Der Frosch und die kleine Miss
In einem Gewirr aus nachtschwarzem Haar blicken von Bedeutungslosigkeit verkommene Kinderaugen hervor. Sie strahlen kratertiefe Leere aus, sodass man gar nicht weiß, ob sich das Mädchen bewegt oder nur bewegt wird. Vielleicht vom Wind, der da immerzu gegen den schmalen Rücken drückt und das weiße Nachthemd flattern lässt. Allein in einer kalten, sternlosen Nacht geht sie dort. Schritt um Schritt fallen ihre Füße auf den rissigen Betonboden und heben sich wieder. Ganz ohne sich zu fürchten. Die Furcht ist nach und nach, mit jedem Schritt in die eine oder andere Richtung, von ihr gewichen. Und mit ihr alles andere, was da gewesen ist.
Ein fahler, verhangener Halbmond gewährt einen trüben Blick auf die Umgebung. Die Häuserfassaden bilden mit bröckelnden, grauen Steinen und lichtlosen Fenstern eine finstere, unüberwindbare Mauer, die nur vor oder zurück duldet. Und das vor ist zurück, und das zurück ist vor. Es sind keine Häuser in dem Sinne, im Sinne von Geborgenheit und Schutz, oder auch nur einer Herberge. Denn sie alle besitzen keine Türen, und ihre Fenster hängen meterweit über dem Boden.
Es ist einige Minuten völlig windstill, so als würde jemand einen Moment gedankenvoll die Luft anhalten, und eine schwerwiegende Überlegung treffen. Das Mädchen steht reglos in der Mitte der Straße und wartet auf das Zeichen, das sie treibt. Ein Zeichen, das immer schon die einzige Orientierung war für sie, der einzige Halt, wie sinnlos auch immer.
Wenige Zentimeter von ihr entfernt steht ein vertrockneter, trauriger Busch, dessen Geäst wie tote, sich krümmende, verflochtene Hände aus der schwarzen Erde stechen. Plötzlich bewegt sich etwas darin. Das Mädchen erschrickt mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Noch nie hat sie so etwas erlebt. So weit sie sich erinnern kann,und nur das zählt ja, war sie immer allein. Noch nie hat sich etwas anderes als ihre Füßchen und der sie treibende Wind bewegt. Sie hat Angst, wimmert furchtsam. Sie würde fortlaufen, wenn sie nur wüsste wohin.
Der karge Busch spuckt einen grauen Gegenstand aus, denn grau ist hier alles. Doch plötzlich, in der Sekunde des Aufpralls flammt aus ihm ein Licht empor, strahlend und schön, wie Goldregen für ihre vernachlässigten Augen.
Der Gegenstand ist eine Taschenlampe. Ein graues Ding, dem man ansieht, dass es wohl lang nicht mehr seine Aufgabe erfüllen konnte. Doch jetzt strahlt, wenn auch mattes Licht aus ihr hervor, fast durchsichtig. Etwas gänzlich anderes als dieses ewig halbe Mondlicht.
Das Mädchen hat ein solches Licht nie zuvor gesehen. Sie hat Angst vor diesem Unbekannten, und nähert sich ihm, weil es so unbeschreiblich schön ist. Ihr kleines Herz klopft schneller als je zuvor, die Fäustchen auzfeinandergepresst und mit Tränen in den Augenwinkeln, tritt sie heran. In dem Moment erfasst ein Windstoß ihr Haar, weht es ihr Gesicht umspielend in die Nordrichtung der Straße, die ja auch die des Südens ist. Das Mädchen bemerkt es nicht.
Dünne Finger strecken sich jetzt zitternd dem Lichtkegel entgegen. Sie kennt kein Gold, kein Schimmern, keine Schönheit; doch bilden sich diese Gedanken, die Vorstellung von etwas Gutem, etwas Schönem, jetzt, in diesen Sekunden, ganz wortlos, ohne Namen zu geben.
Die weiße Hand liegt nun im Licht. Und das erste Mal in ihrem dahinlaufendem, traurigen Leben sieht sie die eigene Blässe der Haut, die Knochen, die herausstechen, weil sie so ausgezehrt und mager ist.
