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Der gerissenste Verbrecher
Ich, Julius Eckzahn, der gerissenste Verbrecher meiner Zeit, habe einen Mord geplant, ihn oft geprobt und gestern schließlich ausgeführt im sichersten Versteck, dem Munde meines Herrn.
Jeremia K. und seine Frau Maria führten eine harmonische Beziehung, die schließlich in dem Entschluss der Heirat gipfelte. Auch die Zeit nach der Hochzeit verlief zu meiner größten Zufriedenheit, da sie weiterhin ihre enge Vertrautheit in einer großen Zahl zärtlicher Zungenküsse zeigten, die lang anhaltend und sinnlich mir die Streicheleinheiten einer zweiten zuckerweichen weiblichen Zunge zukommen ließen. Auch kam ich so des öfteren mit Tina Eckzahn in Kontakt, meines überaus reizenden zahnseidemassierten Pendants im Rachen seiner Frau. Doch diese schönen Tage sollten eine plötzliche, schreckliche und unheilsschwangere Wendung erfahren: Tina erkrankte schwer an Karies, und der Schlund von Maria begann wie die Pforten der Hölle schwefelig und unerträglich gallig nach faulem Fleisch zu stinken. Nur Jeremia K. und dessen ungewöhnlich resistenter Nase blieb dieser Missstand lange Zeit verborgen.
"Jeremia, ich glaube ich habe ein Loch im Zahn!"
Worauf der Trottel: "Wirklich? Ich hab' noch gar' nichts bemerkt!", zur Antwort gab, dabei stank die Sache schon zum Himmel!
"Hast du Schmerzen, Schatz?"
Und ob ich Schmerzen hatte, direkt vor meiner Nase, in meiner Nase, um mich herum, bei jedem dieser Küsse, aber irgendwie wurde ich, der Grenouille der Zähne, ja nicht gefragt.
"Nein, eigentlich nicht, aber hier, hier hab' ich doch einen dunklen Fleck!"
Genau, Jeremia, riech da mal hin, da wird Dir sicher gleich ganz schlecht.
"Och, das sieht aber noch ganz harmlos aus", und damit war die Sache für die beiden wieder abgetan.
Angewidert blickte ich auf die Schleimhaut, die mich umgab. Hatte er wirklich noch nichts bemerkt? Voll Ekel zog ich mich von ihr zurück. Völlig geschmacklos dieser Junge. So ein Pech, dass Tina keine Schmerzen machte, dachte ich mir noch und trat beleidigt einmal kräftig gegen meine Wurzel.
"Aaauutsch."
Die Reaktionszeit war ganz ordentlich für einen Mitte 30.
"Aaa-aaauutsch."
Das Licht, das durch den schmerzverzerrten Spalt in seinen Mund trat, sagte mir, dass er rechts hinten etwas empfindlicher als vorne war. Auch bemerkte ich mit Erstaunen, dass er sich dabei krümmte. Na schön, jetzt noch einmal richtig, und dann geht's mir besser, dachte ich und trat mit wohldosierter Kraft noch einmal gegen seinen wunden Punkt.
"Aaaaaahhhh."
Das klang angenehm, lang haltend und gedehnt, fast wie perfekt für eine Schweppes Werbung. Durch die verkrampften Lippen sah' ich mit stiller Verzückung, dass er sogar sein linkes Bein vor Schmerzen angezogen hatte.
'Hach', dachte ich mir noch, 'das ist ja wirklich entspannend. Dabei kann man ja richtig seine Aggressionen abbauen!', bis ich Jeremia hörte
"Oh, verdammt, ich glaube, ich habe Zahnweh, ahhh, hier vorne."
und er mir unbeholfen auf die Krone dutschte.
'So ein Tölpel', dachte ich, 'geschieht Dir recht' und trat noch einmal dagegen, worauf ich ein ersticktes
"nnnnghhh"
zu hören bekam und merkte, wie er noch vor Schmerzen zuckte.
