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Der ganz alltägliche Wahnsinn

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13.08.2005
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Der ganz alltägliche Wahnsinn

„Sie wollen also nichts unternehmen?“
Erina hatte Mühe, den Telefonhörer zu halten. Ihre Hand zitterte vor Wut.
„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Ich werde den Anruf zu Protokoll nehmen.“ Die Stimme des Polizisten war betont ruhig. „Ich werde meinen Vorgesetzten darüber informieren. Und gegebenenfalls werden wir weitere Schritte einleiten.“
„Die Regierung hat Mittel, das alles unter den Tisch zu kehren“, sagte sie. „Niemand wird etwas unternehmen. Und wenn nichts geschieht, werden sie schon in den nächsten Monaten anfangen, hier Atomraketen zu stationieren. Direkt vor unserer Tür. Mitten im Dorf!“
Peter hatte damals genau so reagiert wie der Polizist jetzt. Peter war bei den Grünen im Landtag. Aber die Politik hatte ihn gefressen. Mittlerweile konnte er sich sogar vorstellen, mit dem Erzfeind, der CDU, zusammen zu arbeiten. Wie absurd. Er würde eine kleine Anfrage an den Landtag richten, hatte er gesagt. Gesagt auf eine Art, der sie keinen Moment geglaubt hatte.
Auf die gleiche Art hatte ihre Mutter früher mit ihr geredet. „Papa kommt auch gleich noch und gibt dir einen Gute-Nacht-Kuss.“ Wieder spürte sie die lähmende Hilflosigkeit aus Kindertagen.
Sie legte den Telefonhörer auf die Gabel, ohne noch ein Wort zu sagen. Müde strich ihr Blick über das Spitzendeckchen auf der Kommode, die Obstschale mit den Früchten aus lackiertem Holz.
Alles war eine große Lüge. Sie ließ die Finger über die glatte Fläche der Kommode gleiten, betrachtete sich einen Moment im Spiegel. Ihre Augen hatten tiefe Ringe. Ihr Gesicht war aufgequollen, genau so gedunsen wie der Rest ihres einst so schönen Körpers.
„Na, siehst du“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Esszimmer. Sie klang mitleidig, aber nicht echt. So, wie man zu einem kleinen Kind spricht.
Erina roch den leichten Uringeruch, der aus dem Wohnzimmer strömte. Ihr Vater war seit einiger Zeit inkontinent, weigerte sich aber, Windeln zu tragen. Dafür war er zu stolz. Lieber versaute er sämtliche Bezüge mit seinem Harn.
Erina ging ins Zimmer hinein. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, ein Rätselheft auf ihren Knien.
„Fühlst du dich jetzt nicht besser?“, fragte die Mutter.
„Die Polizei wird nichts unternehmen.“
„Ach, Erina.“
„Peter wird auch nichts tun. Ich kann zur Zeitung gehen. Aber auch die werden schriftliche Beweise sehen wollen. Dabei war doch alles nur Zufall. Die sind zu vorsichtig, um so etwas schriftlich herumliegen zu lassen.“
„Glaubst du wirklich an diese Abschussrampe für Geheimraketen?“
„Hörst du denn keine Nachrichten? Die Amerikaner nennen das ‚New National Space Policy’. Aktionsfreiheit im Weltraum, so nennt Bush das. Und wir, die Alliierten, müssen das ausbaden.“
„Und ausgerechnet unsere kleine Erina hat all das herausgefunden... So wie damals, als du herausgefunden hast, Vater hätte dich jahrelang sexuell missbraucht.“
