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Der Fremde in meiner Wohnung
Die Adresse hatte er notiert, hatte eines Abends ein Telefonbuch hergenommen und sie gefunden. Doch das nützte nichts. Er fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Er kannte sich nicht aus und landete schließlich an einem ihm unbekannten Bahnhof. Als er eine Frau sah, die in ihm eine Vertrautheit weckte, die er lange nicht gespürt hatte, wollte er blindlings über die Straße. Dabei missachtete er den Verkehr. Das Auto konnte gerade noch bremsen. Der Taxifahrer benutzte so lange Kraftausdrücke, bis Herr Weißbach zurückgewichen war. Der Verkehr kam wieder in Gang.
Das hatte ihn erschreckt. Wo war er? In Gedanken. Er blickte sich nach der Frau um, aber sie war verschwunden. In einer Ecke entdeckte er einen Taxistand, den er ansteuerte. Während des Laufens merkte er, wie ihm immer schwärzer wurde. Er ging zum vordersten Taxi und zeigte dem Fahrer, wo er hin musste. Der sagte, mit dem Navigator sei das kein Problem. Nur ob er genug Geld dabei habe, da es eine lange Distanz sei. Herr Weißbach nickte schwerfällig.
Während der Fahrt versuchte der Fahrer ein Gespräch zu führen. Ob er sich gut fühle. Was er vorhabe. Ob ihm Berlin gefalle. Wie er lebe. Da Herr Weißbach nicht antwortete, ließ er von ihm ab, kommentierte die Nachrichten aus dem Radio und summte einige Lieder mit. Dann hielt das Taxi. Der Fahrer gab Wechselgeld. In seinem Blick lag Mitleid. Er verabschiedete ihn und wünschte ihm viel Glück. Dann verschwand das Taxi wieder.
Er stand vor einem gewöhnlichen Mietshaus. Nichts Besonderes. Da die Fahrt sehr lange gedauert hatte, fanden aufkommende Zweifel einen Nährboden. Waren das die richtige Straße und die richtige Hausnummer? Er holte den Zettel aus der Tasche. Die Adresse schien zu stimmen. Aber die Zweifel nahmen zu. Die anderen Gebäude sehen ähnlich aus. Gibt es das Gleiche vielleicht am anderen Ende der Stadt, vielleicht sogar in jeder Stadt? Ist die Welt gleich? Irgendetwas schien an dem Gedanken nicht verkehrt. Aber er war jetzt hier. Er war nicht so weit gefahren, um wieder woanders hinzufahren, um das Selbe noch einmal vorzufinden.
In seinem Kopf spielte sich etwas ab, das er bereits öfter erlebt hatte. Er spürte, wie es von ihm Besitz ergriff. Es war ein schwarzes Gefängnis, in dem sich weiße Punkte befanden. Und die Punkte schienen mit der Anzahl der Gedanken abzunehmen. Jeder Gedanke konnte die Rinde der Erinnerung abschleifen, und den schwarzen Hohlraum endgültig freisetzen, die Essenz des Nichtvorhandenseins. Er sah eine Frau, die am Fenster stand. Ihre Traurigkeit zeigte ihm keine weißen Punkte. Sie war ihm fremd. Das Fenster, aus dem sie blickte, schien ihm vertraut. Ihm fiel ein, wie er morgens das Fenster aufmachte und sich eine Zigarette anzündete. Der frische kühle Wind, in den er den Rauch blies, und dann machte er es wieder zu. Am Abend machte er es wieder auf. Es fröstelte ihn kurz, bis er es wieder schloss.
Die Tür war offen. Kein Suchen von Schlüsseln und kein Drehen und Wenden, bis das Schloss aufging. Als er die Tür hinter sich schloss, atmete er erleichtert durch. Hier war er jetzt. Im Treppenhaus. Im ersten Stock war seine Wohnung. Das Hemd unter seinem Anzug war bereits mit Schweiß vollgesogen. Er blickte auf seine rechte Hand, in der sich drei Tropfen Schweiß vereinigten, ballte sie mehrmals zur Faust, bis er keine Kraft mehr hatte, und ließ sie fallen.
Mühsam schritt er die Treppe hinauf. Die Stufen knarrten, vielleicht um zu zeigen, dass jeder Schritt richtig war oder dass es kein Zurück mehr gab. Wäre es nicht am einfachsten, die Frau zu bitten, aus seiner Wohnung zu verschwinden? Er könne das Mitleid nicht verstehen. Er wisse doch, was es bedeute, das Leben. Er will allein sein. Das musste gesagt werden. Doch als er entkräftet oben ankam, schien dieses Anliegen weit entfernt. Er öffnete die Tür. Die Frau kam näher und half ihm in einen Sessel. Das musste das Wohnzimmer sein. Die Möbel standen kühl und aufgeräumt an ihrem vorgesehenen Platz. Viele Sonnenblumenbilder hingen an der Wand und rahmten Fotos ein. Auf mehreren war diese Frau. Auf einem vielleicht er. Aber das sagte ihm nur sein Gefühl. Er war sich nicht sicher. Die Frau schloss die Tür und setzte sich neben ihn.
„Helena wollte dich besuchen. Aber du warst nicht da.“
Wer war Helena? War das diese Frau am Bahnhof? Und wer war diese Frau? War er in der falschen Wohnung? Hätte er nicht doch ein anderes Taxi nehmen sollen? Auf die Leute ist kein Verlass mehr.
„Du bist einfach weggelaufen. Mitten in der Nacht. Wie hast du das geschafft? Mit solchen Aktionen bringst du dich in Gefahr. Du brauchst Hilfe.“
Hilfe. Er wühlte in seiner Tasche, holte einen Schein und Münzen hervor und legte sie auf den Tisch. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er Geld dabei hatte.