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Der Fuchs
Mein Leben gleicht einer großen Sanduhr. Während sehr viel Sand bereits auf dem Boden des unteren Teils liegt, sind im oberen nur noch ein paar kleine, unbedeutsame Körnchen, die unaufhaltsam durch die kleine, gläserne Öffnung in der Mitte rieseln. Mein Leben ist vorbei, und ich sehe keinen Grund, weiterhin darauf zu warten, bis auch das letzte Sandkorn hinuntergefallen ist.
Durch das Fenster sah Berta Jürgens, wie die Polizeiautos und der Leichenwagen davonfuhren. Die Lichter der Scheinwerfer waren noch eine Weile lang zu sehen, bis sie im Dunkel des Waldes verschwanden.
Berta atmete auf und wand sich vom Fenster ab. Sie betrachtete ihren Nachttisch, auf dem sie alles abgestellt hatte, was wie für den heutigen Abend brauchte. Für ihren letzten Abend. Ein Glas Wasser und eine Hand voll starker Schlaftabletten.
Sie kroch in ihr Bett, zog sich die Decke bis zum Kinn und starrte an die Decke. Was sie getan hatte, war richtig gewesen. Sie hatte an den richtigen Fäden gezogen, die richtigen Entscheidungen getroffen und mit klarem Kopf gehandelt. Es stimmte nicht, was der Psychologe, wie auch immer er heißen mochte, gesagt hatte. Es war nicht richtig, dass er sie als unzurechnungsfähig beschrieb. Berta war so klar wie noch nie.
Sie drehte sich auf die Seite und betrachtete das Fenster, das – wie alles an ihrem Haus – alt und brüchig aussah. Ja, in diesem Haus war sie vor zweiundsechzig Jahren geboren worden. Sie war hier aufgewachsen, hatte immer hier gewohnt, ihr ganzes Leben hier verbracht. Und heute Abend würde sie hier sterben. Friedlich, in ihrem eigenen Bett. Wie Bettina.
Als sie an ihre jüngste Tochter dachte, begann sie augenblicklich zu weinen. Sie weinte, ohne einen Laut von sich zu geben, trauerte still um Bettina.
Warum?, hatte Sandra gefragt, als sie mit den Polizeibeamten im Wohnzimmer saßen. Warum? Immer wieder hatte sie nur dieses eine Wort von sich gegeben. Warum? Warum? Warum? Und Berta hatte die ganze Zeit im Sessel ihres Vaters gesessen und die Antwort gewusst, sie die ganze Zeit im Innern aufgesagt. Damit du endlich begreifst, dass dein feiner Freund, dein Verlobter in Wirklichkeit ein mieser Verbrecher ist. Damit du siehst, dass du, meine Tochter, die erfolgreiche Anwältin, einen Freispruch für einen Mörder erreicht hast, der es nicht verdient hat, frei zu sein. Er ist der Fuchs, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, Hasen zu jagen und zu töten. Er ist wie eine Zeitbombe, die jeden Augenblick explodieren kann. Niemand weiß wann, niemand weiß wo. Aber ich habe den richtigen Draht durchtrennt, habe zur richtigen Zeit gehandelt. Die Zeitbombe ist entschärft.Berta hatte ihr Ziel erreicht. Ihr ganzes Leben lang hatte sich niemand ihren Gefühlen gewidmet. Sie hatte einen Mann gehabt, den sie nicht geliebt und nur geheiratet hatte, um das Haus halten zu können. Sie hatte Qualen über sich ergehen lassen, hatte den ganzen Tag für Richard gekocht, seine Wäsche gewaschen und die Kinder versorgt. Ja, die Kinder waren lange das einzige, was sie am Leben gehalten hatte. Sandra und Bettina, ihre Mädchen, die nie etwas Böses oder Unüberlegtes taten. Sie schrieben in der Schule gute Noten, studierten und waren glücklich.
Und dann wendete sich das Blatt, schon bevor Gregor Berg in Sandras Leben trat. Die Morde, von denen man regelmäßig in der Zeitung las, belasteten Berta. Ein Killer in ihrer Umgebung. Und die unfähigen Polizisten tappten lange Zeit im Dunkeln, während immer mehr jungen, hübschen Frauen in die Brust gestochen wurde. Einzelheiten wurden nicht bekannt gegeben, aber irgendwann war von einem Verdächtigen zu lesen, der festgenommen wurde und gegen den ermittelt wurde. Für Berta war alles offensichtlich! Ein Mann wird verhaftet und ab diesem Zeitpunkt wird keine einzige Frau mehr erstochen. Eindeutig. Mörder. Aber nein, die Polizei gibt diesem Schwein die Chance sich vor Gericht zu verteidigen. Anstatt ihn umzubringen oder für sein Leben lang in ein dunkles Verlies zu stecken, hat er die Chance, freizukommen. Und eine naive Staatsanwältin, die für ihn etwas übrig hat, ist ganz versessen darauf, ihm dabei zu helfen. Sandra Jürgens, Bertas älteste Tochter hatte es geschafft, Gregor Berg, der elf Frauen getötet hatte, freizubekommen. Keine überzeugenden Beweise hieß es in der Tageszeitung, und damit war das Thema ein für alle mal aus den Medien verschwunden. In dieser Zeit wollte Berta nichts lieber als sterben. Sie wollte vergessen, dass Sandra ihre Tochter war und verbrachte die meiste Zeit des Tages im Bett. Und als die sich eingeredet hatte, sie könne sich wieder mit ihrer Tochter treffen, ohne sich übergeben zu müssen, hatte diese ihr den härtesten Schlag ihres Lebens versetzt. Als Berta sie zum Essen eingeladen hatte, war sie gekommen – mit ihrem Verlobten Gregor Berg.
