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Der ganze Schlamassel
Der ganze Schlamassel begann, so viel ich weiß und sagen kann, mit einer Runde Bier und einem guten Ratschlag.
Es kommt nicht oft vor, dass sich der Tod und das Schicksal auf ein Bier treffen; das letzte Mal war kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen, und da hatte Tod von Schicksal wissen wollen, ob der verdammte Unsinn seine Idee gewesen war.
Sie saßen im Fox and Haunt, tranken Newcastle Brown Ale und bemühten sich, nicht weiter aufzufallen.
Das Schicksal trug einen schwarz-weißen Umhang, an dem eine Unzahl von bunten Schicksalswürfeln befestigt war, die ständig gegeneinander klapperten. Sein Schädel war völlig kahl, abgesehen von den beiden kleinen Hörnern, die daraus hervorstachen wie Ausrufezeichen. Seine Augen, das eine blau, das andere purpurn, waren unergründlich. Das Damoklesschwert lag vor ihm auf dem Tisch und hielt zur Abwechslung mal die Klappe. Es war zu sehr damit beschäftigt, scharf auszusehen.
Der Tod bestand eigentlich nur aus seiner üblichen schwarzen Kutte, die Sense hatte er vor der Tür gelassen und das Totenbuch auch.
Es war Halloween und so fielen sie überhaupt nicht weiter auf.
Die Kelten, die praktischerweise nur zwei Jahreszeiten kannten, wussten, dass an Halloween (das sie Samhain nannten) die Sommerhälfte endet und die Winterhälfte beginnt; an diesem Tag, das wussten sie auch, verschwimmt die Grenze zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Was allerdings niemand weiß, nicht einmal die Kelten, so schlau waren sie dann auch wieder nicht, ist, dass an Halloween zwischen acht und elf Uhr abends (mitteleuropäischer Zeit) niemand stirbt, auf der ganzen Welt nicht. Denn an Halloween, zwischen acht und elf Uhr abends, hat der Tod frei.
„Es ist eine Schande“, klagte das Schicksal und winkte dem Kellner. Pubs im Londoner Westend haben eigentlich keine Kellner, aber das Schicksal war nicht in der Stimmung, um auf soziologische Gepflogenheiten Rücksicht zu nehmen, und so tauchte plötzlich ein Kellner auf, der sich am nächsten Tag an überhaupt nichts mehr erinnern konnte.
„Noch eine Runde?“, fragte der Kellner.
Das Schicksal nickte.
„Cooles Kostüm, Mann“, sagte der Kellner und das Schicksal lächelte, arg gequält, wie der Tod fand.
„Es ist eine Schande“, wiederholte das Schicksal, als sich der Kellner auf der Suche nach der Bar durch die kostümierte Menschenmenge zwängte, die gleichzeitig schrie, sang und soff.
„Niemand glaubt mehr an mich.“
„Was meinst du damit?“, wollte der Tod wissen.
Der Kellner brachte zwei neue Flaschen Bier und das Schicksal drückte ihm eine Fünfpfund-Note in die Hand.
„Stimmt so“, sagte es.
„Muss mein Glückstag sein“, meinte der Kellner fröhlich und verschwand.
„Das meine ich damit“, sagte das Schicksal resigniert. „Glück und Pech, daran glauben die Menschen heute. Ich bin out. Früher, da haben sie mich noch angefleht, gut zu ihnen zu sein, aber heute haben sie Glück und ich kann sehen, wo ich bleibe.“
„Glück?“, fragte der Tod. „Dein Lehrling?“
„Mein ehemaliger Lehrling. Hat sich mittlerweile selbstständig gemacht. Er steht da vorne bei den Pooltischen, der verfluchte kleine Pisser.“
Der Tod drehte sich um.
Die letzten zweihundert Jahre waren gut zu Glück gewesen. Er trug zwar immer noch den albernen grünen Hut, aber ansonsten hatte er sich ziemlich schick gemacht, Frack, Krawatte, Gamaschen, das volle Programm. Er trank Whisky aus der Flasche und als er bemerkte, dass Tod und Schicksal zu ihm herübersahen, winkte er ihnen fröhlich zu. Dann wandte er sich wieder dem Billardspiel zu. Sein Gegner sah ziemlich zerknittert aus.
