Der Gourmet
Der Gourmet
An einem sonnigen Morgen am Genfer See packte er seine Motorradtaschen, darin auch das kleine, rote Büchlein, das ihm Bocuse geschenkt hatte, damit er die Unterschriften der Chefs de Cuisine darin sammeln konnte, seine Landkarten und natürlich die neueste Ausgabe des Guide Michelin, setzte seinen breitkrempigen, schwarzen Hut auf und startete die Maschine, die mit einem beruhigend satten Ton aufheulte. Er fuhr aus dem Hof heraus Richtung Autobahn. Unten schimmerte silbern der See, eine leichte Brise kräuselte die Wellen. Sein Ziel: das „L’ Arnsbourg“ in Baerenthal/ Untermühltal. Seine Mission war, die Welt und die Sprache des Geschmacks zu erkunden. Vor einem Monat hatte er seinen Rekord-Versuch bei der Guiness-Gesellschaft eingereicht, hatte seine Festpapiere aufgelöst, sich eine goldene Master-Card besorgt und den Brief an Paul Bocuse geschrieben, in dem er ihm sein Projekt, für das Guiness-Buch alle 68 Drei Sterne-Restaurants des Guide Michelin zu besuchen, vorstellte. Nun war er bestens vorbereitet, um diese Welt der Weltklasse-Köche und ihrer Spitzenverdiener-Kunden zu betreten. Er wollte beweisen, dass auch ein kleiner Mann wie er durchaus die Raffinesse haben könnte, um all diese Feinheiten herausspüren und würdigen zu können. Dass ihn der Kampf um das tägliche Brot noch nicht abgestumpft hatte. Auch wenn er nicht dazu erzogen, daran herangeführt worden war.
Im „L’Arnsbourg“ begrüßte ihn der Restaurantchef herzlich – Bocuse hatte ihm vorab ein Ankündigungsfax geschickt – und wies ihm den besten Tisch zu. Den Hut ließ er sich nicht abnehmen – er legte ihn, genau wie das rote Büchlein neben sich auf den Stuhl. Er bestellte ein Fünf-Gänge-Menü à la Carte, dazu zu jedem Gang die passenden Weine aus dem erlesenen Weinkeller. Bei jedem zarten Soufflé, bei jedem Filet au point, bei jeder noch so gewagten Geschmacksvariation dachte er an die „Synthese der Bulli Cuisine“ aus dem Internet, die für ihn zur Bibel geworden war – denn das „El Bulli“ hatte er als Höhepunkt seiner Reise durch die europäischen Restaurants vorgesehen. Hier erwartete er seine Erleuchtung durch die weltbesten Gerichte. Auch hier, im „L’Arnsbourg“, fühlte er die Wahrheit des ersten Postulats des El Bulli (laut der „Synthese“): „Kochen ist eine Sprache, durch die all die folgenden Eigenschaften ausgedrückt werden können: Harmonie, Kreativität, Glück, Schönheit, Poesie, Komplexität, Magie, Provokation und Kultur.“ Im Fall des „L’Arnsbourg“ lag der Schwerpunkt auf Harmonie, Glück, Komplexität und Kultur. Eine runde, zuverlässige Sache eben ohne Störungen und Provokationen, fast konservativ. Er gratulierte dem Küchenchef, der eigens an seinen Tisch gekommen war, zu seinem Werk, dieser unterschrieb eifrig in sein kleines, rotes Büchlein. Dezent reichte ihm nachher der Maitre de Table die Rechnung, die er nonchalant mit seiner Kreditkarte bezahlte. Die Summe seiner Rechnung an diesem einen Abend gab er manchmal in einem Monat für Lebensmittel aus! Aber nichts konnte seine Harmonie trüben. Beim Einschlafen malte er sich die weiteren Stationen seiner Reise aus: zunächst einen kleinen Abstecher nach Deutschland, ins „Vendome“ in Bergisch Gladbach, dann weiter über Brüssel bis hin zur Hauptstadt der Gourmets, nach Paris. Dort erwarteten ihn das „Le Meurice“, „L’Ambroisie“, das „Arpège“, das „Ledoyen“, um nur einige wenige der Konzentration der höchsten Kochkunst zu nennen. Weiter über Lyon, zum „Grand Chef“ selbst, zum „Paul Bocuse“. Und hinab in den Süden, zum „Le Louis XV“ in Monte Carlo und zum „Le Petit Nice“ in Marseille. Und einige andere, nur den wahren Kennern bekannte Tempel, oft unscheinbar in kleinen Provinzstädten verborgen. Ein Postulat des „El Bulli“ machte ihn schmunzeln: „Alle Produkte haben denselben gastronomischen Wert, unbeachtet ihres Preises“. Na, das sollte man mal den Restaurantchefs bei der Kalkulation ihrer Preise schmackhaft machen! Ihm gefiel auch in der „Synthese“ das Wechselspiel von evolutionärer Erneuerung, eben Fortschritt, mit traditioneller, regionaler Verwurzelung. Er wollte diese Sprache der Sinne erlernen. Denn wie hieß es in der „Synthese“: „Die Information, die durch ein Gericht weiter gegeben wird, wird mit den Sinnen genossen, aber sie wird auch interpretiert durch Reflektion.“ Und während er gedankliche Variationen über das heutige Diner anstellte, ging die Sonne unter und mit einem Lächeln auf den Lippen schlief er ein.