„Das war nicht ich, die das herausgefunden hat. Das war meine Therapeutin. Wir sind in die Tiefenentspannung gegangen, und da ist es wieder hochgekommen. Plötzlich waren da diese ganzen Bilder. Von Vater, wie er nachts in mein Zimmer kam. Wie er anfing mich zu streicheln, mit seinem süßlichen Blick. Wie er meine Hand auf seinen Schwanz legte...“
„Hör auf. Du weißt genau, dass Vater dazu nie im Stande wäre.“
„Du hast immer so getan, als wüsstest du von nichts.“
„Es gab nichts zu wissen.“
„Du bist es doch, die immer wieder weggesehen und weggehört hat. Du. Und du tust es bis heute! Lieber erklärst du mich für verrückt, als dass du deiner eigenen Tochter glaubst.“
Erina wandte sich ab. Sie hielt diesen verwundeten Blick ihrer Mutter nicht länger aus.
„Tu das deinem Vater nicht an!“
Erina drehte sich abrupt wieder um: „Aber: er hat es mir angetan, begreifst du das nicht?“
Ihre Mutter fing an zu weinen. Das fand Erina noch unerträglicher als alles andere. Dieses Selbstmitleid. Als sei sie, die Mutter, die Leidtragende.
„Mir hat er es angetan und damit mein ganzes Leben aus der Bahn geworfen. Mir hat er alle Chancen genommen, ein starker Mensch zu werden. Alles hat er kaputt gemacht. Und du...“ Erina schubste den Tisch zur Seite. Sie spürte den Impuls, ihn mit einer großen Bewegung leer zu fegen. Ihn umzuwerfen. Alles klein zu schlagen. Wie hasste sie in diesem Augenblick ihre Mutter.
„Vielleicht wäre es besser, du gingst wieder zurück in die Psychiatrie.“
Erina zitterte. Um nicht los zu schreien, ging sie in die Küche.
Als sie das Bratenmesser in der Spüle erblickte, schaltete sich ihr Kopf aus. Sie griff das Messer und ging zurück ins Wohnzimmer. Immer wieder stieß sie auf ihre Mutter ein, die erst kreischte, dann aber nur noch wimmerte.
Hinter sich hörte Erina die Esszimmertür. Sie drehte sich um, stach auf die Hand ein, die sie am Ärmel festzuhalten versuchte. Da stand er, ihr Vater, noch immer in herrischer Pose, als nähme sie ihm diese noch ab. Er hatte gewollt, dass sie seinen Penis anfasste? Dieser Penis, der nun nicht einmal mehr Wasser halten konnte? Sie stach auf seine Genitalien ein, einmal, zweimal, konnte gar nicht mehr aufhören, auf den Mann einzustechen, der nun langsam in sich zusammensackte.
Müde trat sie einen Schritt zurück und betrachtete die beiden, die da in ihrem eigenen Blut lagen und mit weit aufgerissenen Augen stoßweise atmeten.
Eigenartiger Weise tat es ihr gut, die beiden so am Boden liegen zu sehen. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich frei. So als habe sie die Fäden in der Hand. Als könne sie etwas im Leben ausrichten. Sie würde ihre Schwester besuchen. Und Peter.
Vielleicht würde die Polizei sie jetzt ernst nehmen. Sie beschloss, eine Nachricht für die Polizei zu hinterlassen, falls diese vor ihr hier wäre: Weltraum-Abschussrampe. Sie begann, mit dem Blut ihrer Eltern die Wand zu beschreiben, damit jeder es gleich sehen könne. WELTRA. Es war mühsamer, als sie gedacht hatte. Sie brach ab. Das Wort war zu lang. Die Polizei würde auch so verstehen.

