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Der Gewinn

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23.10.2004
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Der Gewinn

Der Gewinn

Das Telefon klingelte bereits zum dritten Mal, als meine Mutter an jenem kotzlangweiligen Dienstagmorgen endlich aufsprang und schrie: „Ich habe das Auto gewonnen!“
Gemeint war ein Ford Focus, der bei einem Gewinnspiel des lokalen Radiosenders verlost wurde.
„Ich hol nur schnell die Nachbarn“, sagte Mutter, „pass du gut auf das Telefon auf.“
Bald war das ganze Haus am Waldesrand voller Menschen, man verstand fast sein eigenes Wort nicht mehr. Mein kleiner Bruder wurde schnellstmöglich aus der Schule geholt, nur der mittlere Bruder und mein Vater fehlten, da sie arbeiten mussten.
Einige Leute hatte ich vorher noch nie gesehen. Und offensichtlich wussten sie überhaupt nicht, worum es eigentlich ging, denn ständig flog die Frage „Was ist denn hier los?“ durch die Räume. Aber nach und nach bekam es jeder erklärt und alle freuten sich mit uns.
Unter tosendem Applaus nahm meine Mutter nach dem einhundertneunundsiebzigsten Klingeln schließlich den Hörer ab.
„R……“, sprach sie. Sofort legte sie wieder auf.
„Hat sich jemand verwählt.“
Trauriges Schweigen ruhte im Haus, der Geruch von Beerdigungen stieg mir in die Nase. Doch plötzlich klingelte erneut das Telefon, und die Menge stimmte Lobgesänge an.
„R…… . Nein, hier ist 2855, nicht 2815.“
Unmut beschlich die Gesichter einiger Leute. „Wir haben auch noch andere Termine.“, riefen sie und waren kurz darauf verschwunden.
Die Meisten aber verharrten bis zum Abend vor dem Telefon. Jedes vernehmbare Geräusch wurde für das Telefonklingeln gehalten, ja selbst bei völliger Stille meinten einige, sie würden genau in diesem Moment das Klingeln hören.
Spät in der Nacht erfuhr man, jemand aus dem Nachbarort hätte den Wagen gewonnen.
„Ich gewinne nie etwas.“, schluchzte die Mutter, als nur noch wir beide übrig waren.
„Ist es nicht Gewinn genug“, fragte ich, „mit dem Warten auf den Anruf nicht nur dir, sondern auch der ganzen Nachbarschaft einen weiteren sinnentleerten Tag vertrieben zu haben?“

 

Hallo Mike,

mmh, eine kurze Geschichte über die Langeweile und wie diese über Umwege für eine gewisse Zeit vertrieben werden kann.

Die Einführung hätte ich gerne noch ein wenig ausführlicher gehabt. Dass besagter Dienstagmorgen "kotzlangweilig" ist, wird nur behauptet, jedoch nirgendwo auch begründet. Am Ende wird gar noch gesagt, dass der gesamte Tag "sinnentleert" wäre, wenn man mal von dem beschriebenen Ereignis absieht. Warum ist das so?

Trauriges Schweigen ruhte im Haus, der Geruch von Beerdigungen stieg mir in die Nase.
Besser: "Betretenes Schweigen verbreitete sich im Haus. Es wurde bald ebenso still wie auf einer Beerdigung."

Weiterhin sehe ich ein Problem mit dem letzten Satz - der Pointe des Ganzen sozusagen. Er ist nämlich leider ziemlich klugscheißerisch. Der Erzähler maßt sich an, darüber urteilen zu können, dass besagter Tag ohne das beschriebene Ereignis sowohl für die Mutter als auch die gesamte Nachbarschaft(!) "sinnentleert" gewesen wäre. Das kann eigentlich nur passieren, solange man unreflektiert von sich auf andere schließt, dh. in diesem Fall denkt, was man selbst als langweilig empfindet, das muss wohl sicher auch für andere langweilig sein.

Insofern kommt diese Pointe naturgemäß ausgesprochen dünn daher und ist eher eine Art Selbstportrait als eine philosophische Aussage (die sie wohl sein soll).

 

Jeder Tag ist für jeden einzelnen Menschen auf der Welt "sinnentleert", da das menschliche Leben an sich durch den Fortschritt und die Wohlstandsgesellschft sinnlos geworden ist. Der eigentliche Sinn, sich zu vermehren, sich zu ernähren und zu sterben, hat in unserer Zeit an Wert verloren. Alles andere, wie die Arbeit, der Sport , ja selbst die Kunst sind nur Versuche, eine sinnlos gewordene Existenz zu rechtfertigen.
Der Kunst gebührt zumindest der Ruf, am "sinnvollsten" von diesen Möglichkeiten zu sein.

 
Zuletzt bearbeitet:

Monsieur Renner belieben wohl zu scherzen:
Mehr als eine Milliarde Menschen auf dieser Erde leben von weniger als 1 Dollar pro Tag, in weiten Teilen Afrikas und im Nahost herrschen kriegsähnliche Zustände und Anarchie, in Nordkorea werden die Reisfelder noch mit Ochsen anstelle von Traktoren gepflügt. Fortschritt? Wohlstand?!?

Aber in Deutschland ist alles anders, meinst du? Warum leben dann rund 12% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze und weshalb sind rund 5 Millionen Bürger derzeit arbeitslos?

Für sein Überleben zu kämpfen sollte eigentlich "sinnvoll" genug sein, würde ich sagen.

Der Kunst gebührt zumindest der Ruf, am "sinnvollsten" von diesen Möglichkeiten zu sein.
So? Wie kommst du denn darauf?

 

Den afrikanischen Menschen wurde durch die Missionierung ihr sinnvolles Leben genommen, glaubst du etwa, dass die Menschen in Afrika ohne den Globalisierungsdruck solche Probleme hätten? Nein, sie würden weiter in ihren Büschen leben, so wie es ihrer Natur entspricht.
Die nordische Rasse aber hat das Schicksal auserkoren, den Fortschritt der Menschheit voranzutreiben. Es war Glück , nichts weiter. Es hätte ohne weiteres auch die Asiaten oder gar die Affen treffen können.
Die Kunst ist dabei die größte Leistung, weil sie vom menschlichen Gehirn kommt, während Erfindungen zum Beispiel aus der Natur abgeleitet werden. So ist die Kunst der höchste Grad des Fortschritts, weil sie nur vom menschlichen Verstand hervorgebracht werden kann.

 

Hallo Mike,

Den afrikanischen Menschen wurde durch die Missionierung ihr sinnvolles Leben genommen, glaubst du etwa, dass die Menschen in Afrika ohne den Globalisierungsdruck solche Probleme hätten? Nein, sie würden weiter in ihren Büschen leben, so wie es ihrer Natur entspricht.

Unter den KG's sollten keine Grundsatzdiskussionen angezettelt werden. Deinen Aussagen jedoch würde ich gerne etwas entgegensetzen.
Sollen wir in Off-top einen Thread zu dieser Frage eröffnen?

Einen Gruß von
bernadette

 

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