Die darauf folgenden Wochen vergingen wie im Flug. Jeder Moment seiner Reise, wenn er bei Sonne oder Regen auf der Autobahn oder auf einer der schnurgeraden Alleen in Südfrankreich dahinbrauste, war ihm doppeltes Glück: Glück über das am Abend zuvor Genossene, Offenbarte und das Glück der Vorfreude, von der er sicher war, nie enttäuscht werden zu können. Außerdem fühlte er sich nun wie ein Angehöriger eines elitären Geheimordens, hatte Zutritt zu einer Welt bekommen, die er zuvor nur durch die Fensterscheiben der Prachtpaläste in Genf betrachtet hatte – mit einem spirituellen Hunger, der ihn sich wie einen Bettler fühlen ließ. Das alles hatte er seinem wohlhabenden Onkel zu verdanken, der ihn einmal im Jahr zu seinem Geburtstag in ein Spitzenrestaurant eingeladen und ihm ein wenig Einblick in diese Welt gewährt hatte. Sein Onkel vertrat die These, dass er, der kleine Motorradkurier ohne besondere Bildung niemals einen inneren Kanal für diese Welt der oberen Zehntausend haben würde, zu der ja nicht einmal sein Onkel zählte. Man könne Geschmack nicht lernen, war seine These, sondern nur bereits mit der Muttermilch aufsaugen oder mit der Nahrung in sich aufnehmen, die man in jungen Jahren angeboten bekam. Fehlte es hier bereits an der nötigen Verfeinerung, würde man auch später nie wirklich dieses Glück der feinsten Sinnlichkeit bis ins Letzte zu schätzen wissen, sondern der Welt der Gourmets irgendwann überdrüssig den Rücken kehren. Und nun war er angetreten, den Gegenbeweis zu führen. Er würde es zur Meisterschaft des Geschmacks bringen!
Die Sonne stand zu dieser Jahreszeit noch recht hoch am Himmel, als er die Stadtgrenze von Rosas passierte. Unvorstellbar, dass in diesem verschlafenen, kleinen Ort ein deutscher Arzt mit dem Kauf eines Grundstücks und den Grillabenden seiner tschechischen Frau den Grundstein für das weltbeste Restaurant gelegt haben sollte. Ursprünglich war hier einmal eine Minigolfanlage! Er parkte sein Motorrad im Schatten der Bäume, rückte den Hut zurecht, griff sich das kleine rote Büchlein aus der Packtasche und betrat „El Bulli“. Juli Soler, der Restaurantchef, begrüßte ihn, wieder durch Bocuse „präpariert“, herzlich. Auch hier erhielt er wieder den besten Tisch. Die Besonderheit des Restaurants waren die an traditionelle Tapas angelehnten Gerichte, v.a. die Vorspeisen und Zwischengänge hatten es ihm angetan. Wie hieß es doch in der „Synthese“: „Die klassische Struktur der Gerichte und Gänge wird nieder gerissen, eine wahre Revolution ist im Gange bei Vorspeisen und Desserts, eng verbunden mit der Symbiose der süßen mit der pikanten Geschmackswelt; bei den Hauptgerichten wird die Hierarchie Produkt – Beilage – Sauce herunter gebrochen“. Hier erwartete er sich eine wahre Revolution der Geschmackssinne – die Erleuchtung des Gourmets eben.