'Die Wurzel wird doch nicht schon taub?', dachte ich leicht süffisant und wollte nochmals treten als Maria sagte
"Wenn es so weh tut, dann musst Du aber gleich zum Arzt!"
Oh -
Wenn ich etwas mit Jeremia und seiner Frau gemeinsam habe, dann ist das meine panische Angst vor Weißkitteln jeder Art. Ich werde schon immer nervös, wenn eine dieser monotonen Arztsendungen auf dem Fernseher läuft. Zum einen liegt das daran, dass ich durch Jeremias halb geöffnet staunenden Fernsehmund kaum erkennen kann, ob der Doc jetzt echt ist oder nur ein Film, zum anderen hege ich die stille Befürchtung, dass die Gewöhnung an die Fernsehärzte seine ausgesprochen gesunde Abneigung gegen Spritzen oder anderes mechanisches Werkzeug relativieren könnte. Daher bückte ich mich schnell und vorsichtig zur Wurzel und kraulte ihr versöhnlich um die Fasern. Der Schmerz war sofort wie weggeblasen. Selbst Jeremia war ganz verblüfft.
"Moment", sagte er. Und nach einer kurzen Rekapitulation der Dinge bemerkte er noch weise:
"Nichts ...", worauf seine Frau ihn musterte und sagte:
"Was?"
"Nichts. Die Schmerzen sind weg. So plötzlich wie sie gekommen sind."
Sie blickte ihn verärgert an und sagte
"Ach komm, veräppeln musst Du mich nicht deswegen."
Mit dieser Erfahrung war ich eine wichtige Erkenntnis reicher: Ich hatte Kontrolle über Jeremia, seine Schmerzen und Bewegungen, wenn ich die richtigen Stellen meiner Wurzel mit der nötigen Fürsorge behandelte. Allerdings dauerte die kurze Freude über meinen Sieg nicht lange, denn schon am Abend genoss ich wieder den fauligen Geschmack von verwesten Eingeweiden in voller Länge. An mir nagte der Ärger. So gesehen hatten sie mir heute den Zahn gezogen, doch reifte in mir die Gewissheit: Dieser gallige Gestank, er musste weg. Aber wie?
Sehr schnell hatte ich mir angewöhnt, den Gestank durch einen wohldosierten Schlag in sein sensorisches Epizentrum zu unterbrechen, doch leider zeigte es sich, dass die tägliche olfaktorische Dosis einfach nicht abnehmen wollte, nein im Gegenteil, es schien sogar so, als ob durch meine Zuwendung die mütterliche Seite seiner Frau fürsorglich in dem gleichen Maß zu wachsen schien wie die Wölbung an ihrem Bauch und jedes Einschreiten, jeder noch so kleine Protest von mir wurde von neuem in diesem Ysopzweig ertränkt.
In letzter Zeit nun, da seine Frau kurz vor dem Platzen war, da hatte er sich angewöhnt, sie von der Haltestelle abzuholen und dabei von der Fußgängerbrücke mit einen glücksseligen Grinsen auf die Leute und den Verkehr unter sich am Haltepunkt zu glotzen. Diese seltenen Momente an der frischen Luft beflügelten meinen Geist und gaben mir einen bisher ungekannten Einblick in die chaotische Welt der menschlichen Fortbewegung.
