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Der ganz alltägliche Wahnsinn
„Sie wollen also nichts unternehmen?“
Erina hatte Mühe, den Telefonhörer zu halten. Ihre Hand zitterte vor Wut.
„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt: Ich werde den Anruf zu Protokoll nehmen.“ Die Stimme des Polizisten war betont ruhig. „Ich werde meinen Vorgesetzten darüber informieren. Und gegebenenfalls werden wir weitere Schritte einleiten.“
„Die Regierung hat Mittel, das alles unter den Tisch zu kehren“, sagte sie. „Niemand wird etwas unternehmen. Und wenn nichts geschieht, werden sie schon in den nächsten Monaten anfangen, hier Atomraketen zu stationieren. Direkt vor unserer Tür. Mitten im Dorf!“
Peter hatte damals genau so reagiert wie der Polizist jetzt. Peter war bei den Grünen im Landtag. Aber die Politik hatte ihn gefressen. Mittlerweile konnte er sich sogar vorstellen, mit dem Erzfeind, der CDU, zusammen zu arbeiten. Wie absurd. Er würde eine kleine Anfrage an den Landtag richten, hatte er gesagt. Gesagt auf eine Art, der sie keinen Moment geglaubt hatte.
Auf die gleiche Art hatte ihre Mutter früher mit ihr geredet. „Papa kommt auch gleich noch und gibt dir einen Gute-Nacht-Kuss.“ Wieder spürte sie die lähmende Hilflosigkeit aus Kindertagen.
Sie legte den Telefonhörer auf die Gabel, ohne noch ein Wort zu sagen. Müde strich ihr Blick über das Spitzendeckchen auf der Kommode, die Obstschale mit den Früchten aus lackiertem Holz.
Alles war eine große Lüge. Sie ließ die Finger über die glatte Fläche der Kommode gleiten, betrachtete sich einen Moment im Spiegel. Ihre Augen hatten tiefe Ringe. Ihr Gesicht war aufgequollen, genau so gedunsen wie der Rest ihres einst so schönen Körpers.
„Na, siehst du“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Esszimmer. Sie klang mitleidig, aber nicht echt. So, wie man zu einem kleinen Kind spricht.
Erina roch den leichten Uringeruch, der aus dem Wohnzimmer strömte. Ihr Vater war seit einiger Zeit inkontinent, weigerte sich aber, Windeln zu tragen. Dafür war er zu stolz. Lieber versaute er sämtliche Bezüge mit seinem Harn.
Erina ging ins Zimmer hinein. Ihre Mutter saß auf dem Sofa, ein Rätselheft auf ihren Knien.
„Fühlst du dich jetzt nicht besser?“, fragte die Mutter.
„Die Polizei wird nichts unternehmen.“
„Ach, Erina.“
„Peter wird auch nichts tun. Ich kann zur Zeitung gehen. Aber auch die werden schriftliche Beweise sehen wollen. Dabei war doch alles nur Zufall. Die sind zu vorsichtig, um so etwas schriftlich herumliegen zu lassen.“
„Glaubst du wirklich an diese Abschussrampe für Geheimraketen?“
„Hörst du denn keine Nachrichten? Die Amerikaner nennen das ‚New National Space Policy’. Aktionsfreiheit im Weltraum, so nennt Bush das. Und wir, die Alliierten, müssen das ausbaden.“
„Und ausgerechnet unsere kleine Erina hat all das herausgefunden... So wie damals, als du herausgefunden hast, Vater hätte dich jahrelang sexuell missbraucht.“
„Das war nicht ich, die das herausgefunden hat. Das war meine Therapeutin. Wir sind in die Tiefenentspannung gegangen, und da ist es wieder hochgekommen. Plötzlich waren da diese ganzen Bilder. Von Vater, wie er nachts in mein Zimmer kam. Wie er anfing mich zu streicheln, mit seinem süßlichen Blick. Wie er meine Hand auf seinen Schwanz legte...“
„Hör auf. Du weißt genau, dass Vater dazu nie im Stande wäre.“
„Du hast immer so getan, als wüsstest du von nichts.“
„Es gab nichts zu wissen.“
„Du bist es doch, die immer wieder weggesehen und weggehört hat. Du. Und du tust es bis heute! Lieber erklärst du mich für verrückt, als dass du deiner eigenen Tochter glaubst.“
Erina wandte sich ab. Sie hielt diesen verwundeten Blick ihrer Mutter nicht länger aus.
„Tu das deinem Vater nicht an!“
Erina drehte sich abrupt wieder um: „Aber: er hat es mir angetan, begreifst du das nicht?“
Ihre Mutter fing an zu weinen. Das fand Erina noch unerträglicher als alles andere. Dieses Selbstmitleid. Als sei sie, die Mutter, die Leidtragende.
„Mir hat er es angetan und damit mein ganzes Leben aus der Bahn geworfen. Mir hat er alle Chancen genommen, ein starker Mensch zu werden. Alles hat er kaputt gemacht. Und du...“ Erina schubste den Tisch zur Seite. Sie spürte den Impuls, ihn mit einer großen Bewegung leer zu fegen. Ihn umzuwerfen. Alles klein zu schlagen. Wie hasste sie in diesem Augenblick ihre Mutter.
„Vielleicht wäre es besser, du gingst wieder zurück in die Psychiatrie.“
Erina zitterte. Um nicht los zu schreien, ging sie in die Küche.
Als sie das Bratenmesser in der Spüle erblickte, schaltete sich ihr Kopf aus. Sie griff das Messer und ging zurück ins Wohnzimmer. Immer wieder stieß sie auf ihre Mutter ein, die erst kreischte, dann aber nur noch wimmerte.
Hinter sich hörte Erina die Esszimmertür. Sie drehte sich um, stach auf die Hand ein, die sie am Ärmel festzuhalten versuchte. Da stand er, ihr Vater, noch immer in herrischer Pose, als nähme sie ihm diese noch ab. Er hatte gewollt, dass sie seinen Penis anfasste? Dieser Penis, der nun nicht einmal mehr Wasser halten konnte? Sie stach auf seine Genitalien ein, einmal, zweimal, konnte gar nicht mehr aufhören, auf den Mann einzustechen, der nun langsam in sich zusammensackte.
Müde trat sie einen Schritt zurück und betrachtete die beiden, die da in ihrem eigenen Blut lagen und mit weit aufgerissenen Augen stoßweise atmeten.
Eigenartiger Weise tat es ihr gut, die beiden so am Boden liegen zu sehen. Zum ersten Mal seit langem fühlte sie sich frei. So als habe sie die Fäden in der Hand. Als könne sie etwas im Leben ausrichten. Sie würde ihre Schwester besuchen. Und Peter.
Vielleicht würde die Polizei sie jetzt ernst nehmen. Sie beschloss, eine Nachricht für die Polizei zu hinterlassen, falls diese vor ihr hier wäre: Weltraum-Abschussrampe. Sie begann, mit dem Blut ihrer Eltern die Wand zu beschreiben, damit jeder es gleich sehen könne. WELTRA. Es war mühsamer, als sie gedacht hatte. Sie brach ab. Das Wort war zu lang. Die Polizei würde auch so verstehen.