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Der Geisteskranke. Ein Märchen
Frieder genoss es, wie das Mädchen mit dem Diabolo herumhantierte. Nicht, dass ihre und die Bewegungen des Gerätes besondere Grazie besessen hätten; aber das ganze Auf und Ab, unterbrochen dadurch, dass sie sich bückte, um das blaue Ding aufzuheben, wenn sie`s verfehlt hatte, erweckte in ihm so starke Erinnerungen an die Siebzigerjahre – an den ganzen Stil jener Epoche, das Schlanke und Schlaksige, gepaart mit einer gewissen Stillosigkeit –, dass er im geistigen Genuss nur noch schwelgen konnte. Er war als Pflegesohn in die Bauersfamilie hineingekommen, nachdem ein Autounfall seine beiden Eltern in den Tod gerissen hatte. Man schätzte ihn im Dorf, vor allem aber auf dem Bauernhof, wegen seines Wissens, das sich schon sehen lassen konnte, obwohl er erst siebzehn war; auch fiel es immer wieder auf, dass er anscheinend Humor besaß, brachte er doch vor allem die Mädchen, nicht nur die Kleine mit ihren sieben Lenzen, sondern auch die beiden Dreizehn- und Fünfzehnjährigen, die schon zu reifen und sich zu röten begannen, so oft durch seine unverbildeten, ja, oftmals nachgerade versauten! Lebens- und Weltbetrachtungen zum Lachen, wobei er niemals sich einer von ihnen auf künstliche Weise anzunähern trachtete, dass die beiden schon viel von ihm gelernt hatten, wenn nicht sogar in der Seele gefestigt worden waren.
Und wie Frieder da so hockt und Mechthildchen beim Diabolospielen zuschaut, kommt der wahnsinnige Johannes, ein früh verkalkter Assessor vom Gericht in der Stadt, der sich hier auf dem Dorfe niedergelassen hat, ums Eck.
Was soll der Bub tun? Aufstehen, Mechthildchen packen, ihr zuflüstern: "Pass auf, Kleine, ich schau dir in die Augen, nimm dich in Acht vor dem wahnsinnigen Johannes, der da kommt!" – Nein, das geht nicht, das würde sie nicht verstehen, denn es ist die Eigenart des wahnsinnigen Johannes, dass er keine kleinen Mädchen betatscht, sondern sie nur mit seinen relativistischen politphilosophischen Sentenzen zuquatscht. Und zwar auf aggressive Weise. Nie lässt er sich etwas durch die Lappen gehen, wodurch man ihn einsperren könnte. Aber die Kinder glauben ihm, kommt er doch zum Teil sogar im Auto, trägt er doch elegante Kleidung, ja, besitzt er doch sogar eine wenn auch hysterische und ungebildete Frau, die`s ihm manchmal gleichtut. Er sagt dann in seinem süßesten Ton "Hallo", und man wird unwillkürlich an den Führer erinnert, wie er im "Dritten Reich" die Mädels umarmte, während seine Gefolgsleute deren kleine Geschlechtsgenossinen auch schon mal an die Wand warfen; irgendetwas stimmt mit dem Assessor Johannes nicht, und deshalb nennt man ihn ja auch den Wahnsinnigen. Das Problem ist nur, dass ihm das nicht auch nur im Geringsten etwas ausmacht. Er überschwemmt die Jugend dermaßen schnell und mit einem derartig selbstsicheren Grinsen auf dem Munde mit seinen Berichten aus seiner, scheint`s, harten Berufstätigkeit, dass sich noch jedes Elternpaar nachher drei Monate darüber geärgert hat. Was sollen die Kinder damit?!!!
Mechthildchen strahlte gerade so richtig um die Wette, als sie Johannes` des Wahnsinnigen ansichtig wurde. Der fummelte wichtigtuerisch an seinem Führerschein herum, an dem irgendein Drecks klebengeblieben zu sein schien.
"Was iiist daaas?"
Johannes meinte bloß: "Och...", und ließ seinen Pappendeckel hektisch in eine Innentasche des Jacketts rutschen.
Der ganze Bau, den Mechthildchen zusammen mit ihren Schwestern und Brüdern im nah vorbeiführenden Bach aufgetürmt hatte, rollte knirschend in sich zusammen. Die Strömung befleckte ihn, bedeckte ihn, fuhr ihn an die Wände des Bettes. Mechthildchen war außer sich...
Frieder stand mit einem riesenhaften Baumstamm in den Händen im Bachbett und ließ sich genüßlich die Schuhe mit Schlamm volllaufen.
"Ich wollte ihn abstützen! Da ist er zusammengebrochen."
"Oh naaaaain!"