„Ich hoffe, sie spielen nicht um Geld“, sagte der Tod.
Das Schicksal hörte ihm gar nicht zu.
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte es.
Der Tod dachte nach. „So schlimm kann es doch nicht sein, oder?“
„Niemand glaubt mehr an mich“, sagte das Schicksal. „Wie schlimm kann es denn noch werden?“
Wenn das stimmte, dann hatte das Schicksal in der Tat ein Problem, fand der Tod. Da das gesamte Universum aus Glauben bestand, hörte ein Wesen, an das nicht geglaubt wurde, unweigerlich auf zu existieren. Es würde sich einfach auflösen und zu einer Erinnerung werden, der denkbar schlimmsten Form des Nicht-Seins.
„Soll es mir etwa wie Odin ergehen?“
Odin? Der Tod konnte sich nur schwach an ihn entsinnen. Hatte er einen langen Bart und weiße Haare? Großer Kerl, der immer einen Speer mit sich herumschleppte? Der Tod wusste es nicht mehr. Könnte auch Thor gewesen sein. Er hatte die beiden schon früher immer miteinander verwechselt. Einer von ihnen, das wusste er noch, hatte ein Faible für Raben gehabt.
„Oder wie Luzifer?“, fragte das Schicksal.
„Was ist eigentlich aus dem geworden?“
Das Schicksal biss sich auf die Lippe. „Hat einen Gebrauchtwagenhandel in Detroit.“
Noch mal Glück gehabt, dachte der Tod, aber natürlich sagte er es nicht.
„Wie kommst du denn über die Runden?“
Der Tod überlegte.
„Ach“, sagte er schließlich, „solange den Menschen niemand erklärt, dass es mich nur gibt, weil sie glauben, dass es mich gibt, läuft es eigentlich wie von selbst.“
Er streckte sich, was schrecklich albern aussah, weil er keine Gliedmaßen besaß. Sein Blick fiel auf die Uhr, die über der Tür hing. Drei Fledermäuse aus Plastik baumelten daran.
„Es wird Zeit“, sagte er, denn der Satz gefiel ihm ausgesprochen gut. „Die Clarks töten sich ja leider nicht von alleine.“
Das Schicksal seufzte. „Ich hatte eigentlich gehofft, du hättest einen Rat für mich“, sagte es.
„Warum fragst du nicht das Orakel?“, wunderte sich der Tod.
„Das hab ich ja versucht. Aber in letzter Zeit ist es ständig bekifft.“
Der Tod räusperte sich. Ratschläge waren nicht gerade sein Metier.
„Die Menschen sagen immer, wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg kommen. Verstehst du?“
Das Schicksal schüttelte unglücklich den Kopf.
„Werbung, Schicksal, das meine ich. Wenn die Menschen nicht an dich glauben wollen, dann musst du sie dazu zwingen.“
Der Tod lehnte sich zurück. Er war sehr zufrieden mit seinem Ratschlag.
Das Schicksal nickte bedächtig. „Weißt du“, sagte es, „vielleicht versuche ich das mal.“
Und so nahm der ganze Schlamassel seinen Lauf.
Eine Woche später:
Der Tod musste sich sputen. Ali Singh, Seven-Eleven-Manager aus New Bedford, South Carolina, würde sich in zwei Minuten vor den Elf-Uhr-Zug aus Richmond werfen, weil seine Frau, Nahischa Singh, mit Raschid Dalang, Seven-Eleven-Manager aus Concord, Arkansas, schlief. Es handelte sich um eine ziemlich komplizierte Geschichte, in der ein Seven-Eleven-Kongress in New York City, eine entlaufene Perserkatze und ein zwölf Zentimeter langer Vibrator vorkamen (wobei der letzte eine tragende Rolle spielte), aber der Tod war an den Einzelheiten nicht interessiert. Es war November, ein Monat, in dem die Menschen gerne beschlossen, dass es nicht mehr viel gab, wofür es sich zu leben lohnte, und in hübscher Regelmäßigkeit von hohen Gebäuden hüpften. Der Tod fand dieses Verhalten ausgesprochen albern, um nicht zu sagen nervtötend, aber er war nur der Tod, und es war nicht seine Aufgabe, den Leuten zu erklären, dass sie sich wie Trottel benahmen.