Der Maitre de Table brachte ihm die Menukarte, die von der Aufmachung her sehr puristisch gestaltet war. Als Aperitif auf Kosten des Hauses erhielt er einen sehr guten Sherry, dazu ein Amuse Gueule. Er studierte aufmerksam die Karte. Neben den Tapas-Gerichten wurden alle Gänge à la Carte angeboten. Sein Blick blieb jedoch an den Menus hängen. Besonders fasziniert war er sofort von dem „Menu favorisado de El Bulli“ von 1982. Dieser Feinschmeckertempel konnte wahrlich schon auf eine lange Geschichte seines Ruhmeszugs zurück blicken. Er schaute zu den Nachbartischen. Die meisten Gäste waren ebenfalls erst beim Aperitif. An einem Tisch in der Ecke saß eine dunkelhaarige, elegante Frau. Ihr wurde eben das Entenfilet aufgetragen. Sein Entschluss war gefasst. Er entschied sich für das 82er Menu. Der Ober lächelte ihm verschwörerisch zu, als er die Bestellung aufnahm. Er kostete das Amuse Gueule, eine Garnele in zartem Reisnudelteigmantel an Pistazienschaum. Über die zum Mund geführte Gabel blickte er erneut zu der dunkelhaarigen Frau in der Ecke hinüber. Sie nahm soeben den ersten Bissen, und kaum hatte sie den Mund wieder geschlossen, bekam ihr Gesicht einen verzückten Ausdruck. Sie schien den Bissen nicht zu kauen, sondern langsam im Mund zergehen zu lassen wie einen Kuss. Trotzdem wirkte dies keineswegs vulgär, nein, sie war eindeutig, wie sein Onkel dies ausgedrückt hätte, „eine Frau mit Klasse“. Dafür sprach auch ihr sparsamer, aber hochkarätiger Schmuck und der edle Schnitt und der Stoff ihres schwarzen Abendkleides. Pascal ließ seine Gedanken wandern und malte sich aus, wie es wäre, wenn er Teil ihrer mondänen Welt sein könnte, „der Mann an ihrer Seite“. Er würde sich mit ihr einem kostbaren, kunstvollen Leben hingeben, voll der Künste, der Verfeinerung und des Geistes. Sie würden sich niemals langweilen, denn ihre Feinsinnigkeit würde ihnen auch ohne ihre nächtelangen Gespräche bei Burgunder und Kerzenlicht auf ihrer Veranda über dem Meer stets alle Kanäle zu einer höheren Wirklichkeit und zueinander öffnen.
Der Ober näherte sich mit einem eleganten Schwung seinem Tisch und balancierte einen schwarzgoldenen Teller, auf dem ein tiefrosa Filet in apricotfarbenem Schaum zu erkennen war. Schon allein die Farbnuancen waren eine vollkommene Komposition. Pascal kostete einen Schluck von dem leichten Rosé und griff nach dem Besteck. „El Magret de Pato marinado con albahaca“ kündigte der Maitre de Table an. Pascal rieselte es bei dem ihm nicht ganz geläufigen Klang des Katalanischen leise den Rücken hinunter. Es klang wie Musik in seinen Ohren. Er zerschnitt das Entenfilet in schmale Streifen, zog es mit der Gabel durch den Aprikosenschaum und führte den ersten Bissen zum Mund. Der vitale Duft des Fleisches mischte sich in seiner Nase mit dem süß-säuerlichen der Aprikose. Er ließ sich den ersten Bissen im Mund zergehen, wie er es eben bei der schönen Nachbarin gesehen hatte, fast ohne zu kauen, so zart war das Fleisch, das im Kern noch leicht rosig war. Die Geschmacksmischung hielt, was Auge und Nase ihm versprochen hatten. Wie es in der „Synthese“ gestanden hatte: die perfekte Verbindung von pikant und süß. Die nächsten fünfzehn Minuten nahm er nichts anderes mehr wahr.
