Der gefallene Baum
Das Leben hatte Manfred den Boden unter den Beinen weggezogen. Zweifelnd sah er auf den Kontoauszug in seiner Hand. Erst seit wenigen Monaten war er arbeitslos, und schon hatten sich seine Ersparnisse vollständig aufgebracht. Konnte das stimmen? Er sah die einzelnen Posten durch, doch wurde ihm schnell klar, dass alle ihre Berechtigung hatten. Mit Sparen war es nicht mehr getan. Was jetzt anlag, war eine radikale Umstellung seines Lebensstils. Aber wie sollte er das seiner Frau und den Kindern begreiflich machen?
Die Rotbuchen in seiner Straße rauschten im Herbstwind. Es roch nach nassem Laub. Unter seinen Schritten knackten leere Bucheckernhütchen. Manfred blieb einen Moment stehen, um ein kleines Eichhörnchen zu beobachten, das emsig Vorräte für den Winter sammelte.
„Du hast es gut“, dachte er leicht verbittert. „Du kommst mit dem aus, was Du auf der Straße findest.“
Das Eichhörnchen griff sich eins der kleinen dreieckigen Nüsschen, richtete sich auf die Hinterbeine und sah ihn neugierig an, während es die Schale zerbiss. Nur kurz, dann huschte es zurück in einen schützenden Garten.
Manfred steckte den Kontoauszug in die Jackentasche. Er bückte sich, um nun ebenfalls eine Nuss zu nehmen, sie zu schälen und sich nachdenklich zwischen die Lippen zu führen. Das hatte er nicht mehr gemacht, seit er Kind war. Sein Vater hatte ihm damals gezeigt, dass die Nüsse essbar waren, war mit ihm sammeln gegangen und hatte ihre Beute abends in der Pfanne angeröstet, um die latent giftigen Stoffe zu entfernen.
Für einen Augenblick überlegte er, mit seinen Kindern hierher zu kommen und mit ihnen ebenfalls ein paar Nüsse zu sammeln. Doch als er sich die Reaktion seines Großen vorstellte, verging ihm die Freude daran. Lasse würde ihn wahrscheinlich ansehen, als ob er verrückt geworden wäre und sich dann wieder seinem Computer zuwenden. Und Janis, der Kleine, würde sich zwar vielleicht überreden lassen mitzukommen, sich dann aber daneben setzen und ihn, den Vater, die ganze Arbeit machen lassen, nur um zu quengeln, ob er nicht vielleicht ein Eis haben könne. Sollte er doch vor seinem Fernseher sitzen bleiben!
Er ging in die Küche und suchte im Küchenschrank nach ein paar Nüssen, die er draußen auf die Terrasse legen konnte. Vielleicht würde das Eichhörnchen sie ja finden und langsam zutraulicher werden.
„Weißt du eigentlich, wie teuer Bionüsse sind?“, fragte ihn Verena, als er durch die Terrassentür wieder hereinkam?
„Du hast Recht. Eigentlich müssen wir sparen.“
„Eigentlich.“ Ihre Stimme klang verächtlich.
„Ich war vorhin am Geldautomat. Wir müssen nachher unseren Haushaltsplan durchgehen. Wir sind pleite.“
„Und was gedenkst Du zu tun?“
„Dasselbe wie immer. Mich bewerben, zu Vorstellungsgesprächen gehen, einen guten Eindruck machen…“
„Bitte, wann warst Du denn das letzte Mal bei einem Vorstellungsgespräch?“
Die Situation eskalierte. Manfred schrie Verena an, Verena schrie zurück. Von oben brüllte Lasse herunter, ob man im Haus nicht einmal seine Ruhe haben könne. Wütend verließ Manfred die Wohnung, nicht ohne laut mit der Tür zu knallen.
Nichts ging mehr, gar nichts mehr. Ihm fehlte die Kraft, sich gegen all den Widerstand zur Wehr zu setzen. Er fühlte, er war am Ende.
Ein schriller Pfiff riss ihn aus seinen Gedanken. Vor sich, auf dem niedrigen Ast einer Buche, saß das Eichhörnchen. In seinen Pfoten hielt es einen der Wallnusskerne, die Manfred gerade auf die Terrasse gestreut hatte.