Amerika. Oh, wie er das Land hasste. 270 Millionen Menschen, denen es nie schnell genug gehen konnte. Asien, das war mal eine Gegend, die er gerne besuchte; dort ließ man sich beim Sterben wenigstens noch Zeit. Aber die Amerikaner, die ganze vermaledeite Bande, die mussten ja unbedingt nach Terminkalender dahinscheiden, da führte kein Weg vorbei.
Mal schauen, Herr Sensemann, vielleicht kann ich Sie am Montag noch dazwischenquetschen.
Der Tod hatte nicht übel Lust, einen russischen Atomwaffenoffizier über dem roten Knopf einen Herzinfarkt bekommen zu lassen, aber er war sich ziemlich sicher, dass das Ärger nach sich ziehen würde. Irgendwer - der Tod wüsste zu gerne wer - hatte offensichtlich einen Narren an der Menschheit gefressen.
Er war siebzig Sekunden zu früh dran. Der Bahndamm war verlassen, von Ali Singh keine Spur. Der Tod seufzte.
Warum musste sich der Kerl auch vor einen Zug werfen? Was war denn gegen das gute alte an Liebeskummer Dahinsiechen einzuwenden? Hatte doch zweitausend Jahre prima geklappt. Aber nein, die Amerikaner hatten ja keine Zeit mehr für eine vernünftige Depression. Ständig waren sie damit beschäftigt, Geld zu verdienen, Geld auszugeben, Geld zu stehlen und in andere Länder einzufallen.
Nun konnte er den Elf-Uhr-Zug hören. Wo blieb der Mensch bloß? Er schaute sich um. Niemand zu sehen. Schon gar kein lebensmüder Inder mit einer sich sträubenden Perserkatze in den Armen. Noch zwanzig Sekunden.
Der Tod warf zur Sicherheit noch mal einen Blick in das Totenbuch, aber dort stand es ganz genau, Blut auf weiß: Ali Singh (10:59). Kein Zweifel. Das Problem war nur: Ali Singh tauchte nicht auf.
Der Zug rauschte vorbei.
Jetzt war der Tod sauer. Das war ein ziemlich neues Gefühl für ihn, denn in den Jahrtausenden seiner Existenz hatte es noch niemand gewagt, ihn zu versetzen. Er hätte sich die Haare gerauft, wenn er Haare gehabt hätte, oder einen Schädel, auf dem sie hätten wachsen können, aber da er nicht einmal Hände besaß, mit denen er raufen konnte, ließ er es bleiben und pendelte die Realität ein.
Das mit dem Einpendeln ist eine unglaublich komplizierte Geschichte, die im gesamten Universum nur drei Wesen verstehen, und die sind die meiste Zeit hoffnungslos betrunken. Erwischt man sie in guter Stimmung, erklären sie den Vorgang in der Regel so: Stellen Sie sich vor, Sie seien ein Ire und müssten in jedem Land der Welt gleichzeitig viertausend Whisky trinken. Die einzige Möglichkeit – außer es einfach sein zu lassen, natürlich – besteht logischerweise darin, die Realität so zu verändern, dass Sie bereits alle bis auf einen getrunken haben. Bis hierhin ist die ganze Sache noch ein relativ simpler Taschenspielertrick; die wirkliche Kunst besteht darin, die Zeit nicht merken zu lassen, dass man sie um ihren Job bescheißt.
