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Der Fluch des Terriers
Der Zug fuhr polternd über das Land. Saß man innen, so hörte man ein Geräusch das so ähnlich klang wie „Rattdazong, Rattadazong“. Robin saß am Fenster und betrachtete die Landschaft. Er dachte über die Vorzüge nach, auf dem Land zu wohnen und beglückwünschte sich zu der Entscheidung, „aufs Dorf“ zu ziehen. Zwar fuhr der Bus dort nur alle zwei Stunden, und der Bahnhof lag 45 Fahrradminuten von seiner Wohnung entfernt, aber die Nähe zum Fluss und zur Natur war unzweifelhaft ein Plus, für das Robin eine längere Fahrzeit zur Arbeitsstelle durchaus gern in Kauf nahm.
Er mochte die Bauernhäuser, die an den Apfelfeldern gelegen waren und die ihm ein heimeliges Gefühl vermittelten, auch wenn er selbst in einem Mietshaus am Deich wohnte. Er liebte es, den Deich längs des Kanals bis zum Fluss durch Flieder- und Apfelbaumfelder hindurch zu spazieren und die großen Schiffe auf dem Fluss zu begutachten. Manchmal stellte er sich vor, dass sie Ware für seine Firma mit sich führten.
Wie um ihm zuzustimmen, nickte der gegenübersitzende ältere Herr ein wenig und lächelte Robin an. Der Zug näherte sich nun der Station, wo Robin aussteigen musste. Die Bremsen kreischten laut. Robin packte seinen Rucksack, nickte dem Mitreisenden freundlich zu und ging langsam Richtung Ausgang. Der Zug fuhr noch einige Meter und hielt dann mit einem langanhaltenden Kreischen an.
Robin stieg aus dem Zug. Es dunkelte bereits, und die Sonne war nicht mehr zu sehen. Er schlenderte zum Fahrradständer und sah dem Zug nach, der sich schnaufend wieder in Bewegung setzte. Die Silhouette des älteren Mannes war kaum zu erahnen. Robin wusste nicht, ob er ihm zuwinken sollte, ließ es jedoch sein. Er schloss sein Fahrradschloss auf, machte sich startklar und schwang sich flink auf das Rad. Zügig trat er in die Pedale und radelte einen Abhang zu den Feldern hinunter.
~~*~~
Auf den Feldern entlang eines Zaunes grasten Kühe. Robin winkte ihnen zu und machte ein langgezogenes „Muuuh“, erwartete jedoch keine Antwort. Er wusste, dass er kein Doktor Doolittle war. Die Kühe reagierten weiter nicht, sondern grasten ruhig weiter. Es war jetzt allmählich stockfinster und Robin schaltete das Licht an. Tief sog er die Landluft ein. Es machte ihm nichts aus, dass es nach Kuhdung und Gülle roch, er hatte sich daran gewöhnt. Vor zwei Jahren war er hierhergezogen, und wahrscheinlich hatte sich sein Riechorgan mittlerweile auf dörfliche Gerüche umgestellt.
Ein asphaltierter Weg führte im Zickzack durch die Apfelfelder zu einer Siedlung. Auf dem Weg lag manchmal Heu und Kuh- oder Pferdedung, seltener auch mal Äpfel. Allmählich näherte sich Robin der Siedlung. In den letzten Tagen hatte ihn am Ortseingang, der direkt an die Apfelplantagen grenzte, ein kleiner Hund attackiert. Zuerst hatte sich Robin enorm erschrocken, als das kleine Fellbündel aus den Büschen auf ihn zuschoss und mit einem Organ, das er dem Wicht gar nicht zugetraut hätte, angeknurrt und angebellt. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt, jedesmal so „begrüßt“ zu werden. Er wusste nicht, warum der Hund ihn offensichtlich nicht mochte ; vielleicht roch er die Abgase der Stadt an seinen Kleidern. Robin legte an dieser Stelle meist ein höheres Tempo ein. Heute jedoch nicht. Rache war fällig, dachte sich Robin. Diesmal würde der Hund sein blaues Wunder erleben.
Als er an der Stelle angekommen war, wo der Hund meist erschien, drosselte er ein wenig die Geschwindigkeit. Da kam der Hund schon auf ihn zu. Robin hörte das Gebell und das Geklacker der Krallen auf dem Asphalt und sah das weiße Fell des Hundes auf sich zukommen. Er hätte nicht sagen können, welche Rasse es war, jedenfalls kein Golden Retriever und auch kein Collie. Vielleicht hatte er es mit einem Scotch-Terrier zu tun, er wusste es nicht. Der Hund kam näher und war jetzt schon auf Robins Höhe. Er schnappte nach Robins Füßen. Robin holte tief Luft und schrie den Hund aus Leibeskräften an: „Aahaaarrrrr!!!“ Der Hund fiel zurück und jaulte ein wenig.