„Danke. Die sind lecker“, sagte es.
„OK, das war’s. Ich schnappe über“, sagte sich Manfred.
„Du hast was gut bei mir“, fuhr das Eichhörnchen unbeirrt fort.
„Einverstanden. Kannst Du mir Geld auf mein Konto hacken?“
Das Eichhörnchen machte ein verächtliches Geräusch mit den Lippen.
„Komm mit“, sagte es.
Er sah dem Tier nach, das sich auf den Weg machte, von Ast zu Ast und von Baum zu Baum die Straße hinab zu laufen. Leise schnaufte er und setzte sich auf die Treppenstufen vor seinem Haus.
„Ich werde keinem sprechenden Nager hinterherlaufen“, sagte er sich. „Vielleicht ist es schräg, mit einem Hörnchen zu sprechen. Aber es wäre fatal für meine Psyche, ihm zu folgen.“
Ohne es zu bemerken, war das Eichhörnchen wieder zu ihm zurückgekommen.
„Feigling“, zog es ihn auf. „Was hast Du denn zu verlieren? Tu einfach, als machtest Du einen Spaziergang.“
Zögernd stand er auf und machte sich auf den Weg, das Eichhörnchen immer ein, zwei Bäume vor ihm. Manchmal schien das Tier sich umzusehen, ob er noch immer hinter ihm wäre, dann huschte es weiter durch das Geäst, nur gelegentlich eine Straße kreuzend.
Manfred kam durch Straßen, die er nie zuvor betreten hatte, ging durch Grünanlagen, die ihm bisher unbekannt gewesen waren und erreichte schließlich einen Wald, der sich seiner Ansicht nach an einem völlig anderen Ort befinden musste. Hier verlor er das Eichhörnchen aus den Augen.
Was sollte er hier? Eine Weile schlenderte er ziellos umher. Die frische Luft tat ihm gut und sein Zorn auf Verena flachte ein wenig ab. Während er Tannenzapfen vor sich her kickte und an seine missliche Lage dachte, wurden die Bäume um ihn immer dichter und scheinbar auch größer. Irgendwann bemerkte er, dass er mit jedem Schritt jünger wurde. Der latente Druck in seinen Gelenken nahm ab, sein Gang wurde federnder und leichter. Er fühlte sich gut. Es war ein angenehmer Traum, und er stellte sich vor, jederzeit aufwachen und den Spuk beenden zu können.
Ganz so einfach war es jedoch nicht. Seinem Gefühl nach musste er jetzt um die fünf Jahre alt sein. Noch belastete ihn keine Schule. Er durfte den ganzen Tag durch den Wald stromern, ohne von den Eltern daran gehindert zu werden, durfte auf Bäume klettern, Rehe beobachten, am Fluss kleine Dämme bauen. Ein Stich fuhr ihm durchs Herz. Er erinnerte sich daran, dass sein Vater beim Baumfällen ums Leben gekommen war, als Manfred kurz vor der Einschulung war. Der Vater war Forstarbeiter gewesen. Und vielleicht geschah es in einem Wald wie diesen, dass ein Baum ihn im Fallen erschlug.
Manfred sah sich um. Die braun gefärbten Blätter der Bäume ließen das Licht der Nachmittagssonne nicht zu ihm durch. Er bekam Angst. Das war ungewöhnlich. Der Wald hatte ihm nie Angst gemacht. Jetzt aber drangen aus dem Unterholz links und rechts des Weges sonderbare Geräusche, die er nicht zuordnen konnte. Überall raschelte und knackte es, als werde er von wilden Tieren verfolgt, die aus der Dunkelheit jeden seiner Schritte beäugen. Bäume ächzten schwer. Was, wenn ihn nun ein solcher Baum unter sich begrub wie seinerzeit seinen Vater? Es war nicht gut für ihn, hier so allein herumzulaufen. Ein modriger Geruch lag in der Luft. Immer wieder hoffte er, nach der nächsten Biegung des Weges eine bekannte Stelle zu entdecken, oder wenigstens in offeneres Gelände zu kommen. Doch immer wieder wurde seine Hoffnung enttäuscht. Der Weg, jetzt kaum mehr als Wagenspuren im Gras, führte nur tiefer ins Dunkel des Waldes. Die feuchte Kühle des Herbsttages ließ ihn frösteln.