Der Tod pendelte also die Realität ein und befand sich eine Sekunde (nun ja, eigentlich war es eine achtel Nanosekunde, aber wir wollen mal nicht so kleinlich sein) später auf der Golden Gate Bridge und hielt nach Danny Ford Ausschau. Danny Ford war siebenundzwanzig, Kurier bei UPS und bis in die Haarspitzen vollgedröhnt mit Speed. Er würde in – der Tod schaute in das Totenbuch – vier Sekunden die Leitplanke streifen, auf die Gegenfahrbahn geraten, ein heilloses Durcheinander verursachen und auf dem Weg in den Pazifik elf Menschen mit sich reißen. Fliegen, Klappen und der ganze Kram.
Es war Montag und der Verkehr auf der Brücke floss so zäh wie die Zeit bei einem Konzert von Elton John. Der Tod zählte dreihundertvierzig Autos, aber darunter war kein Lieferwagen von UPS. Und wo kein Lieferwagen von UPS, da auch kein Danny Ford.
Irgendetwas, fand der Tod, lief hier ganz gewaltig schief.
Eine Stunde und dreiundsiebzig nicht aufgetauchte Tote später bekam der Tod einen Wutausbruch, was dazu führte, dass sich zwei große afrikanische Länder den Krieg erklärten.
Im Augenblick hastete er über den Champs Elysées und schwor sich, dass irgendjemand (wer genau, das musste noch ergründet werden) in einem ganz erheblichen Erklärungsnotstand steckte, wenn Ives Calvert nicht planmäßig seinen Schlaganfall bekäme. Die Prachtstraße war seltsam verlassen, weder Touristen noch Einheimische waren zu sehen, was den Tod bestimmt sehr verwundert hätte, wenn er mit seinen Gedanken nicht bei Mord, Totschlag und anderen üblen Sachen gewesen wäre.
Er passierte einen Zeitungskiosk und sein Blick streifte eher zufällig die Schlagzeile der LeMonde. Einen halben Block später war der optische Impuls endlich in seinem Bewusstsein angekommen und der Tod machte kehrt und eilte zurück. Er las die Schlagzeile. Dann las er sie noch einmal.
Die Ärzte sagen, es war Schicksal.
Der Tod brüllte, ein Geräusch, das seit dem Untergang von Atlantis nicht mehr auf der Erde erklungen war, und der Zeitungsverkäufer erlitt eine Nierenkolik.
Im nächsten Augenblick stand der Tod am Fuße des Schicksalsberges.
Wer behauptet, dass der Schicksalsberg ein ziemlich ungemütlicher Ort ist, der könnte auch behaupten, dass sich der Steuermann der Titanic ein ganz klein wenig verlenkt hat.
Der Berg ist etwa zweitausend Meter hoch und sieht überhaupt nicht so aus, wie ihn sich J.R.R. Tolkien vorgestellt hat; das könnte allerdings auch daran liegen, dass es schlichtweg unmöglich ist, sich den Schicksalsberg vorzustellen, da er auf einer Realitätsebene existiert, in der man auf alle uns geläufigen Naturgesetze so viel Wert legt, wie, sagen wir mal, die Franzosen auf Durchhaltevermögen.
Er war wirklich sehr hoch und unheimlich furchterregend.
Der Tod stapfte über die Totenschädel und achtete nicht auf die Flammen, die über den blutschwarzen Himmel zuckten. Die Luft grollte und knisterte; ach, Hieronymus Bosch hätte sich ein Loch ins Bein gefreut.
Oben angekommen, schaute sich der Tod um. Das Schicksal hockte auf dem Knochenthron und winkte ihm fröhlich zu. Vor dem Thron stand eine Reihe von toten Menschen; der Tod erkannte Ali Singh und Danny Ford, und da war es um seine Fassung geschehen.
"WAS", donnerte er, "SOLL DAS?"
Das Schicksal brachte das Kunststück fertig, völlig verdattert auszusehen. "Was meinst du?"
"IHN!", polterte der Tod und packte Ali Singh bei den Schultern. "UND IHN!", brüllte er weiter, während er Danny Ford durchschüttelte. "UND ALL DIE ANDEREN." Weiter hinten in der Reihe erspähte er den Papst. "UND GANZ BESONDERS IHN!"