„Was ist das?“, flüstert sie; und wieder packt ein Windstoß ihr Haar, bläßt es eifrig nach Norden.
„Ich hoffe nur die olle Batterie hält noch ein Weilchen. Es ist ja stockdunkel. Und ich mit meinen schlechten Augen.“
Erschrocken von der plötzlichen Stimme erschrikt das Mädchen so sehr, dass es mit dem Po auf die Straße fällt.
„Nanu! Ich bitte vielmals um Entschuldigung, wenn ich sie verschreckt haben sollte, kleine Miss.“
Eine grüne Gestalt springt mit einem gewaltigen Hüpfer in den Lichtkegel. Es ist ein Frosch, doch das weiß das Mädchen nicht. Er hebt den Zylinder zum Gruß und fährt fröhlich mit seinem Redeschwall fort:
„Ach und je, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Frederick Frosch, mein Name. Ich bin es wohl einfach gar nicht mehr gewöhnt mit anderen Menschen umzugehen. Und mit jungen hübschen Damen natürlich erst recht nicht. Das kommt, wenn man Tag um Tag und Nacht für Nacht unter der Erde verbringt, ganz erstarrt von der Kälte und auf den Frühling wartet. Und dieses Mal habe ich tatsächlich furchtbar lange gewartet, es muss eine Ewigkeit her sein seit ich zum letzten Mal diese müden Schenkel benutzt habe. Aber das glaubt man ja jedesmal.“
Er stemmte sich auf die rechte Seite und streckte sein langes grünes Beinchen. Die kleine Miss schaute nur voller Verwunderung auf die unbekannte Gestalt.
„Naja, irgendwann bin ich dann wohl doch noch erwacht. Obwohl ich wirklich nicht das Gefühl habe, dass es wärmer geworden ist. Es schien mir einfach an der Zeit herauszukommen. Und gegen die Dunkelheit habe ich ja meine Taschenlampe.
Mhh, was meinst du, kleine Miss? Bin ich zu früh?“
„Zu früh?“, fragte sie verständnisslos.
„Na, was ist mit dem Frühling. Ist es denn schon soweit, dass Blumen blühen, die Sonne strahlt und Vöglein singen? In dieser fürchterlichen Dunkelheit kann man ja nichts erkennen. Wäre meine Taschenlampe nur nicht so altersschwach.“
Er stupste erfolglos an irgendwelchen Schaltern herum, die die Lampe jedoch nur dazu brachten ein bisschen zu flackern.
Im Kopf des Mädchens schallten Worte hin und her, überschlugen sich, und gaben ein Echo zurück, das sie nicht verstand. Worte von denen sie noch nie etwas gehört, oder vielleicht einfach nur völlig vergessen hatte. Vögel, Sonnenstrahlen, Blumen...Das alles kannte sie nicht, und trotzdem erfüllte es sie mit Glück. Glück -auch das fühlte sich ganz fremd, ganz seltsam an.
„Du weißt nicht zufällig wie spät es ist?“, fragte der Frosch höflich, und wies erklärend auf seine goldfarbene Taschenuhr.
„Ich fürchte meine ist während des langen Schlafes kaputt gegangen. Sieh nur, sie steht auf Mitternacht und regt sich nicht.“
Für einen Moment schwieg er und sah sie forschend an.
„Oder hat das vielleicht einen anderen Grund?“, fragte er leise, nachdenklich, als erwache da langsam eine böse Vorahnung in ihm.
Die Augen des Mädchens schauten noch erschrockener, soweit das überhaupt möglich war. Ein ungewisses Schuldgefühl stieg in ihr auf, als wäre sie der Grund für die ewige Dunkelheit, als wäre der halbe Mond nur deshalb so blass, weil sie es war. Tränen strömten jetzt aus ihren Augen. Sie weinte, weil es so finster war, und sie weinte, weil sie glaubte dafür verantwortlich zu sein.
„Es ist ja gut, es ist ja gut.“, sagte Frederick und lächelte glücklich darüber, dass die kleine Miss weinte.