Das war keine befriedigende Reaktion, denn nun kam er wieder auf Robin zu. Robin passte den Moment ab, da der Hund ihm wieder an die Füße gehen konnte und trat fest zu. Ein lautes Jaulen war die Antwort, und der Hund floh entgegen der Fahrtrichtung. In dem Moment hörte Robin eine ältere Frauenstimme: „Tobi! Hierher! Komm!“. Er ließ den Hund in Ruhe und trat fester in die Pedale. Er musste grinsen und während das Fahrrad an Geschwindigkeit zunahm.
~~*~~
Als Robin zuhause angekommen war, schaltete er als erstes den Fernseher ein. Seine Lieblingscomedy lief noch nicht, aber der letzte Werbeblock davor. Er machte sich belegte Brote und schwang sich in den Fernsehsessel. Nach der Comedy kamen die Nachrichten. Vogelgrippe war das bestimmende Thema der Sendung. Nachdenklich kaute Robin auf seinem Schinkenbrot und versuchte sich zu erinnern, ob und wo er tote Vögel gesehen hatte. Er konnte sich jedoch nicht entsinnen, überhaupt Vögel auf seinem Weg gesehen oder gehört zu haben. Nach den Nachrichten gab es einen Actionfilm mit Nicolas Cage. Robin sah ihn jedoch nicht zu Ende. Etwa nach der Hälfte des Films schaltete er den Fernsehapparat ab und stellte sich unter die Dusche. Er machte sich Vorwürfe wegen des Hundes. Wenn er ihn nun verletzt hatte ? Solcherart waren seine Gedanken, als er schließlich einschlief.
~~*~~
Das Rauschen weckte ihn. Zuerst kapierte er gar nicht, was los war. Der Wecker hatte noch nicht geklingelt. Mit halbgeschlossenen Augen kroch er aus dem Bett und trat auf etwas Nasses. Er riss die Augen auf. Der ganze Boden war knöcheltief mit Wasser bedeckt. Robin suchte die Quelle des Rauschens und trat auf den Flur. Die Tapete blätterte bereits von den Wänden, das Wasser rann von oben herab. Offensichtlich kam das Wasser aus der Wohnung über ihm. Robin verlor die Fassung. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Der ganze Flur war durchnässt, genauso wie der Eingangsbereich der Wohnung. Das Bad war der einzig trockene Fleck. Hierhin trug Robin einige Sachen die bereits nass geworden waren, zum Trocknen. Anschließend zog er sich hastig an, wobei er beim Anziehen der Hose beinahe ins Wasser gefallen wäre.
Es war zwar erst 6:20 Uhr, aber Robin lief durch das Treppenhaus und klingelte bei dem Nachbarn, der die Wohnung über ihm bewohnte, Sturm. Keine Reaktion. Verzweifelt dachte Robin daran, dass das Wasser weiter ungehemmt in seine Wohnung floss. „Haupthahn“ schoss ihm durch den Kopf. Er hastete wieder nach unten, ins Erdgeschoss und klingelte bei dem Hausmeister. Es dauerte ein paar Minuten, ehe sich die Tür öffnete. Die Frau des Hausmeisters, eine Französin, steckte mit verschlafenen Augen und krausen Locken ihren Kopf heraus. „Oui ? Qu’est-ce qu’il y a? Was ist los ?“ Robin versuchte, das Desaster zu schildern, doch die Frau entgegnete „Je ne comprends pas. Isch ‘ole mein Mann.“. Der Hausmeister selbst erschien, noch im Pyjama. Robin begann erneut und versuchte dem Mann klarzumachen, dass der Haupthahn der Wasserversorgung gesperrt werden musste. Der Hausmeister war zwar noch verschlafen, begriff aber schneller als seine Frau. Innerhalb von fünf Minuten hatte er sich angezogen und ging mit Robin zusammen in den Keller zum Haupthahn, von dem Robin nicht wusste, wo er ihn hätte suchen sollen. Der Hausmeister drehte den Hahn zu und bot Robin seine Hilfe an. Robin nahm dankbar an.
Sie gingen in Robins Wohnung und begannen, das Wasser mit Eimern zu schöpfen und zu den Fenstern und Türen hinauszuwerfen. Nicht nur der Hausmeister, sondern auch dessen Frau und sein Kind halfen mit. Das Kind benutzte dafür einen Spielzeugeimer und strahlte fröhlich über jeden Eimer Wasser, den es auf den Gehweg kippen durfte. Um 8:00 Uhr rief Robin die Feuerwehr an, die einige Zeit später mit einer Pumpe anrückte. Schließlich rief Robin noch in seiner Firma an, um zu erklären, dass es heute „wohl etwas später“ werden würde.
Als Robin gegen Mittag den Zug in die Stadt bestieg, lächelte sein Gegenüber nicht mehr.
~~*~~
Wie sich später herausstellte, hatte der „Nachbar von oben“ die Waschmaschine angelassen und war anschließend in den Urlaub gefahren. Dann war der Schlauch der Waschmaschine geplatzt und das Dreckwasser hatte sich in Robins Wohnung ergossen.
Ein Jahr später zog Robin zurück in die Stadt.