 

Hi Ennka,

lange nicht bei der Spätlese gesehen. ;)
Ich bin etwas zweigespalten angesichts der Geschichte, denn zum einen gefällt mir gerade der unstruktutierte Aufbau, zum anderen hat er aber den Nachteil, dass er wirkt, als sollten einige Themen unbedingt noch einmal eingewoben werden.
Ein weiterer Nachteil ist, dass durch diesen Aufbau nicht nur deren Eltern, sondern auch die Geschichte Erina für verrückt erklären. Letztlich glaubt man der armen Frau gar nichts. Eine psychisch Kranke mit Hang zu Verschwörungstheorien, die sich von ihrer Therapeutin Missbraun einreden lassen hat? Oder ist doch etwas dran am Missbrauch und deshalb auch an den geheimen Abschussrampen? Aber wenn, ist die Polizei dann der richtige Ansprechpartner, wenn das Misstrauen gegenüber staatlichen Institutionen so tief sitzt?
Das Erstaunlich ist, das Paradoxum trifft. Denn hätte der Missbrauch nicht stattgefunden, wäre es vielleicht auch nicht zur psychischen Erkrankung gekommen, hätten die Eltern das Mädchen damals ernst genommen, glaubte sie vielleicht keine Verschwörungstheorien.
Die Sturkturlosigkeit der Geschichte passt zur Verwirrung der Protagonistin, spiegelt sie auf einer Metaebene sogar.
Die Mordszene scheint mir etwas zu beiläufig aufgebaut. Theoretisch zwar plausibel erlebe ich die Emotion, die zum Mord führt, leider trotzdem noch nicht als zwingend. Ich bin noch nicht ganz sicher, woran das liegt, mglw. an der Mutter als Gegenpart, evt. auch an der narrativen Erzählweise in dieser Passage.

Ihn um zu werfen.
in diesem Falle zusammen. umzuwerfen

Lieben Gruß
sim

 

Tag, Ennka.
Fangen wir mit dem Positiven an: Sprachlich bewegt sich die Geschichte meines Erachtens nach im grünen Bereich. Rechtschreibfehler sind mir auch keine aufgefallen.
Leider fand ich die Story selbst langweilig. Da läuft alles auf einer Schiene ab, ohne die geringste Abweichung zu dulden. Bereits der Titel macht klar, was folgen würde - da hättest du genauso gut "Erina bringt ihre Eltern um" als Titel wählen können.
Spannung keimte somit an keiner Stelle auf. Von Anfang an ist klar, dass die Protagonistin verrückt ist, und in Verbindung mit dem Titel ... nun ja. Ich denke du verstehst meinen Hauptkritikpunkt. Vielleicht kannst du ja was damit anfangen.

 

strukturlos?

ach, sim, danke erst einmal für Deine Kritik. Aber Du solltest mich besser kennen. Strukturlosigkeit war nie mein Ding. gox hält mir ja immer vor, meine Stories seien überkonstruiert. So auch hier: Wie immer drei Teile, bis auf die Zeile genau getimed. Mitte doppelt so lang wie Anfang und Schluss. Anfang/Auslöser/Thema wird eingeleitet: (Raketen -) keiner glaubt ihr. Hauptteil: (PP1: Alles Lüge) - fehlender Rückhalt in der Familie bis zum Zentralen Punkt: Sexueller Missbrauch - weitere Steigerung bis zum Griff nach dem Messer (PP2), dann Schluss mit Eskalation, natürlich elliptisch: sie will der Polizei eine Nachricht hinterlassen: die Raketen (eben die Auslöser für die ganze Situation).

Wie Du habe auch ich überlegt, ob in einer Kurzgeschichte von (im Manuskript-Format) 4 Seiten zwei vordergründige Themenblöcke zulässig sind. Aber gerade beim Thema Amok halte ich überhaupt nichts von Monokausalität. Einheitlich ist lediglich der Charakterzug von Erina: sie fühlt sich nicht ernst genommen. Dies steigert sich vom Telefonat am Anfang bis zum finalen Amok.

Ob dies alles zwingend ist, war auch meine größte Sorge bei der Geschichte. Hängt vielleicht mit den eigenen Erfahrungen zusammen: wie groß wird ein Druck, wenn du von etwas überzeugt bist und kein Mensch dir glaubt? Wenn du dafür verspottet wirst. Die Rede davon ist, dich einweisen zu lassen. Hast Du eine Idee, wie das zwingender rüberkommt? Vielleicht weniger als Frage der Mutter denn als Faktum: "Wenn Du solchen Blödsinn erzählst, bleibt uns nur, dich einweisen zu lassen!"?

Für mich ist die Frage offen, ob Erinas Wissen einen realen Hintergrund hat oder nicht. In der Geschichte prallen zwei Wirklichkeiten aufeinander. Und das mit bösem Ausgang. Für beide Protagonisten, Erina wie Mutter, ist ihre eigene Version der Wahrheit relevant. Da die Geschichte streng subjektiv erzählt ist, bleiben auch die Fragen nach der Wirklichkeit im Raum.