"Ach", sagte das Schicksal. "das."
"Sagt mal, könntet ihr vielleicht mal für eine Minute die Klappe halten?", fragte das Damoklesschwert. Es schwebte über dem Kopf eines wütenden Watutzi-Häuptlings. "Ich versuche zu arbeiten."
"Hör mal", sagte das Schicksal, "ich kann das erklären."
"Ach ja?"
"Es war schließlich deine Idee."
"Meine Idee?"
"Erinnerst du dich nicht mehr? Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, dann muss der Prophet eben zum Berg kommen. Deine Worte."
Wenn der Tod einen Arsch gehabt hätte, dann hätte er sich nun hinein getreten. Genüsslich.
"Und es funktioniert einfach tadellos, Tod, keine Frage", plapperte das Schicksal munter weiter, "man muss nur ein paar Leute umbringen und schon glauben sich die Menschen den Verstand dusselig. Kannst du dir das vorstellen?"
Der Tod hätte gerne erwidert, dass er sich das durchaus vorstellen konnte, aber das Schicksal hatte sich gerade so richtig in Fahrt geredet.
"Man muss die Sache natürlich im großen Stil aufziehen. Ich meine, guck mich mal an, ich bin so sehr da, dass mir die Existenz schon zu den Ohren rauskommt."
Widerwillig musste der Tod nicken. Das Schicksal sah in der Tat großartig aus. Grauer Rauch kräuselte sich um die beiden Hörner, seine Augen funkelten listig und die Zahl der Schicksalswürfel, die an seinem Umhang baumelten, hatte sich beinahe verdoppelt. Sogar das Damoklesschwert wirkte noch einen Tick schärfer.
"Ich fühle mich wirklich wie neuerfunden", erklärte das Schicksal stolz. "Für die Brücke habe ich gerade einmal drei Minuten gebraucht."
Der Tod konzentrierte sich darauf, völlig gelassen zu bleiben, schon im Interesse der Menschheit und ihres Fortbestehens.
"Hör mal", sagte er, "ich finde es ja toll, dass du mit so viel Herzblut bei der Sache ... was für eine Brücke?"
Das Schicksal wurde rot. "Äh. Na ja, das wollte ich dir noch erzählen. Der Fährmann war ja ein netter Kerl und so, aber eigentlich auch ziemlich unwirtschaftlich, findest du nicht auch? Er konnte ja immer nur einen Toten über den Fluss bringen und, nun ja, vielleicht hab ich in meinem Eifer ein paar Leute zu viel ... tja, und da hab ich eben eine Brücke gebaut. Sieht toll aus. Wird dir bestimmt gefallen. Mit Pfeilern und Spannbogen und dem ganzen Schnickschnack."
"Du hast eine Brücke über den Styx gebaut?", fragte der Tod leise.
Das Schicksal nickte.
"Über den Styx? Den heiligen Fluss der Toten? Die Grenze zur Unterwelt? Den ewige-Qualen-erwarten-dich-auf-der-anderen-Seite-Styx?"
Das Schicksal nickte erneut.
"Und was hast du mit dem Fährmann gemacht?"
"Ach, du weißt doch wie diese Fährmänner so sind", druckste das Schicksal herum. "Ich hab ihm gesagt, er soll mal ein paar Tage frei nehmen. Hatte ja ziemlich viel zu tun, in den letzten paar tausend Jahren. Man muss auch mal die Seele baumeln lassen, hab ich ihm gesagt."
"Er hat keine Seele."
"Huh?"
"Er hat keine Seele. Genausowenig wie ich ein Gewissen habe, oder du einen Verstand, was das betrifft."
Das Schicksal biss sich auf die Lippe. "Bist du jetzt irgendwie sauer, oder so?"
Eine Sekunde, dachte der Tod, noch eine Sekunde und die Welt wird Zeuge eines Amoklaufs, gegen den die Spanische Inquisition wie eine Bande von Amateuren aussieht.