So war es dem Architekten der Brücke wohl geglückt, selbige vom ersten Stock des Bahnhofs direkt auf eine verkehrsumspülte Insel herabsteigen zu lassen, von wo aus man - nach links oder rechts - in salomonischer Weisheit nur noch die halbe Fahrbahn überqueren musste. Auf dieser Brücke hatte ich, dem stinkenden Empfange harrend, voll Missmut über seine geschmacklose Art, die falschen Sorten Eis zu wählen, Jeremia auf den Zahn gefühlt und drohend meinen Götterzorn erklärt, wobei dieser sichtlich geschockt zusammensackte und ihm das Eis hinunter auf die Fahrbahn flatschte, dicht vor einen Bus. Der Fahrer dieses Fahrzeugs gaffte nur verdutzt nach oben - ohne Spur von Reaktion - und quetschte dann mit Eiseskälte die fette Zuckerbombe auf den Asphalt. Erstaunt nahm ich aus dem Mundwinkel wahr, dass Maria vor Schreck über die Schmerzen ihres Mannes mitfühlend wie auch weltvergessen einen Schritt weit auf die Straße sprang, just als sie ihm Winken wollte, und doch nur denkbar knapp den Bus verfehlte - in mir zahnte ein Plan.
An diesem Tage packte mich fast eine rührselige Sentimentalität, als Tina Eckzahn zum letzten Mal an mir vorbeistank. Endlich frei in meinen Gedanken bemerkte ich nun auch, wie sich alle anderen Zähne angewidert vor dem Dunst versteckten, um keinesfalls die Pest zu kriegen. 'Nur heute noch', so dachte ich, 'schon morgen werden sie mich feiern, den Erlöser, ihren Duftbefreier'. Ich sonnte mich in der Wonne meines zukünftigen Erfolgs. Doch eines verlor ich dabei nicht aus den Augen: Ich musste noch üben, Jeremia noch trainieren, damit Maria ihren Bus nicht mehr verpasste.
Ich begann damit am Morgen, kurz nachdem Jeremia seine Wohnung verlassen hatte, um ihren zahnärztlichen Rat zu meiden. Noch in der Nacht hatte ich die beste Choreographie für meinen Mord gefunden. Zunächst würde ich ihn einen schmerzerfüllten Schrei ausstoßen lassen, bei dem er sich krümmte, genau in dem Moment, in dem ihn Maria am Haltepunkt von unten sah, um sicher zu sein, dass sie seinen Schmerz bemerkte. Anschließend würde Maria bei jeder Steigerung einen Schritt weiter auf die Straße springen, wo ihr Bus sie dann erreichen musste. Besonders effektvoll sollte es sein, ihm danach das linke Bein weg zu ziehen, und schließlich noch das rechte, so dass er auf den Boden knallte. Soviel vorweg. Doch jetzt musste ich mich mit Üben quälen. Ich begann mit seinem Schrei.
"Uuhh!"
Zu leise, zu dunkel.
"Äääaaahhh!"
Schon besser, aber immer noch zu wenig hochfrequent. Jeremia musste noch einen Zahn zulegen.
"Aaaaiiihhhh!"
Oh - der war gut, auch die Krümmung seines Körpers war gekonnt, aber Moment, wo hatte ich hingetreten? Ich war mir nicht mehr so ganz sicher. Also nochmal.
"Aaaaiiihhhh!"
Richtig hier war's. Ich schrieb eine "1" auf diesen Punkt, um später nicht zu fehlen. So, nun weiter mit den Beinen. Hier musste ich vorsichtig sein, weil Jeremia gerade durch die Straßen ging. Mein Racheengel durfte nicht fallen und sich dabei verletzen, nicht vor heute Abend. Zunächst das linke Bein.
"Ssss."
Diese gespenstische Stille in der Bewegung unterlegt von leisem Zischen hatte was.
"Sssccchhhhh."
Hmm, der zuvor war besser. Hier also das "L" für "links".
Es begann mir Spaß zu machen.
Wo war noch mal das L?
"Ssss."
Jetzt aber quälen wir das rechte Bein. Ich fühlte mich wie ein Voodoo-Priester im Leib seiner Puppe, das Gehirn dieser ahnungslosen Marionette.
"Äähhhh!"
Zu laut
"hhhhh"
Zu wenig Bein
"hhnnngghh"
Ein richtig sinnlicher Laut, ich vergaß dabei ganz auf die Beine zu achten. Also nochmal
"hhnnngghh"
Der passt: "R".