Dann tauchte er wieder aus seiner Verzücktheit auf und schaute zu der Dunkelhaarigen hinüber. Sie fing seinen Blick auf – oder hatte sie ihn die ganze Zeit angeschaut? – ihm wurde heiß – und prostete ihm mit ihrem Weinglas zu. Nun wurde ihm erst recht leicht schwindelig. Kaum zu glauben, wozu ihn diese Reise zu befähigen schien. Und er konnte noch nicht absehen, wohin sie ihn führen würde. Für den nächsten Gang bestellte er einen Grauburgunder aus dem Elsass. Und schon erfolgte auch sein nächster Gang: „La Ensalada de pescado al aceite de trufas“ kündigte der Ober ihn an, „Fischsalat an Trüffelessig“, der in einer gläsernen Schale gereicht wurde. Auch hier war das Farbenspiel vollkommen. Das „El Bulli“ hielt sich wirklich an seine „Synthese“, wo es hieß: „Geschmack ist nicht der einzige Sinn, der stimuliert werden kann. Der Tastsinn kann ebenfalls berührt werden, Kontraste von Temperaturen und Texturen, genauso wie Geruch, Anblick - Farben, optische Täuschungen - wodurch die fünf Sinne einer der Hauptkanäle im kreativen Kochvorgang werden.“ Der Fisch schlug wie eine frische Meeresbrise an seinen Geschmacksknospen an, kontrastiert von dem erdigen Aroma der Trüffel und der säuerlichen Frische des Aceito. Pascal fühlte sich nun zunehmend im Rausch seiner Sinne, doch das kam weniger von dem Wein, dem er nur spärlich zusprach. Er hatte das Gefühl, als entzündeten Glück, Harmonie, Kultur und Magie ein Feuerwerk in seinem Inneren. Wieder prostete die Dunkelhaarige ihm zu, diesmal hob auch er das Glas.
Auf einer Silberplatte brachte ihm nun der Maitre de Table den nächsten Gang, den ersten Hauptgang. „La lumina a la flor de tomillo con calabacines asados“ – „Hummer an Thymianblüten mit gegrilltem Kürbis“. Leuchtendrot thronte der Hummer zwischen den gelben und orangefarbenen Kürbissen auf der silbernen Platte und verbreitete einen köstlichen, kräftigen Duft, leicht würzig durch den Thymian. Der Ober reichte ihm die Hummerzange und er machte sich mit Leidenschaft daran, das Tier zu öffnen und zu seinem verlockenden Inhalt vorzudringen. Die harte Schale des Hummers in Kontrast mit den weichen Kürbissen versetzte ihn erneut in Verzückung. Diese gipfelte in einem regelrechten Orgasmus der Synapsen, als er den ersten Bissen verzehrte. Am Nebentisch öffnete die Frau fast zärtlich den Panzer ihres Tieres. Mit ihren langen, schmalen Fingern ging sie dabei so geschickt vor, dass er unwillkürlich an eine Künstlerin denken musste, die ein Gemälde herstellte. Wahrlich, dieser Hummer war ein Jahrhundertwerk. Er schnalzte mit der Zunge, und auf einmal wurde ihm schwarz vor Augen. Er musste geschwankt haben, denn eilig näherte der Ober sich ihm und reichte ihm das Wasserglas. Doch schon fing er sich wieder. Dezent hatte der Ober bereits den Teller mit den Schalen des Krustentiers entfernt.
Er konnte sich einfach keine Steigerung mehr vorstellen. Doch nun erfüllte würziger Knoblauchduft die Luft. „El pastel de cordero a la crema de ajo“ - „Lammpastete in Knoblauchcreme” präsentierte der Ober ihm den nächsten Hauptgang. Dies war nun eins der eher traditionellen, regionalen Gerichte, die für das „El Bulli“ so typisch waren. Sein Mund befeuchtete sich in Erwartung dieses herzhaften Genusses. Er schnitt in die Pastete, und führte die Gabel zum Mund. Nichts. Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn. Er schmeckte: Nichts. Voller Angst nahm er einen weiteren Bissen, ließ ihn wechselweise auf der Zunge zergehen oder zerbiss ihn gründlich – wieder nichts! Entsetzt ließ er das Besteck fallen. Er trank hastig einen Schluck von dem Rioja, ein halbes Glas Wasser hinterher – nichts änderte sich. Er hatte seinen Geschmackssinn verloren, eine Katastrophe! Seine Reise war nun unmöglich, er war gescheitert. Hektische Röte stieg ihm ins Gesicht. Er warf beim Aufstehen fast den Stuhl um, murmelte in Richtung des Obers, er wolle seine Visitenkarte holen, und stürzte hinaus. Er schob leise das Motorrad ein Stück weit auf die Straße und startete unbemerkt in die Nacht. Einfach nur fahren, weit weg von diesem Ort seiner Schande. Niemand durfte davon erfahren. Ihm war der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Was hatte jetzt noch Sinn? Als er um Mitternacht an einem Landhotel hielt, zog er im Zimmer seine Landkarten heraus und blickte sie lange an. Da stach ihm weit entfernt im Westen ein Kreuz-Symbol in die Augen: Santiago de Compostela. Das war die Lösung. Hier würde er eine Antwort auf seine Fragen finden. Wenn nicht, dann gab es keinen Weg mehr zurück.