Danke erst einmal für das Feedback. Rechtschreibfehler wird korrigiert.
Lieben Gruß,
Norbert

 

Hallo Rainer,

hast Recht, der Titel gefällt mir auch nicht. Habe noch keine brauchbare Idee für einen besseren.

Und "langweilig". OK, muss ich gelten lassen. Lag wohl nicht nur am Titel. Habe versucht, von Anfang an Konflikt zu produzieren. Scheint mir nicht gelungen zu sein. Danke trotzdem fürs Lesen :-)

Gruß,
Norbert

 

Hallo Ennka!

Für mich liest sich das so: Da ist eine Verrückte, die ihre Eltern umbringt. Und dass soetwas passiert, hast du dem Leser mit dem Titel bereits verraten.
Das läuft alles zu gradlinig - und so kann kaum Spannung aufkommen. Wie wäre es mit ein paar unerwarteten Wendungen? (Und 'nem anderen Titel?)

Grüße
Chris

 

Hi Chris,

hast ja Recht. mea culpa. Die Überschrift war Kurzschluss, weil ich die ursprüngliche noch blöder fand. Blöderweise lassen sich Überschriften hier im Forum nicht ändern. Also muss ich (hier) damit leben. Hätte aber ohnehin keine brauchbare in petto.

Ein wenig zerreißt mich Dein "läuft alles zu gradlinig". Habe da noch die Kritik von sim oben im Ohr, der mir ja gerade den "unstrukturierten Aufbau" vorgeworfen hat. Oder ist das am Ende gar kein Widerspruch? *grübel*

Warum geht ihr eigentlich alle davon aus, dass die gute Erina verrückt ist? Ich hatte den Text neulich in einer Gruppe ausprobiert, in der fast alle Anwesenden dann heiß über die therapeutische Praxis diskutierten und über die Chancen, mit solchem Minderheitenwissen (wie dem Erinas) ernst genommen zu werden. Sind das Gruppenprozesse? Bin irritiert.

Grüße,
Norbert

 
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Ein wenig zerreißt mich Dein "läuft alles zu gradlinig". Habe da noch die Kritik von sim oben im Ohr, der mir ja gerade den "unstrukturierten Aufbau" vorgeworfen hat. Oder ist das am Ende gar kein Widerspruch? *grübel*
Hallo Ennka,

später mehr. Aber genau darüber habe ich auch nachgedacht, als ich die anderen Kommentare gelesen habe. Und in der Tat erscheint es mir hier nicht als Widerspruch.

edit: So, mal sehen, ob ich jetzt mit mehr Zeit auch dazu imstande bin, zu denken.
Was ich mit strukturlos meinte, ist in der Tat etwas anderes als der von dir beschriebene und durchgeplante Aufbau. Der ist zweifelsohne vorhanden.
Als unbedarfter Leser gerate ich aber erstmal in den Dialog mit der Polizei über die Raketen. Ich lese zwar, dass eine Frau nicht ernst genommen wird, was sie von sich gibt, kann ich allerdings auch selbst nicht ganz ernst nehmen. Falsches Thema, falscher Ansprechpartner. Aber ich bin in einem Thema, egal, ob nun Verschwörungstheorien oder Raketen, ich glaube zu wissen, wovon du erzählen willst.
Dann taucht ein ominöser Peter auf, der jetzt bei den Grünen ist, ihr aber auch nicht glaubt. Dabei müsste er als Grüner doch gegen Abschussrampen sein. Immer noch glaube ich zu wissen, worum es geht, immer noch nehme ich selbst die Frau nicht ernst, weil sie so orientierungslos auf Dinge zurückkommt, von denen ich keine Ahnung habe. Wer ist Peter? In diesem Moment denke ich: Bestimmt ihr Ex-Mann.
Über Peter kommt sie zu ihrer Mutter, ein harmloses Versprechen, wohl als Einleitung gedacht: Papa kommt gleich noch und gibt dir einen Gute Nacht Kuss. Zwar ist von Hilflosigkeit die Rede, aber viel mehr frage ich mich, was hat das mit den Raketenabschussrampen zu tun, wie kommt sie darauf?
Als traumatisierter Mensch kenne ich die sprunghaften Assoziationen, die "unmöglichen" Vergleiche, für eine traumatisierte Frau ist es sehr passend, nur als Leser bin ich noch gar nicht so weit.
Als traumatisierter Mensch weiß ich auch, dass man sich oft merkwürdigerweise an das klammert, was einem schadet. Solange, bis man das bekommt, was es einem schuldig ist: Liebe, Vertrauen. Man bekommt es nie, man weiß, dass man es nie bekommt, aber man hält nicht inne in der ewigen sehnenden Hoffnung.
Als Leser aber sehe ich, die Frau lebt bei ihren Eltern, pflegt diese anscheinend, spricht von der Inkontinenz des Vaters, von dessen Stolz, weiß noch nichts von dem Missbrauchsvorwurf, es ist also alles bestens. Es geht sogar wieder zu den Abschussrampen, ich fühle mich im Thema bestätigt und wie aus heiterem Himmel kommt dann:

So wie damals, als du herausgefunden hast, Vater hätte dich jahrelang sexuell missbraucht.
Neues Thema, Abschussrampen sind völlig hinfällig, werden auch nicht mehr erwähnt. Die Protagonistin, in ihrer Glaubwürdigkeit durch den Eingang erschüttert, findet auch jetzt nicht so recht Glauben bei mir. Einerseits ja, andererseits nein, schließlich kommt es vor, dass Therapeuten Missbrauch suggerieren, wo keiner war. Es folgt ein Streit, das von mir angenommene Thema der Geschichte ist (bis auf den Schluss) obsolet, ich irre etwas hilflos in ihr herum. Das Thema des Streits (Missbrauch) muss schon häufiger auf dem Tisch gewesen sein. Vielleicht sogar heftiger, wortreicher, denn im Moment liest es sich nur nach einem lauen Aufguss wiederholter Auseinandersetzungen, bei denen sie nicht zum Messer gegriffen hat.
Das Merkwürdige ist, du hast alles beschrieben, sogar wirklich sehr straight, auch wenn ich mich durch die Themen verwirren ließ, denn das Thema sind weder die Abschussrampen, noch ist es der Missbrauch. Es ist die Frau, der niemand glaubt und die aus Verzweiflung darüber einen Doppelmord begeht (ein wirklicher Amoklauf ist das aus mehreren Gründen nicht). Und wenn ich das nach deiner Erklärung rekapituliere, hast du recht, es gibt die Struktur, die darauf zuläuft. Die Not der Frau steht auch in Worten da (wenn für meinen Geschmack auch etwas kurz), nur ich kann sie nicht erleben. Das meine ich, wenn ich schreibe, es ist nicht zwingend. Ich fühle mich als Leser nicht mitgenommen, erlebe ihre Not nicht so zwingend, dass ich denke, oh, endlich befreit sie sich.
Insofern könnte meine Kritik trotz "strukturlos" tatsächlich identisch zu der von Rainer und Chris sein, die es zu vorhersehbar fanden. Zwar verwirrst du mit den Themen, überraschst aber nicht im Ausgang. Es ist ein bisschen, als stimmten zwar die Zutaten, nur deren Anordnung verhindert, dass diese auch Spannung erzeugen.
Die Variante, mit dem Mord zu beginnen, und die Ursache dann langsam aufzudröseln, wäre vielleicht klassischer, aber eventuell einen Versuch wert.
Ich persönlich hätte solche Geschichte ja recht sicher in der ersten Person geschrieben, schon um direkter an die Gefühle zu kommen. Die erlebe ich bei dir als sehr indirekt und vor allem als konstant, nicht als sich steigernd.
Vielleicht ist es also tatsächlich so, dass der goxsche Vorwurf von Überkonstruktion hier genau zu der von mir empfundenen Strukturlosigkeit führt. Eine Geschichte vom Reißbrett.