So, nur einmal wollte ich noch vorsichtig die Glocken im Konzert anläuten: 1 - L - R.
"Aaaaiiihhhhssshnnngghh!"
Puh, das war ja knapp, beinahe wäre der Trottel voll auf die Fresse gefallen. Zufrieden kraulte ich meine Wurzel. Den Rest des Tages verbrachte ich völlig selbstlos damit, sie aufzupäppeln, ihre Sensitivität durch ein stetes Streicheln und Stimulieren noch zu steigern. Es durfte nicht misslingen.
Der große Moment war da. Jeremia wartete gelassen auf seine Bestimmung. Sein dämliches Grinsen erlaubte mir einen ruhigen Blick ins weite Rund vor dem befreienden Akt meiner Tat und ließ mich fiebrig auf die Ankunft unsres Busses warten.
Da - er kam!
Langsam bog er um die Ecke. Der Grad meiner inneren Verzückung steigerte sich ins Unermessliche als ich den Eiszerquetscher hinterm Steuer sah. Schnell warf ich noch einen prüfenden Blick auf meine Nummern: 1 - L - R.
Langsam schob sich die Menschenmenge aus dem Bus. Endstation. Ich zählte die Menschen. Er war fast leer. Doch wo war Maria? Ja, hier, sie stieg als Letzte aus dem Bus. Tritt näher Maria, auch Du sollst gezählt werden. Hier ist dein Betlehem. Ihr Blick kletterte nach oben. Warm - wärmer - heiß - ja. Wie ein Schaffner hob sie am Rande der Straße ihren Arm zur Abfahrt in den Himmel als nicht weit hinter ihr der Bus den Blinker setzte. Ich warte auf den Fahrer. Blick in den Spiegel. Maria setzt den linken Fuß auf den Bordstein. Noch ein bisschen. Komm. Der Bus rollt los. Maria hebt das rechte Bein.
"Aaaaiiihhhh!"
Jahwohl - ich, der Herr, sprach aus dem Munde meines Propheten, und verkündete das Heil. Die Geburt meines neuen Lebens.
Aller Augen wendeten sich Jeremia zu, alle Köpfe drehten sich zu ihm und mir in seinem Mund. Zufrieden sah ich, wie der Busfahrer zu mir aufblickte und beschleunigte, hinein in seine Hölle. Maria machte sogar anderthalb Schritte und fasst sich vor Schreck mit ihrer rechten Hand an den offenen Mund und mit ihrer Linken an den Unterleib, an die Stelle, wo das flaue Gefühl der Vorahnung unter den Magen streicht. Ich sah, dass es gut war. Nur noch ein letzter Schritt fehlte zu meiner Schöpfung. Doch was war das? Jeremia krümmte sich gefährlich weit über die Brüstung. Nein! Nicht fallen. Nicht du, mein Brutus.
Ich hatte wohl zu euphorisch auf die "1" gehämmert. Deswegen alle Blicke, die Atemlosigkeit um uns. Geistesgegenwärtig hatte ich die richtige Idee. Ich sprang auf "L" und "R" gemeinsam und zog Jeremia beide Beine weg. Er sackte in sich zusammen. War ja auch egal. Maria brauchte nur noch einen Schritt. Genüsslich versenkte ich mich in den dumpfen Schlag von Fleisch auf hartem Blech knapp unter mir, gefolgt von Jeremias Plumpsen auf den Boden.
Ungeduldig wartete ich darauf, dass Jeremia sich erhob, etwas sprach, seinen Mund öffnete. Ich wollte das Schlachtfeld von meinem Hügel aus beäugen. Ist sie nun oder ist sie nicht? Ich merkte nur, dass die Zahl der Stimmen um mich zunahm. Vom Verkehr war fast nichts mehr zu hören. Ich bemerkte das mit Wohlgefallen. Aber komm jetzt, Jeremia, sag endlich was!