Plötzlich kam ihm ein Gedanke. War das möglich? Durchaus. War es wahrscheinlich? Vielleicht. War es einen Versuch wert? Warum nicht.
Und dann geschah etwas, das seit Anbeginn der Zeit noch nie geschehen war: der Tod begann zu lachen. Es war ein tiefes, kehliges Geräusch, dem Tosen der Brandung in einer stürmischen Nacht nicht unähnlich.
"Tja", sagte der Tod lachend, "dann wünsche ich dir noch viel Spaß."
Die Idee mit der 24-Stunden-Kneipe, dachte John O'Bannon, war vielleicht doch nicht so brilliant gewesen, wie er zu Anfang gedacht hatte. Wenn man mal ehrlich war, stand John's Round the Clock Pub auf der Liste seiner persönlichen Fehlschläge nur knapp hinter John's Women Only Pub, und der war ein echtes Fiasko gewesen. Es war nicht so, dass er keine Gäste hatte, oh nein, vor Gästen konnte er sich kaum retten, die Sache war vielmehr die, dass Gäste, die sich nachts um halb vier in eine Kneipe verirrten, die unangenehme Angewohnheit hatten, vor dem Bezahlen der Rechnung spurlos zu verschwinden. Wenn man mal wirklich ehrlich war, dann hätte er seinen Pub auch John's Zechpreller Inn nennen können.
Die meisten Sorgen bereitete ihm im Augenblick der Kerl an Tisch sieben. Seltsamer Kauz. Schwarze Kutte, kurz angebunden, trank Newcastle Brown Ale wie andere Leute Wasser. Außerdem saß er schon seit drei Tagen da. An sich war das ja noch keine besondere Leistung, John hatte Gäste, die es sich eine Woche lang bei ihm gemütlich machten, aber dieser seltsame Kerl schlief einfach nicht ein. Wenn man mal vom Trinken absah (und das tat er in einem beängstigenden Tempo), dann machte er eigentlich überhaupt nichts.
Rein gar nichts.
Und er schien sich dabei prächtig zu amüsieren.
Es dauerte zwei Tage und siebenundvierzig Bier länger, als der Tod geschätzt hatte. Er dachte gerade an die Große Pest zurück (eine stressige Zeit, aber sehr, sehr befriedigend), als das Schicksal herein kam und sich an seinen Tisch setzte. Es sah ziemlich zerknittert aus.
"Und?", fragte der Tod. "Wie läuft's?"
Das Schicksal winkte ab und brüllte nach einem doppelten Gin. "Frag nicht", sagte es. "Wie hast du das bloß zehntausend Jahre lang ausgehalten? Die Menschen sterben ja wie die Fliegen. Sieben Tote pro Sekunde. Sieben. Hast du eigentlich eine Ahnung, was auf meinem Berg los ist? Das ist ein Kriegsgebiet da oben. Die Hindi, die gehen ja noch, die wollen bloß wissen, wo die nächste Kuh ist und rücken wieder ab, aber die Katholiken, die treiben einen in den Wahnsinn, das kann ich dir sagen. Schreien Zeter und Mordio, nur weil sie ein Weilchen ins Fegefeuer müssen. Als ob sie das nicht vorher gewusst hätten. Steht doch in eurem verdammten Buch, sag ich ihnen, aber nein, dann kommen sie einem mit Vergebung und Beichte und der ganzen Scheiße. Das ist keine Religion, das ist ein Debattierclub. Und die Satanisten! An die will ich erst gar nicht denken."
Das Schicksal seufzte und kippte den Gin herunter.
"Aber wenigstens glauben sie an dich, oder nicht?"
"Glauben? Und wie die glauben. Die hören gar nicht mehr auf. Schrecklich."
"War das nicht das, was du wolltest?"
"Ja.", sagte das Schicksal. "Nein. Ich meine, schon, aber doch nicht so. Man kommt ja zu überhaupt nichts mehr. Und zu allem Überfluss herrscht da oben jetzt auch noch ein riesengroßer Stau."
"Auf der Brücke?"