Ein Amoklauf ist es nicht, weil Amokläufe meistens geplant sind, es gibt Hinweise darauf, deiner Protagonistin hat der Zufall ein Messer in die Hand gespielt, als sie gerade mal wieder wütend war. Wenigstens die meisten Amokläufe enden mit einem autoaggressiven Akt. Sie sind gewaltvoller Abgang. Auch das fehlt bei deiner Protagonistin.

wie groß wird ein Druck, wenn du von etwas überzeugt bist und kein Mensch dir glaubt? Wenn du dafür verspottet wirst. Die Rede davon ist, dich einweisen zu lassen. Hast Du eine Idee, wie das zwingender rüberkommt? Vielleicht weniger als Frage der Mutter denn als Faktum: "Wenn Du solchen Blödsinn erzählst, bleibt uns nur, dich einweisen zu lassen
Die Mutter redet ja nicht von Einweisung, sondern davon, dass es vielleicht besser wäre, wenn Erina wieder in die Klink ginge. Darin kann natürlich Perfidie stecken, wenn die Mutter das ganze Leben lang ihre Gemeinheiten immer hinter der Maske der elterlichen Sorge versteckt hätte. Das würde aber natürlich sehr viel mehr Raum für die Entwicklung nehmen. "Keiner glaubt ihr" wäre vielleicht besser zu vermitteln, wenn sich Erina darum bemühen würde, dass man ihr glaubt. Sie aber bemüht sich darum, dass etwas unternommen wird. Natürlich weiß sie, dass man ihr nicht glaubt, führt aber Substitionsauseinandersetzungen. Auch das ist grundsätzlich möglich, würde aber für mein Dafürhalten mehr Entwicklung, also mehr Raum für die Geschichte erfordern. "Keiner" sind in diesem Falle zwei Menschen, von denen beide guten Grund haben, ihr nicht zu glauben. Erinas subjektives Gefühl "niemand glaubt mir" hat sich zumindest in mir noch nicht so sehr entwickelt.
Wie gesagt, intellektuell kann ich dem folgen, emotional nicht. Und für die Frage, warum Erina überhaupt noch zu Hause wohnt (sie scheint ja erwachsen zu sein), bedarf es schon einiger Vorbildung.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Ennak!

Ich habe mich jetzt ein wenig in sims Sichtweise eingelesen, und ich denke ebenfalls nicht, dass es einen Widerspruch gibt. Aber auch ich erkläre mich gerne etwas genauer.

(Übrigens, sims Hinweisen dazu, dass es eigentlich kein Amoklauf ist, stimme ich vollkommen zu - in das Thema habe ich mich gerade etwas eingelesen. Und den Titel kannst du ohne Probleme durch einen Moderator ändern lassen.)

Aber zurück zu der von mir erwähnten Gradlinigkeit, und dazu, dass ich von Anfang an denke, dass die Protagonistin verrückt ist. Im Gegensatz zu sim, der sich konzentriert mit den Gedanken der Protagonistin bezüglich der Abschussrampe auseinandersetzt, habe ich wohl eine etwas Krimi-geprägtere Leseweise.
Die Protagonistin redet von Anfang an von einer Regierungsverschwörung. Das macht sie für mich schon gleich verrückt - das könntest du, als Autor, im Nachhinein nur dadurch abschwächen, wenn du die Protagonistin rausgehen und etwas unternehmen lässt. Der Leser müsste selbst etwas sehen, das er für eine Verschwörung hält. Bei dir sind es nur wirre Worte der Protagonistin.
Alles weitere: Peter, die Missbrauchsgeschichte ... verstärken nur den Eindruck, dass die Protagonistin schlicht und einfach verrückt ist.
Und da der Text unter "Krimi" steht, ist klar, dass schließlich jemand daran glauben muss. Die Eltern sind greifbar, also werden sie abgemurkst. Punkt. Geschichte zu Ende. Eben gradlinig.