Berta wurde zwar für verrückt gehalten, doch im Namen und Gesichter merken machte ihr niemand etwas vor. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Zeitungsausschnitte, die sie gesammelt hatte. Sie erinnerte sich an Fotos von einem großen, schwarzhaarigen Mann, den man den Fuchs nannte. Man hatte über die Fußabdrücke geschrieben, die er hinterließ, hatte ganze Seiten damit ausgefüllt, wie elegant er sich zum Tatort hin und wieder weg bewegte und dabei eine Spur hinterließ. Immer ein Fuß vor den anderen, in einer exakten Linie. Genauso wie ein Fuchs. Ihre Tochter hatte tatsächlich vor, einen Mann zu heiraten, von dem die Gesellschaft zwar nicht mehr glaubte, dass er es war, der die Morde begangen hatte, der aber nicht beweisen konnte, dass er nicht der Fuchs war!
Berta hatte fast den ganzen Abend geschwiegen und gehofft, Sandra und der Mörder würden ihr Haus so schnell wie möglich wieder verlassen. Aber so war es natürlich nicht gewesen. Im Dezember, kurz vor Weihnachten war es alles andere als einfach, im Dunklen über eine schneebedeckte Straße, die auch noch durch ein großes Stück Wald führt, nach Hause zu fahren. Berta hatte an diesem Abend das erste Mal einen Nachteil an der Lage ihres Hauses festgestellt. Bei Schnee war sie so gut wie abgeschnitten von der Außenwelt. Sie lebte in einem Haus, das man irgendwann einfach irgendwo im Wald gebaut hatte, ohne Nachbarn und mit einer halben Stunde Fahrt mit dem Auto bis zur nächsten Stadt.
Sie hatten bei ihr übernachtet, in Sandras altem Kinderzimmer, das noch immer so aussah wie an dem Tag, an dem ihre Tochter ausgezogen war. Und die ganze Nacht hatte Berta kein Auge zugetan. Sie hatte auf die Tür gestarrt und vor Angst gebetet. Gebetet, dass die Tür nicht aufging und er in ihr Zimmer kam.
Er kam nicht. Und seit er und Sandra am nächsten Tag in die Stadt zurückgefahren waren, hatte sie die beiden nicht mehr gesehen. Es waren zwei Wochen vergangen, das neue Jahr hatte begonnen und Berta hatte einen Entschluss gefasst.
Berta drehte sich im Bett, starrte auf die Tabletten und das Glas Wasser. Sie schloss die Augen, während sie an das dachte, was letzte Nacht geschehen war.
Sie hatte Sandra und Gregor Berg erneut zu sich eingeladen. Und auch Bettina. Bettina war Teil ihres Plans, anders ging es nicht, das wusste sie.
Als sie den Fuchs zum ersten Mal in ihrem Haus gesehen hatte, verspürte sie den Drang, ihn umzubringen. Hätte sie damals nicht so viel Angst vor ihm gehabt, hätte sie es vielleicht getan. Aber sie war ja nicht verrückt! Der Fuchs wäre tot gewesen, aber man hätte sie ins Gefängnis gesteckt. Sie hätte vielleicht für die Gerechtigkeit gekämpft, aber man hätte sie dafür bestraft. Und so hatte sie sich etwas Besseres einfallen lassen. Ihr war klar dass sie ein großes Opfer bringen musste. Aber dem Fuchs würde ein für alle mal das Fell über die Ohren gezogen werden. Endgültig!
Sie waren pünktlich gewesen. Berta hatte gekocht und sich gezwungen, den ganzen Abend überaus freundlich zu sein. Die Zeit war im Schneckentempo dahin gekrochen und in Berta kroch die Müdigkeit hoch, als es anfing zu schneien. Das Wetter hätte ihr größter Feind an diesem Abend sein können. Aber ihr Wunsch nach Schnee, nach viel Schnee, war in Erfüllung gegangen und draußen wurde in Windeseile alles weiß, schneeweiß.
Wir kommen nicht nach Hause, Mutter, hatte Sandra gesagt und Berta hatte ihr angeboten, bei ihr zu übernachten. Sie musste ihr Lächeln unterdrücken. Sie wusste, dass jetzt nichts mehr schief gehen würde.