Allmählich dämmerte es mir, dass ich wohl etwas zu gut getroffen hatte und Jeremia vor Schmerz k.o. gegangen war. So ein Schlappschwanz. Nun gut, dann musste ich wohl warten. Ein grauer Nebel aus Ungeduld und Angst kroch in mir hoch. Was ist, dachte, ich, wenn Jeremia gar selbst ... . Nein, das durfte nicht passieren, nicht mir, nicht jetzt, am Ende meiner Ziele. Angstvoll erinnerte ich mich seines Wunsches, in einem Krematorium verheizt zu werden und zitterte weiter. Auch merkte ich plötzlich, dass ich nur noch locker in seinem Kiefer saß. Was ist das? Er löst sich schon auf? Neeeeinn! Jeremia, komm zu Dir! Lass mich nicht im Stich!
Blitzblank vor Angst harrte ich der Minuten. Da, endlich, eine Sirene löste sich aus dem Rauschen der Stimmen um uns und drang zu mir. Sanitäter, meine Rettung. Ja, und noch ein zweites Horn näherte sich von der anderen Seite. Erleichtert atmete ich auf: Ich bin gerettet, ich hatte Maria erwischt: Es gab zwei Opfer.
Es dauerte nicht lange, da bemerkte ich, wie sich die Stimmen langsam um mich entfernten und nur drei in meiner Nähe blieben. Ein Mann begann zu sprechen
"Haben Sie gesehen, was passiert ist?", worauf eine Frau ihm sagte:
"Nicht so richtig. Am Anfang hat er kurz geschrien."
Erfreut nahm ich zur Kenntnis, dass die Stimme nicht von Maria kam.
"Geschrien?"
"Ja, ein lauter Schrei, erst in diesem Moment hab' ich ihn richtig wahrgenommen".
"Verstehe. Und dann?"
"Dann hat er sich völlig verkrampft über die Brüstung gelehnt, ich dachte schon, er fällt hinunter, doch plötzlich sackten ihm die Beine weg."
Ich fühlte mich wie im siebten Himmel und sah die Szene in Perfektion vor meinem Auge laufen.
"Dabei ist er mit dem Kinn gegen das Geländer geschlagen ..."
Ach so.
Das Kinn.
"... und hat scheinbar das Bewusstsein verloren."
Da bin ich jetzt aber beruhigt. Nur bewusstlos. Kann der Trottel nicht einmal acht geben? Lässt sich von einem Geländer k.o. schlagen. Unglaublich.
"Vermutlich wäre er auch so bewusstlos geworden, nachher", sagte der Mann.
"Schon wieder ein Epileptiker" sprach der zweite Mann, der frisch hinzu getreten schien.
Also bitte. Jeremia ist kein Epileptiker. Ein weiteres Mal beschlich mich Angst. Der Klang von Fleisch auf Blech war Jeremias Kinn. Was war mit Maria? Doch dieses Mal kam endlich die Nachricht, auf die ich hoffte.
"Was ist mit der Frau?"
Genau, was ist mit ihr?
"Da ist alles schon vorbei. Die anderen laden sie gerade ein."
Es war vollbracht. Ich, Julius Eckzahn, hatte Gallien besiegt. Veni vidi vici. Ich überließ das Feld den Totengräbern. Trunken vor Freude ließ ich mich mit Jeremia einpacken und ins Krankenhaus abliefern. Alles, was noch um mich geschah, versank in einem Nebel praller Lust und Wonne. Ich spürte den stillen Applaus und die Bewunderung der anderen Zähne, meiner treuen Begleiter, auf mich einfließen, mich umgeben wie Elfenbein in meinem Turm, der als Sieger aus der schweren Schlacht geschieden war.
Zum ersten Mal in meinem Leben dachte ich mit Freuden an den Arzt, der Jeremia wieder voll zum Funktionieren brächte. Unglaublich, was die Medizin so schaffte. Und siehe da, nach kurzer Zeit kam Jeremia wieder zur Besinnung. Er öffnete den Mund und ich erblickte ihn, den Gott in Weiß.