Grüße
Chris

 

Hallo Ennka,

ich muss sagen, ich konnte mich gut in die Protagonistin hineinversetzen, egal ob man nun die Raketenbedrohung selbst für real hält oder nicht, die Beklemmung und die Machtlosigkeit kommen gut rüber. Als dann der Punkt Missbrauch auftaucht, wird auch klar, warum ihr diese Raketensache so wichtig ist/ sie sich dafür verantwortlich fühlt: Alles wiederholt sich, wieder versucht man (aus ihrer Sicht), ihre Existenz kaputt zu machen und wieder glauben ihr nicht einmal die ihr nähesten Menschen.

Als sie das Bratenmesser in der Spüle erblickte, schaltete sich ihr Kopf aus.

Hier schaltet sich leider auch mein Miterleben aus. Es folgt das klassische Gemetzel, ohne dass ich entweder ihre Gefühle miterlebe, oder den Filmriss, den ich nach dem Zitat oben erstmal erwartet hätte.

Sie alle sollten zu spüren bekommen, was sie ihr angetan hatten.

Zusammen mit der Überschrift, auf die ja schon hingewiesen wurde, ist mir das zu klischeehaft. Vielleicht würde ich den Satz einfach weglassen.

Bis zum Gemetzel gefällt mir die Geschichte gut.

Viele Grüße,
Hex

 

zunächst einmal: danke, ihr Lieben, für die intensive Auseinandersetzung mit dem Text. Das weiß ich zu würdigen...

@sim:
Deine Analyse haut mich um. Sehr genau nimmst du die einzelnen Teile auseinander und ich gebe dir komplett Recht, sowohl in der vermuteten Absicht als auch in der Analyse der beschriebenen Situation. Deine Analyse läuft ja wohl darauf hinaus: die Story ist nicht empathisch genug. Ich habe es nicht geschafft, die Emotionen der Protagonisten glaubhaft zu zeigen. Vielleicht hätte da eine Version in der ersten Person tatsächlich bessere Möglichkeiten. Aber wenn ich nicht anfangen will zu reflektieren, bleibt mir nur, jene (verwirrenden) Bilder zu zeigen, die der Protagonistin als Assoziationen in jenem Augenblick durch den Kopf gehen: Peter, Vater, der alltägliche Verrat. Genau diese Assoziationen hast du mit deiner Analyse ja auch sehr präzise wieder dekodiert.
Was wäre mehr zu zeigen? Tränen, die Unfähigkeit, sich überhaupt wieder zu bewegen/zu rühren? Schwer, da nicht in Klischees zu verfallen. Vielleicht ein kurzer räumlicher Rückzug? Oder zumindest die Beschreibung, dass dieser nicht wirklich möglich ist? Ich werde mal schauen, ob ich das noch deutlicher hinbekomme.
Eine Erina, die sich aktiv um Glaubhaftigkeit bemüht, finde ich schwierig (obwohl ich weiß, dass passive "Helden" in der Literatur ein no go sind). Ich schildere sie ja als Frau, die diese Erfahrungen seit der Kindheit mit sich rumschleppt und die nun resigniert auf ihr altbekannte Muster trifft. Würde sie noch immer rebellieren wie am ersten Tag, wäre sie wohl eine echte Superwoman - eine Marvel-Figur mit übermenschlichen Fähigkeiten. Hätte sie noch die Energie für solche Kämpfe, wäre der letzte, finale Befreiungsschlag wohl unnötig. Hier steht (schriftstellerisch) Technik gegen Glaubwürdigkeit.