Endlich fand er eine Lichtung. Die Sonne schien schräg durch die Bäume auf das niedrige Gras und warf nur vereinzelt noch Schatten auf den Weg. Sie wärmte ihn. Langsam legte sich seine Furcht. Am anderen Ende des freien Platzes stand ein Rehkitz, sah neugierig auf, lief aber nicht weg. Vorsichtig blieb Manfred stehen, um es nicht zu verjagen. Nach einigen Momenten des Zögerns begann es erneut zu äsen. Er spürte Freude in sich aufkommen. Sein Herz ging auf. Hier fühlte er sich in Sicherheit.
Große Bäume lagen kreuz und quer auf der Lichtung. Wahrscheinlich hatten Forstarbeiter vor kurzem erst begonnen, die Sturmschäden zu beseitigen. Manche Bäume waren bereits von ihren Ästen befreit und zersägt. Auf dem Boden lagen Sägespäne und kleinere Holzstückchen. Überall roch es nach frisch geschlagenem Holz.
Ein Baum fiel Manfred besonders auf: eine gefallene Eiche, noch in vollem Geäst. Er kletterte hinauf, fing übermütig auf ihr zu balancieren an. Obwohl der Stamm schräg in die Höhe ragte und sich der Waldboden unter dem Gewirr der Äste immer weiter entfernte, hatte der Junge keine Angst. Ihm konnte nichts passieren. Hier war er sicher. Behände wich er den Ästen aus und balanciert weiter in Richtung Krone. Dort saß bereits das Eichhörnchen.
„Du bist also endlich angekommen“, sagte es.
„Warum bist du fortgelaufen?“
„Den Weg hierher musstest Du alleine finden. Gefällt es dir hier auf dem Baum?“
„Es ist schön, wieder jung zu sein.“
„Und der Baum?“
„Ich fühle mich – geborgen.“
„Spring runter.“
„Warum?“
„Es wird Zeit, ihn in den Arm zu nehmen.“
„Bitte?“
„Erkennst du ihn nicht?“
Manfred sprang vom Baum und trat einen Schritt zurück. Die Eiche sah aus wie jede andere alte Eiche auch. Er fuhr mit seinen Fingern über die knorrige Borke.
„Nimm ihn schon in den Arm!“
Er sah sich auf der Lichtung um, ob ihn auch niemand beobachtete. Fast fühlte er sich wie einer jener absurden Vertreter der Ökofraktion, die er immer so belächelt hatte. Ein Baumumarmer. Ha! Zögernd legte er seine Arme um den großen Stamm und schloss die Augen. An seiner Wange spürte er das raue Holz.
Doch plötzlich mischte sich ein anderer Geruch zu Harz und Holz, der einer Tabakspfeife. Diesen leicht pflaumigen Geruch kannte er gut. Als er seine Augen wieder öffnete, lag sein Kopf auf dem Bauch seines Vaters.
„Manfred.“
„Du warst einfach weg. Bist zur Arbeit gegangen und nicht wiedergekommen.“
„Ich habe mir das nicht ausgesucht.“
„Ich hätte so gerne noch mit dir gespielt und mir von dir die Dinge zeigen lassen.“
„Ich weiß.“
„Du bist viel zu früh gegangen.“
Bei diesen Worten schossen Manfred Tränen aus den Augen. Von einem Augenblick zum anderen löste sich der Panzer, und alle lang vergessen geglaubten Gefühle brachen aus ihm heraus.
„Ich habe dich so geliebt und verehrt“, schluchzte er.
Sein Vater lächelte mild.
„Ich wollte zu dir gehen. Wollte auch nicht mehr leben.“
„Du hast nicht mehr gelebt.“
Das Eichhörnchen sprang dem Vater auf die Schulter.
„Sei nicht so hart zu ihm“, sagte es.
„Glaubst du im Ernst, ich habe Freude daran, wenn es dir schlecht geht?“, sagte der Vater zu Manfred. „Ich will dich lachen sehen, will, dass du mein Erbe voran trägst. Du machst meinen Tod nicht dadurch ungeschehen, dass du aus dem Leid nicht mehr hervorkommst.“
„Ich habe doch nicht…“, versuchte Manfred zu widersprechen.
