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Der Fluchtversuch
„Der Fluchtversuch“
Es war kurz nach 12 Uhr mittags als er die Tür aufschloss. Und sich wunderte, warum es nicht wie sonst nach Essen roch.
Die Kinder waren nach der Schule noch mit Freunden unterwegs, er würde sie heute Nachmittag abholen. So hatten sie es heute Morgen beim Frühstück besprochen. Es war still in der Wohnung.
Wo steckte sie nur?
Zerstreut ging er ins Wohnzimmer und legte die Unterlagen, die unter seinem Arm klemmten, auf den Tisch. Er hatte schon wieder eine Absage erhalten! Dabei hatte sich das erste Gespräch vor ein paar Wochen noch so positiv angehört! Doch jetzt hatte ein anderer die Stelle bekommen. Wie lange würde er das alles noch aushalten können? Er fluchte innerlich.
Eigentlich hasste er es, früh zuhause zu sein und untätig herumsitzen zu müssen; ihr Gejammer ging ihm auch langsam auf die Nerven. Sein Magen knurrte. Etwas ratlos ging er in die Küche und nahm sich erst mal ein Bier aus dem Kühlschrank. Erschöpft lehnte er sich gegen einen der Schränke und trank es in kleinen Schlucken.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass sie anscheinend mitten in der Essenszubereitung gewesen war und dass das Radio leise lief. Vielleicht war sie kurz bei einer Nachbarin, um sich etwas zu borgen. Sie tat das ab und zu, obwohl sie wusste, dass er es hasste, sich irgendetwas ausleihen zu müssen. Aber das Geld war wieder knapp in diesem Monat.
Er sah auf die Uhr und zog die Stirn in Falten. Er legte großen Wert auf Pünktlichkeit, wie sie sehr genau wusste. Wo also war sie jetzt?
Seiner Mutter war so etwas früher nie passiert, sie hatte das Mittagessen immer pünktlich auf den Tisch gebracht, unter allen denkbaren Umständen. Er hatte Hunger und ärgerlich stellte er die noch halb volle Bierflasche mit einem Knall auf der Arbeitsplatte ab.
Mit zornigen Schritten ging er Richtung Bad. Erst im letzten Augenblick, bevor er die Tür öffnen wollte, sah er durch den Rahmen, dass dort Licht brannte. Er rief nach ihr: „Püppchen?“
Keine Antwort. Feuchtwarmer Nebel drang ihm durch den Türrahmen entgegen. Er roch süßlichen Seifenduft. Was hatte sie denn nur vor? Auf Sex in der Badewanne hatte er jetzt keine Lust, und sie war in der letzten Zeit eher abweisend ihm gegenüber gewesen. Umso erstaunlicher fand er jetzt dieses ganze Theater!
Langsam drückte er gegen die Tür, die mit leisem Knarren aufschwang.
Zuerst sah er nur ihre geschlossenen Augen.
Dann blickte er auf rot gefärbten Seifenschaum.
Dann sah er das Blut, das auf den Boden tropfte.
Erst jetzt sah er die ganze Szene: ihr ins Wasser gesunkene Körper, das rote Badewasser, ihr Arm, der über den Wannenrand ragte und aus dessen aufgeritzter Ader das Blut tropfte. Der andere Arm lag im Wasser.
Ihr Blut floss aus ihr heraus, ihre Haut kam ihm fast weiß vor. Es schien, als ob auch alle Lebenskraft aus ihr gewichen war und sich in der Pfütze neben der Wanne mit Blut und Wasser vermengt hatte.