@Chris
danke für den Tipp, den Titel über den Mod ändern zu lassen. Werde ich machen, sobald ich einen brauchbareren Titel gefunden habe.
Bisher habe ich noch nicht viele eigene Geschichten bei kurzgeschichten.de eingestellt. Bin von daher ein wenig unerfahren. So habe ich lange überlegt, ob der Text tatsächlich bei "Spannung/Krimi" sinnvoll eingestellt ist. Als ich ihn schrieb, war mein Gefühl eher "Gesellschaft", eigentlich sogar "Alltag". War mir aber ziemlich sicher, damit auch nur Proteste herauf zu beschwören. Aber über die Diskussion hier ist mir klar geworden, dass zu jedem Text auch die Erwartungshaltung des Lesers gehört - und die Frage, unter welchen Vorzeichen ich ihn präsentiere, eine zentrale Rolle dabei spielt, wie er aufgenommen wird. Theoretisch war mir das bewusst. Bin mal wieder über mich selbst gestolpert.
Mein erster Ansatz für diese Geschichte war wie deiner: ich wollte viel mit Rückblenden arbeiten und so zeigen, wie es zu diesem Familiendrama kam. Letztlich habe ich mich für die jetztige Version entschieden, um eine Einheit von Raum und Zeit herzustellen. Ich hatte das Gefühl, die Geschichte würde dadurch dichter.
Um dem Leser das Gefühl zu geben, Erinas Blick auf die Wirklichkeit könne real sein, habe ich Themen aufgegriffen, die wir als reale Absurditäten kennen: die amerikanischen Raketenbasen vor Ort kennen wir aus den 70ern - und Bushs ‚New National Space Policy’ ist genauso idiotisch wie real. Auch die scharz-grüne Diskussion, die derzeit in Hamburg in Gang ist, ist ja keine Erfindung Erinas. Und die Therapeuten, die bei nichtsahnenden Klienten Missbrauchserfahrungen aus dem Unterbewusstsein holen, war in den 90ern eine echte Modeerscheinung, manche Therapeuten diagnostizieren bis heute so. Für mich ist das der alltägliche Wahnsinn - und dabei völlig offen, in wie weit Erina dort real involviert.
Aber du hast natürlich Recht: von der Überschrift an ist absehbar, wie sich das Ganze entwickelt. Meine Hoffnung war zwar, den Leser so zu führen, wie sim es in seiner Analyse beschrieb. Aber mit etwas mehr Abstand ist die Story natürlich sehr gradlinig angedacht und damit vorhersehbar. Hat vielleicht wirklich mit der Präsentation zu tun. In einer anderen Rubrik (und mit anderer Überschrift) hätte sie wahrscheinlich anders gewirkt.

@die Hex
Du hast den Finger treffsicher auf einen der wunden Punkte der Story gelegt. Auch ich war nicht sicher, ob der Griff zum Messer hier glaubhaft ist oder nicht. Das war einer der Gründe, warum ich die Geschichte hier auf kurzgeschichten.de eingestellt habe: um zu sehen, wie ihr darauf reagiert und das empfindet.
Aber gibt es diese zwingenden Augenblicke überhaupt? Wir sind doch so sozialisiert, dass wir eigentlich in jeder extremen Situation statt des Angriffs die Flucht oder zumindest die Starre wählen. Ich weiß nicht genau, was du unter "Filmriss" verstehst. Für mich ist diese Situation ein solcher Wirklichkeitsriss. Ich tue etwas, was ich unter normalen Bedingungen nie tun würde, und was ich mit Sicherheit einen Moment später wieder bereue, wenn ich aus der Drucksituation befreit bin.
Wenn ich die gute Erina hier ihre Existenzangst reflektieren ließe, würde ich genau diesen Filmriss unglaubwürdig machen, der m.E. nötig ist, um überhaupt zum Messer zu greifen: "Sie wollen, dass ich zurück in die Klinik gehe. Sediert werde. Mich therapieren lasse statt die Wirklichkeit zu verändern. Dabei bin doch nicht ich verrückt, sondern die Wirklichkeit um mich herum..." - Wenn Du eine Situation so weit gedanklich im Griff hast, wählst du nicht mehr den Angriff, sondern die Flucht.
Was den Satz: "Sie sollten alle zu spüren bekommen..." angeht, gebe ich dir Recht. Der ist doof. Da bin ich doch wieder darauf verfallen, etwas zu reflektieren, was eigentlich Affekt ist. Den zu streichen, wird die Geschichte nicht reißen, ihr aber gut tun :) Danke.

Euch allen Dank für den regen Gedankenaustausch. Mal schauen, was ich daraus machen kann.
Norbert

 

Auf Wunsch des Autors nach Gesellschaft verschoben.

 

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