„Doch, das hast du. Dein Leben lang.“
„Streitet euch nicht“, sagte das Eichhörnchen. „Manfred, du bist hier, um endlich vernünftig Abschied zu nehmen.“
Noch einmal umarmte Manfred seinen Vater.
„Mach’s gut, Vater. Schau gut auf uns.“
„Versprich mir, dass du es dir gut gehen lassen wirst.“
„Ich verspreche es. Dir zu ehren trage ich es gut weiter. Es soll nicht umsonst gewesen sein. Ich bleibe noch ein bisschen. Dann komme ich auch. Dir zur Freude mache ich etwas draus und lasse es mir gut gehen.“
Bei diesen Worten löste sich der Vater langsam in Luft auf, wurde durchsichtig und verschwand schließlich völlig. Allein das Eichhörnchen ruderte einen Moment hilflos mit seinen Pfoten im Leeren und plumpste dann zu Boden. Leicht benommen schüttelte es den Kopf und sah hoch zu Manfred.
„Zeit für den Rückweg, würde ich sagen“, piepste es.
Verena sah ihn ärgerlich an. Sie sagte nichts, aber ihre Mine spiegelte Verachtung. Manfred, der sonst diesem Blick meist auswich, hielt diesmal stand. Wie hätte sein Vater jetzt reagiert? Und wie hätte er sich gewünscht, dass Manfred reagiert?
Manfred ging auf Verena zu. Sie wich einen Schritt zurück, zuckte, als er die Arme hob und sie in den Arm nahm.
„Danke für alles“, sagte er.
„Nanu?“ Nur widerwillig nahm sie seine Umarmung an.
„Für deine Unterstützung, als ich noch Arbeit hatte. Für das Haus, die Kinder. Dafür, dass du mich auch in den schweren Zeiten nicht verlassen hast. Danke.“
„Aber jetzt sind wir pleite.“
Oben auf der Treppe raschelte etwas. Lasse war gekommen und hatte die Szene im Flur beobachtet.
„Erst wenn der letzte Baum gefällt, der letzte Fluss vergiftet und der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“, zitierte er Häuptling Seattle.
„Und was essen wir bis dahin?“, fragte Verena.
„Schlimmstenfalls Kohlsuppe“, sagte Manfred. „Meine Mutter hat mir erzählt, dass sie die im Nachkriegswinter fast jeden Tag essen mussten, weil nichts anderes da war. Und sie haben es überlebt. Weil sie zusammen gehalten haben. Aber vielleicht kommt es auch gar nicht so weit. Ich habe beschlossen, im Garten nach einem Schatz zu graben.“
„Du spinnst“, sagte Lasse.
„Nein, ich meine es ernst. Bevor die Russen damals die Stadt eingenommen haben, hatten viele Bürger ihre Wertsachen im Garten vergraben. Irgendwo muss das Zeug doch noch liegen.“
Sie rechnete nicht damit, dass er ernst machen würde. Schon gar nicht glaubte sie, dass die Kinder dazu zu bewegen wären, mit ihm nach draußen zu gehen. Doch er kam mit solch freudiger Selbstverständlichkeit auf die beiden zu, dass schließlich alle drei mit Schaufeln bewaffnet den Garten betraten und wild entschlossen tiefe Löcher zu graben begannen. Sie musste lächeln, als sie die drei beobachtete. Und noch etwas fiel ihr auf. Ein kleines Eichhörnchen huschte zwischen ihnen hin und her und schien emsig Bucheckern in die frisch gegrabenen Löcher fallen zu lassen.
Am Abend brachte sie den dreien frische Waffeln und einen Krug Saft nach draußen.
„Du hast schon ewig nichts mehr mit den Kindern zusammen gemacht“, sagte sie leise zu Manfred.
„Ich weiß“, sagte er. „Verrate es ihnen nicht, aber ihr drei seit der Schatz, den ich eben geborgen habe.“
Ein leichter Schleier legte sich auf ihren Blick.
„Aber morgen rufst du trotzdem deinen Arbeitsberater an, ja?“, sagte sie.
Er zögerte. „Dir zu ehren, Vater, werde ich es gut angehen lassen“, dachte er. Dann nahm er Verena in den Arm und nickte.