Das Schicksal vergrub den Kopf in den Händen. "Die ist zusammengebrochen. Und ich kann den Fährmann nirgends finden."
Der Tod war froh, dass er keinen Mund besaß, denn sonst hätte er ein breites Grinsen nicht verbergen können.
"Und was willst du nun von mir?", fragte er unschuldig.
"Na ja...", stammelte das Schicksal, "ich wollte dich fragen, ob du nicht vielleicht, ich meine, wenn dir das recht ist, dann könntest du unter Umständen wieder..."
"Schon gut."
Die Mine des Schicksals hellte sich auf. "Echt?", fragte es. "Das würdest du tun? Einfach so?"
"Einfach so", stimmte der Tod zu.
"Und ich muss auch nicht betteln und winseln?"
"Nein", sagte der Tod. "Es sei denn, du möchtest."
Das Schicksal kippte noch einen Gin herunter. Es sah unglaublich erleichtert aus. "Dann werde ich mich wohl mal wieder auf die Socken machen", sagte es schließlich. "Dringende Termine, du weißt schon." Im nächsten Augenblick war es verschwunden.
Der Tod war sehr zufrieden. Er war so zufrieden, dass er beim Hinausgehen einen Blick ins Totenbuch warf und die Todesursache von Jack O'Bannon von Verbrennen in Hirnschlag änderte. Das war schließlich das mindeste, was er tun konnte, wenn er schon die Zeche prellte.
Es war ein heißer Tag in Venedig. Ein wirklich sehr heißer Tag. Ein alte-Leute-kippen-reihenweise-um heißer Tag.
Es hätte nicht viel gefehlt und der Tod hätte ein fröhliches Lied gepfiffen. Außer Lippen und Stimmbändern, natürlich.
Er musste nicht nicht lange suchen. Der schwarzgekleidete Gondolieri war in etwa so unauffällig wie Adolf Hitler auf einem Nudistenkongress.
"Hallo Fährmann", sagte der Tod. "Nimmst du mich ein Stückchen mit?"
Er stieg in das wackelige Boot und sie legten ab. Die sengende Hitze hatte den Wasserspiegel der Kanäle um mehr als einen Meter sinken lassen. Die Luft flimmerte.
"Du bist also wieder im Geschäft?", fragte der Fährmann, nachdem sie eine ganze Weile schweigend durch das seichte Wasser gefahren waren. "Wie hast du das denn angestellt?"
"Ich habe gewartet", antwortete der Tod. "Und überhaupt nichts getan."
Der Fährmann nickte. "Toller Plan."
"Ach, du weißt doch, was man über das Schicksal sagt. Es ist launisch."
Wieder nickte der Fährmann. "Und jetzt willst du mir meinen alten Job zurückgeben, stimmt's?"
"Wenn du ihn haben willst."
Der Fährmann überlegte. "Weißt du", sagte er schließlich, "eigentlich gefällt es mir hier ganz gut. Die Menschen sind nett. Und sie freuen sich, dass ich sie fahre. Kannst du dir das vorstellen? Sonst haben sie immer gejammert und geschrien, aber hier wollen sie sogar, dass ich singe. Ich kann ziemlich gut singen. Willst du mal hören?"
Der Tod lehnte dankend ab.
"Du wirst einen anderen Fährmann finden. Ganz bestimmt."
"Ganz bestimmt", wiederholte der Tod. "Du kannst da drüben anlegen."
Das Boot wippte leicht hin und her, während der Fährmann in Richtung Ufer steuerte. Als sie den Anlegesteg erreichten, kletterte der Tod heraus. Er wollte sich schon in den Vatikan aufmachen (der neue Papst stand unter keinem guten Stern), als ihm noch ein Gedanke kam.
"Weißt du", sagte er leise, "vielleicht könntest du ja manchmal jemanden aus dem Boot herausschubsten. Um der alten Zeiten willen."
Er war sich nicht sicher, aber er glaubte, dass der Fährmann lächelte.
"Natürlich", sagte der Fährmann. "Um der alten Zeiten willen."