Nachdem sie zusammen mit Bettina den Abwasch erledigt hatte, wünschten sie sich eine gute Nacht. Berta nahm ihre Tochter in den Arm, drückte sie fest an sich. Egal was passiert, du musst wissen, dass ich dich liebe, hatte sie Bettina ins Ohr geflüstert und ihr einen Kuss auf die Wange gegeben. Dann war sie in ihr Schlafzimmer gegangen, um sich den Zeitungsausschnitten zu widmen. Alles musste genau geplant sein, exakt vorbereitet und zielsicher durchgeführt werden. Auf ein Blatt Papier notierte Berta alles, was ihr wichtig erschien. Als sie die Ausschnitte wieder in die Schachtel packte und diese im Schrank verstaute, war es bereits nach Mitternacht. Die anderen schienen zu schlafen.
Berta legte alles was die brauchte säuberlich nebeneinander auf ihr Bett. Das Blatt Papier, auf das sie sich ihre Instruktionen notiert hatte, die alten Gummistiefel, die gut zu erkennende Abdrücke hinterlassen würden, einen Eimer mit warmem Wasser, einen warmen Mantel und das lange, scharfe Küchenmesser. Ihre Mission konnte beginnen. Sie war bereit.
Sie hatte aufgehört, klar zu denken, als sie das Messer betrachtet hatte. Auf einmal empfand sie nichts mehr. Keine Liebe für ihre Töchter, keine Abneigung gegen Gregor Berg, gegen den Fuchs. Sie nahm nicht einmal die Kälte wahr, als die sie Tür öffnete, sich die Gummistiefel anzog und vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, auf die große Tanne zuging, den Eimer mit lauwarmem Wasser in den Händen. In ihrer Fantasie spielte sich ab, was die Polizei annehmen würde. Der Fuchs wählt die übliche Gangart, eine grade Linie, um auf die Tanne zuzugehen. Es ist seine krankhafte Angewohnheit, seine Spur zu hinterlassen. Also geht er auf die Tanne zu und uriniert an den Stamm. Berta kippte langsam den Eimer aus. Es musste glaubwürdig aussehen! Als er damit fertig ist, dreht sich der Fuchs und läuft zum Haus zurück. Berta hatte Schwierigkeiten, nicht umzuknicken, während sie sich konzentrierte, die Schrittfolge einzuhalten. Der Fuchs geht in Haus, schließt die Tür und geht die Treppe hinauf. Bemüht, dass die Treppenstufen nicht knarrten, schlich Berta in den ersten Stock. Der Fuchs begibt sich in das Zimmer, in dem seine Verlobte schläft und zieht die Stiefel aus. Mit klopfendem Herzen stellte Berta die Gummistiefel in das dunkle Zimmer, hoffte dass Sandra und Gregor Berg nicht aufwachen würden. Schnell schloss sie die Tür wieder und atmete tief durch. Jetzt sollte der schwierigste Teil folgen. Der Fuchs öffnet eine weitere Tür und betritt das Zimmer der jüngeren Schwester seiner Verlobten. Er hat das Messer in der Hand. Bevor Berta die Tür öffnete, musste sie noch das Messer aus ihrem Schlafzimmer holen. Dabei las sie noch einmal ihren Spickzettel, merkte sich den Ablauf und betrat dann Bettinas Schlafzimmer. Der Fuchs schleicht zum Bett der jungen Frau, schaltet die Lampe auf dem Nachttisch an. Bevor die Frau von dem grellen Licht aufwacht, sticht er ihr drei Mal in die Brust. Alle drei Stiche durchbohren das Herz, die Frau ist nach wenigen Sekunden tot.
Berta weinte. Während sie über das nachgedacht hatte, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte, war ihr klar geworden, dass es stimmte, was die Menschen über sie sagten. Ich bin verrückt, dachte sie. Ich bin tatsächlich verrückt. Ich habe meine Tochter geopfert, um einen Mörder ins Gefängnis zu bringen. Und das Schlimmste war, dass sie es nicht bereute, dass es ihr nicht Leid tat. Sie hatte seelenruhig die Polizei benachrichtigt. Bitte kommen Sie schnell. Es ist ein Notfall. Meine Tochter wurde umgebracht. Es ist die Stunde des Fuchses. Eine Stunde später hatte sie die Sirenen gehört, wenig später konnte man das Blaulicht sehen. Sie hatte es den Polizisten überlassen, die anderen zu wecken.
Sie selbst saß die ganze Zeit nur da, in ihrem Sessel, sagte nichts.
Ihr eigenes Schluchzen riss Berta aus ihren Gedanken. Ihre Aufgabe hatte sie erfüllt, und jetzt musste sie nur noch ihre letzte bewältigen. Sie nahm zwei Schlaftabletten in den Mund und trank einen Schluck Wasser. Der Fuchs wird keine Hasen mehr töten. Seine Zeit ist um. Sie schluckte zwei weitere Tabletten. Sandra ist eingeschlafen, nachdem sie eine Stunde lang geweint hat. Sie ist außer Gefahr. Mit dem letzten Rest Wasser schluckte sie die restlichen Tabletten und schloss die Augen, wartete auf eine Wirkung.
Meine Uhr läuft jetzt ab, dachte sie, bevor es ihr schwarz vor Augen wurde und sie einschlief.