht. Aber es ist wohl sinnlos, sich darüber Gedanken zu machen. Einen Moment noch, bitte! Am Rednerpult brennt noch eine kleine Lampe. Warum die überhaupt an war, möchte ich auch gerne wissen. Gute Nacht. Kommen Sie gut nach Hause. Und grüßen Sie Ihre Gitarre von mir.