"Wie geht es Ihnen? Sind sie müde?"
Jeremia stöhnte.
"Mmhhh, nicht müde, nur Kopfweh, oh, mein Kinn."
"Ja, sie sind mit dem Kinn auf das Geländer der Fußgängerbrücke geschlagen, zumindest hat man mir das so erzählt. Und sonst, nicht abgespannt?"
"Nein, nichts, nur etwas Zahnschmerzen."
"Zahnschmerzen?"
Ach komm, Jeremia, mach' hier nicht den Verräter. Ich bin doch jetzt ganz still.
"Schon länger einmal, dann war es weg."
"Mmmhhmmm. Karl? Kommst du mal gucken? Zahnprobleme."
Ja richtig, bei seiner Frau. Hier ist aber alles völlig gesund. Kein Karies, keine Parodontose, nichts. Gönnerhaft lehnte ich mich zurück. Der Zahnklempner konnte ruhig kommen, er würde nichts finden, er konnte höchstens nur seine Bewunderung für Jeremias gepflegtes Gebiss bekunden. Ich verstand mit einem Male nicht mehr, wieso ich mich vor Ärzten so gefürchtet hatte. Waren doch alles nette Leute. Mal sehen was er so sprach.
"Guten Tag! Wie geht es Ihnen?"
Danke sehr. Mir geht es bestens.
"Nja, geht so."
Mensch, stell' Dich nicht so an, Jeremia, Du weißt ja noch gar nichts von Deinem Glück, ach verzeih' mir: Unserem Glück.
"Sie haben Probleme mit den Zähnen?"
"Nja, mit einem."
Blödmann! Nun gut, er kennt ja nicht den Grund. Lassen wir das. Heute ist nicht der Tag für solche Feindseligkeiten, heute wird gefeiert. Ich denke da so an ein saftiges Rindersteak, in das ich mich wie meine Vorfahren animalisch wild versenken darf.
"Warten sie mal, den Übeltäter finde ich sicher gleich."
Du findest nichts. Keine Chance. Alles blitzblank. Obwohl, eigentlich könnte ich etwas Dreck auf den fetten Pompeijus Vorderbackenzahn nebenan werfen. Dann hätte ich endlich etwas mehr Platz. Aber zu spät. Die Inspektion beginnt.
"Ich muss sie loben."
Sagte ich es nicht?
"Alle Zähne perfekt in Ordnung."
Na also.
"Auch das Zahnfleisch."
Ich weiß doch, warum ich mir Jeremias als Wohnung ausgesucht habe.
"Nur hier vorne, der Eckzahn ..."
Was? Mein Zahnschmelz wurde weiß vor entsetzen.
"... ragt etwas schräg über die anderen Zähne empor."
Na, wusste ich es doch. Ich bin eben der Größte. Das hat sogar der Arzt bemerkt. Nur nicht Jeremias.
"Oh", sagte der Arzt, "da haben wir es: Der ist ja locker!"
Stimmt, ich erinnere mich. Ähm, aber was hat das jetzt zu bedeuten?
"Den hat er sich vermutlich angeschlagen, als er hingefallen ist." mischte sich der zweite Arzt ein.
Hmm. Da hatte ich mich neugierig wohl etwas zu weit nach vorn gelehnt, während der Tat. Aber das war jetzt egal. Nach dem Mord fragte mich hier niemand, dafür war der einfach zu perfekt. Das ist das traurige Los der wahren Genies: Sie bleiben unerkannt.
"Der ist sogar schon sehr locker."
Ähhm ...? Ist doch kein Problem, oder?
"Kein Problem, das haben wir gleich, da müssen wir etwas dagegen machen."
Richtig. Sonst wird das nichts mehr mit den Rindersteak heute Abend. Bitte einmal kräftig festmachen.