Er stand wie eingefroren da und konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Doch plötzlich lief ein Ruck durch seinen Körper, keuchend atmete er aus und rief ihren Namen: „Kathrin!“
Er kniete neben der Wanne und packte ihre Schultern. Ihre Lider flatterten, sie atmete noch. Er brüllte sie an: „Herrgott noch mal, was soll das denn? Was hast Du getan?“ Hilflos drückte er ein Handtuch auf ihren Arm um die Blutung zu stillen. Doch dann wurde er wieder klar im Kopf, stürmte zurück in die Küche, riss eine Schranktür auf und griff nach dem Verbandskasten. Hektisch holte er Mullbinden und Verbandstücher heraus. Er hatte keine Ahnung wie er damit umgehen sollte, lief aber trotzdem wieder ins Bad. Mit fahrigen, ungeschickten Bewegungen begann er ihren Arm zu verbinden. Er holte sie aus der Wanne, wickelte ein Handtuch um ihren Körper und setzte sie auf den Boden, mit dem Rücken an die Wanne gelehnt. Dann verband er ihren anderen Arm.
Als er damit fertig war begann er alle Spuren ihres Selbstmordversuches zu beseitigen: er lies das Wasser ab, wischte die Wannenränder trocken. Aus dem Abstellraum holte er einen Wischmob und beseitigte die Pfütze, putzte den ganzen Boden. Er reinigte den beschlagenen Spiegel und stellte den Badezusatz, den sie benutzt hatte, zurück in ein Schränkchen. Dann verschwand er im Flur, kehrte jedoch nach einigen Augenblicken zurück.
„Püppchen, ich habe den Arzt gerufen. Was soll ich ihm sagen wenn er hier ist? Hörst du mich?“
Sie hatte ihm bei seiner Reinigungsaktion die ganze Zeit zugeschaut, auf ihre verbundenen Arme geblickt, aber kein Wort gesprochen. Jetzt blickte sie langsam zu ihm hoch, flüsterte etwas, aber er konnte nichts verstehen. Er schloss die Augen, raufte sich sein spärliches Haar und ging neben ihr in die Knie. „Wir - wir können sagen, dass dein Damenrasierer kaputt ist. Ja, genau“, er sprach schneller und öffnete die Augen wieder. „Die Klinge ist plötzlich herausgesprungen und Du hast Dich verletzt. Du hast es nicht sofort gemerkt und wolltest das Ding noch reparieren. Dabei hast du den anderen Arm aufgeritzt. Es war ein Unfall, ein blöder, dämlicher Unfall!“ Er war fast wieder Herr der Lage. „Wenn der Arzt hier ist sagst Du nichts, hörst Du, nur nicken! Ich mach das schon!“ Er schüttelte sie, damit sie wach blieb.
Verzweiflung stieg wieder in ihm auf und er begann wieder zu schreien: „Warum hast Du das getan? Was ist denn bloß los mit dir? Du kannst mich nicht einfach im Stich lassen! Du bist schließlich meine Frau!“
Sie blickte ihn wieder an und flüsterte etwas. Dieses Mal verstand er sie, ihre Worte erschreckten ihn zutiefst: „Lass Püppchen in Ruhe, Püppchen will nicht mehr.“ Sie schloss die Augen, ihr Kopf sank auf ihre Brust.
Er starrte ihren Körper an, konnte kaum atmen. Angst ergriff kalt sein Herz, das zu erstarren schien. Langsam erhob er sich und ging rückwärts aus dem Bad, blieb aber im Türrahmen stehen, als ob ihn eine unsichtbare Macht hindern würde den Raum gänzlich zu verlassen. Er hatte die Augen weit aufgerissen und atmete durch den offenen Mund. „Das könnte dir so passen“, flüsterte er heiser,
„einfach abhauen! Das lasse ich nicht zu, hörst Du, ich verbiete es Dir! Weißt Du noch, es hieß „in guten wie in schlechten Zeiten!“
Er blickte zum Fenster, vor dem eine geblümte Gardine ordentlich zugezogen hing. Der Anblick gab ihm ein wenig Kraft. Es sah so normal aus.
Unbewusst straffte er den Rücken, stand jetzt mit geradem Körper in der Türöffnung und sagte leise in den Raum:
„ Ich sage Dir Bescheid, wenn Du gehen kannst, keine Bange. Und bis dahin habe ich alles unter Kontrolle. Auch dich.“
In diesem Moment klingelte es. Der Arzt war gekommen.