„Sieh nur.“, sagte er und sprang auf das Mädchen zu. „Ich glaube, der Mond leuchtet ein bisschen heller als sonst, meinst du nicht? Und er ist auch ein ganz kleines bisschen dicker geworden."
Die kleine Miss blickte zum Himmel hinauf. Ihr Mund öffnete sich vor Erstaunen und dann streckte sie eine ihre kleinen Händchen fasziniert, voller Sehnsucht und von Leblosigkeit geheilt zu dem hinauf, was da oben am Himmel leuchtete. Ein dicklicher gelber Mond hing am schwarzen Firmament, umgeben von einigen funkelnden Sternen. Sie fuhr mit der Hand über die Augen, spürte die Nässe ihrer Tränen und verstand.
„Ich habe geweint.“, stelle sie glücklich fest und blickte dann auf den Frosch hinab.
„Richtig, richtig. Geweint hast du, kleine Miss. Aber an Höflichkeit mangelt es dir trotzdem ein bisschen nicht war? Wie heißt du denn überhaupt?“
„Ich? Oh, ich habe gar keinen Namen. Das tut mir sehr leid, Herr Frederick.“
„Frederick Frosch heiße ich. Wenn überhaupt, dann heißt es Herr Frosch. Aber nenn mich ruhig Frederick. Sonst werden wir noch einsam, hier allein in der Sternennacht.“
Na, wir werden schon einen Namen für dich finden, kleine Miss. Was hälst du davon, wenn du mich jetzt in deine hübsche Hand nimmst und mich ein Weilchen trägst. Ich bin noch ganz eingerostet vom vielen Schlafen. Und vergiss meine Taschenlampe nicht.“
Die kleine Miss lachte fröhlich, hob Frederik behutsam vom Boden auf und nahm die Lampe in die andere Hand.
„Und wohin gehen wir jetzt?“
„Immer der Nase nach.“
„Ja, wie geht das denn?“
„Leg deine Fingerspitze auf die Nase, mach die Augen zu und dreh dich so lange im Kreis bis dir so schwindlig ist, dass du fast umkippst. Dann hälst du an und hast den Weg den du gehen musst vor der Nase.“
Das Mädchen nickte ernsthaft. „Aber pass bloß auf, dass du mich nicht verlierst!“, rief Frederick noch, bevor sich das Mädchen –die Hand fest um den Frosch geschlossen- mit einem mutigen Schwung zu drehen begann. Alles in ihrem Kopf schwankte und rutschte hin und her. Staub und Dreck, der sich durch ständiges Laufen und zielloses Wandern festgesetzt hatte, flog in hohem Bogen davon, und sie hörte erst auf sich herum zu drehen, als sie ganz und gar das Gefühl hatte, umzufallen. Zwei, drei Schritte taumelte sie noch, dann standen ihre nackten Füße sicher und fest auf dem Boden..
„In Ordnung. Hier entlang.“, sagte sie entschlossen.
Kaum waren sie losgegangen, da fuhr Frederik auch schon wieder fort zu quasseln.
„Das mit dem Namen müssen wir wirklich noch ändern. Das geht ja nicht, dass einer durch die Welt läuft und man gar nicht weiß, wie man ihn nennen soll. Ich kann dich ja nicht immer nur kleine Miss rufen. Vielleicht treffen wir ja irgendwann einmal auf ein anderes kleines Mädchen, die auch nicht weiß, wie sie heißt. Das gäbe ja ein ständiges Durcheinander, wenn ich euch immerzu mit dem gleichen Namen ansprechen müsste.
Also, wie wäre es zum Beispiel mit Mondenträne. Das hat Klang, das hat Stil, und Bedeutung natürlich. Bedeutung darf niemals fehlen in einem Namen.“
Mondenträne trug den Frosch auf ihrer vorgestreckten Hand, hörte ihm lächelnd zu und lief mit kleinen Schritten immer weiter. Das Mondlicht schimmerte auf ihrem nachtschwarzen Haar und der Wind hob es, von Zeit zu Zeit ein bisschen ärgerlich aufheulend, über ihren Nacken. Langsam entschwand ihr Schatten in der Nacht.