Mir lief das Wasser schon im Mund zusammen und vor gieriger Vorfreude hopste ich auf meiner Wurzel.
"Auutsch!"
Was war das? Was guckten die alle so? War doch nur ein kleines Versehen. Gar nicht schlimm. Schnell bückte ich mich und kraulte versöhnlich die Wurzel allen Übels.
"Da ist es schon wieder", sagte Jeremia, der endlich keinen Spiegel oder Keil in seinem Munde hatte. "Angefangen hatte es gestern beim Eisessen und heute Morgen war es besonders schlimm."
Besorgt wechselten die Ärzte einen Blick. Ich war mucksmäuschenstill.
"Heute auf der Brücke war es schließlich so unerträglich, dass ich mich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, aber jetzt ist die Stelle fast wie taub."
Brav, mein Würzelchen. Nur weiter so.
"Sie spüren nichts mehr?"
Jeremia dutschte auf mir rum.
"Nein, plötzlich wieder wie tot, wie abgestorben. Nichts mehr. Wirklich nichts mehr, kein Gefühl."
"Wirklich nichts? Dann ist ja gut." antwortete ihm Karl.
Erleichtert atmete ich auf. Keine Löcher, keine Parodontose, keine Schmerzen. Der perfekte Zahn für den perfekten Mord. Wirklich schade, dass niemand darüber sprach.
Doch plötzlich verstand ich die Ärzte und neigte bewundernd mein Haupt vor ihrer Umsicht und ihrem Taktgefühl. Sicherlich wollten sie sich zunächst nur vergewissern, dass Jeremia der Belastung dieser Nachricht gewachsen war und überprüften zuvor eingehend seinen Zustand.
"Ach, Herr K.?" sagte Karl mit einem Augenzwinkern.
"Ja?"
'Was?', dachte ich.
"Sie wissen ja noch nichts davon."
Oh, jetzt kommt's. Jeremia ist gesund. Nur nicht Maria.
"Am besten sag ich es ihnen so - "
Ja - wohlüberlegt ist wichtig. Ist sicherlich ein Schlag für ihn. Und passt mir bitte auf sein schwaches Herz auf!
"Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für sie."
Ach so, der alte Trick. Gespannt wartete ich und beobachtete Karl genau aus Jeremias offenem Mund. Er baute sich vor Jeremia auf, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Ich fieberte seinem Satz entgegen.
"Nun, zuerst die schlechte."
Ich weiß es, ich weiß es! Mach' schon. Gierig horchte ich auf die Bestätigung meiner verbrecherischen Genialität.
"Ihrer Frau ist etwas passiert, gerade in dem Moment, als sie auf der Brücke standen und vor Schmerzen schrien."
Na bitte. Ich fühlte meine Brust vor Stolz anschwellen und bemerkte nebenbei, dass sich Jeremias Mund vor schrecklicher Vorahnung etwas öffnete. Der Arme!
"Vor Schreck über ihren Schrei ist sie auf die Straße gesprungen."
Jeremias Mund weitete sich stetig. Jetzt tat er mir fast wirklich Leid. Doch was war die andere Nachricht? Sein tolles Gebiss? Die Befreiung vom Mundgeruch? Ich weiß nicht, ob das Jeremias wirklich schätzen würde.
"Und nun die Gute:"
Die Gute? Das war sie doch schon eben.
"Dabei platzte ihre Fruchtblase und die Geburt musste eingeleitet werden."
Welche Frucht? Sie hatte doch gar nichts dabei! Was zum Henker ist Geburt? Eingeleitet? Eine Flüssigkeit? Hmmm. Ich grübelte.
"Sie sind der Vater eines gesunden Sohnes!", sagte Karl mit einem diebieschen Lächeln zu dem verdutzten O von Jeremias Mund.
'Vater?', dachte ich, als ich die beruhigend kalte Kühle blanken Stahls in meinem Rücken spürte und mit einem leisen "Pfloff" gen Himmel schwebte.